In 900 Metern Höhe entspringt der Dnjestr in den ukrainischen Waldkarpaten und schlängelt sich rund 1.360 Kilometer bis zum Schwarzen Meer. Wenige Hundert Kilometer vor seinem Ziel windet sich der Fluss wie ein breites Band durch die östliche Landschaft Moldaus – und markiert dabei eine Grenze, die es offiziell nicht gibt.
Dort, wo der Dnjestr träge durch flache Ebenen fließt, endet für viele die bekannte Welt. Denn der Fluss trennt nicht nur zwei Ufer, sondern auch zwei politische Systeme. Auf der einen Seite liegt die Republik Moldau – westlich orientiert, EU-nah, demokratisch.
Auf der anderen Seite: Transnistrien, offiziell als Pridnestrowien bezeichnet, ein schmaler Streifen zwischen der Ukraine und dem östlichen Flussufer. Völkerrechtlich moldauisch, realpolitisch aber eine von Russland unterstützte Separatistenregion, die sich 1990 für unabhängig erklärt hat, allerdings von keinem Staat dieser Welt anerkannt wird. Mit eigener Währung, eigener Flagge und eigener Armee.
Mitten in diesem Spannungsfeld: der FC Sheriff. Ein Fußballverein aus der transnistrischen Hauptstadt Tiraspol, der zur letzten Brücke zwischen Moldau und seiner abtrünnigen Provinz geworden ist.
Ein Stadion im Niemandsland
Mein Marschrutka – eines der hier üblichen Sammeltaxis – schlängelt sich langsam durch die Straßen am Stadtrand von Tiraspol. Vor dem Fenster ziehen brutalistische Bauten vorbei, an denen sich das Licht der Nachmittagssonne bricht. Wir passieren den Grünen Markt, Plattenbauten und mehrere Straßenhändler, die unter improvisierten Sonnenschirmen Obst, Gemüse und Wein verkaufen. Hammer und Sichel flattern auf roten Fahnen neben dem Straßenrand, kyrillische Schriftzüge dominieren das Stadtbild.
Dann plötzlich ein Kontrast: Am Horizont tauchen die Umrisse eines Stadions auf. Das grelle Gelb der Tribünen durchschneidet das allgegenwärtige Grau. Ich zähle acht Trainingsplätze, perfekt gepflegt, der Rasen sattgrün. Daneben stehen ein weiteres Stadion, eine Halle und ein Fanshop. Mir wird klar: Das ist die Heimat des FC Sheriff.
200 Millionen Euro, das ergeben meine Recherchen, soll der hochmoderne Komplex insgesamt gekostet haben. Fast 13.000 Zuschauer haben im Sheriff-Stadion an der Strada Karl Liebknecht Platz, ausverkauft ist die im Jahr 2002 offiziell eröffnete Arena jedoch nur in Ausnahmefällen.
Auch ein Jahr nach der Eröffnung, als das österreichische Nationalteam hier gastierte, blieben viele Plätze leer. Unter Teamchef Hans Krankl kassierte Österreich in der EM-Qualifikation ein 0:1 gegen die Republik Moldau – die damals noch gelegentlich Länderspiele in Tiraspol austrug. Heute sind Spiele der Nationalmannschaft hier undenkbar, gespielt wird mittlerweile in Chişinău, der Hauptstadt der Republik Moldau.

Das Sheriff-Imperium
Während das Stadion aus dem Blickfeld rückt, prangt der Schriftzug "Sheriff" weiter groß auf Supermärkten, Zapfsäulen und an den Fassaden der Stadt. Wer in Tiraspol lebt, kommt an ihm nicht vorbei.
Denn das Unternehmen Sheriff ist nicht nur Sponsor des heimischen Fußballklubs, sondern Teil eines viel größeren Imperiums. Der Konzern wurde in den Neunzigerjahren von Victor Gusan und Ilja Kasmaly, zwei ehemaligen sowjetischen Sicherheitskräften, gegründet und soll rund 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von Transnistrien kontrollieren.
Ihm gehören unter anderem Supermärkte, Tankstellen, Wechselstuben, ein TV-Sender, ein Mobilfunkanbieter und ein Spirituosenhersteller. Der Name soll auf die Vergangenheit der Gründer als Polizisten anspielen. Ihr Symbol: ein Sheriffstern, der nicht nur Firmenlogo ist, sondern auch das Wappen des Fußballklubs ziert. Beobachter monieren Korruption, politische Verstrickungen und eine Monopolstellung des Unternehmens - zu dem eben auch der FC Sheriff gehört.
Ein kometenhafter Aufstieg
Der Fußballklub wurde 1996 gegründet und ist damit alles andere als ein Traditionsverein. Doch der FC Sheriff erlebte einen kometenhaften Aufstieg und zählte schnell zu den besten Teams des Landes. Sheriff, wegen seiner auffälligen schwarz-gelben Trikots auch "Die Wespen" genannt, startete in der dritthöchsten Liga und erreichte innerhalb von zwei Jahren die Erstklassigkeit. Von 2001 bis 2010 wurde der FC Sheriff in der Divizia Nationala zehn Mal in Folge Meister. Mittlerweile ist er mit 21 Titeln Rekordmeister.
Trotz aller politischen Spannungen tritt der Klub nach wie vor im moldawischen Ligensystem an – ein Widerspruch, da Transnistrien sonst alle Verbindungen zur Republik Moldau gekappt hat. Präsident und Gründer des FC Sheriff ist übrigens Victor Gusan – der eben auch hinter dem gleichnamigen Konzern steht.
Sternstunde gegen Real Madrid
International trat der FC Sheriff vor vier Jahren erstmals auf höchstem Niveau in Erscheinung. Als erster Klub Moldaus qualifizierte man sich für die Champions-League-Saison 2021/22– und landete nur wenige Wochen später den größten Erfolg seiner Vereinsgeschichte. Im Estadio Santiago Bernabeu gewann das Team gegen Real Madrid, den amtierenden spanischen Meister und späteren Champions-League-Sieger, durch einen Last-Minute-Treffer des Luxemburgers Sebastien Thill völlig überraschend mit 2:1.
Der Erfolg wurde vielerorts als Fußballmärchen bezeichnet und sorgte international für Schlagzeilen. Ein Klub aus einem Phantomstaat besiegt den größten Fußballklub der Welt – das klingt zwar wie ein Hollywood-Drehbuch, ist aber alles andere als eine Cinderella-Story.

Um den Sprung in die Champions League überhaupt zu schaffen, drängte Sheriff nämlich erfolgreich auf eine Änderung der Ligaregeln. Der Klub setzte seit Jahren überwiegend auf Legionäre, meist aus Afrika und Südamerika, und dominierte damit die moldawische Liga, die sonst überwiegend von einheimischen Spielern geprägt war.
International blieb der Erfolg lange auf die Teilnahme an der UEFA Europa League beschränkt - bis 2019 das Ausländerlimit abgeschafft wurde. Damit konnte Sheriff seinen Kader weiter mit Fachkräften aus dem Ausland verstärken und wenige Jahre später erstmals die Königsklasse erreichen. Einheimische Spieler kamen inzwischen kaum noch zum Zug und spielten auch beim Triumph über Real Madrid keine Rolle.
Trainiert wurde Sheriff damals vom Ukrainer Yuriy Vernydub. In der Startelf standen ausschließlich Legionäre, unter anderem aus Peru, Usbekistan, Brasilien und Griechenland. Ein einheimischer Spieler kam an diesem Abend nicht zum Einsatz.
Trotz einer teuren Akademie setzt Sheriff seit Jahren fast ausschließlich auf ausländische Profis, die vor allem mit großzügigen Gehältern in die 150.000-Einwohner-Stadt gelockt werden. Das Leben in Transnistrien bekommen die Spieler kaum mit, sie leben in einem an den Sportkomplex angrenzenden Luxushotel.
Katar, Saudi-Arabien und Tiraspol
Die geringe Förderung des Nachwuchses scheint Präsident Victor Gusan kaum zu beschäftigen, denn sein Ziel hat er längst erreicht. Es geht ihm vor allem darum, international Aufmerksamkeit zu erzeugen und durch sportliche Erfolge positive Schlagzeilen zu produzieren - Stichwort: Sportswashing.
Dabei handelt es sich um den Versuch, durch sportliche Erfolge das eigene Image aufzubessern und dadurch von Missständen abzulenken. Ähnlich wie es bei der Weltmeisterschaft in Katar oder der Transferoffensive in Saudi-Arabien der Fall war. An Transnistrien wird unter anderem wegen Menschenrechtsverletzungen, Einschränkungen der Pressefreiheit, Wahlfälschungen und Diskriminierung von Minderheiten scharfe Kritik geübt. Der Fußballverein ist eng mit dem Konzern und der Politik verflochten – und somit selbst Teil des Problems.
Die Monopolstellung wackelt
Trotz seiner langjährigen finanziellen Dominanz musste Sheriff zuletzt aber erhebliche sportliche Niederlagen hinnehmen. Die Konkurrenz hat ihren Rückstand auf den Serienmeister inzwischen aufgeholt, setzt ebenfalls verstärkt auf Legionäre und ist sportlich dadurch konkurrenzfähig geworden.
In den vergangenen beiden Jahren ging der Meistertitel an Rapids-Conference-League-Gegner FC Petroclub aus Chişinău und zuletzt den FC Milsami aus Orhei. Dass der Titel zwei Spielzeiten hintereinander nicht an den Klub aus Transnistrien ging, hatte es zuletzt vor der Jahrtausendwende gegeben. Weil auch der Pokal nicht nach Tiraspol ging, blieb Sheriff 2024 erstmals seit über einem Jahrzehnt titellos.
Mit einem Gesamtmarktwert von rund sieben Millionen Euro führt Sheriff zwar weiterhin die Liga an, doch FK Zimbru Chisinau (5,7 Mio.), Petroclub (4,8 Mio.) und Milsami Orhei (4,2 Mio.) liegen dicht dahinter.
Zwar verstärkte sich der Klub auch in diesem Sommer, doch eine groß angelegte Transferoffensive wie in der Vergangenheit blieb aus. Beim Saisonauftakt am 22. Juni stand mit Torhüter Victor Straistari nur ein moldauischer Spieler in der Startelf. Er hielt beim 4:0-Erfolg gegen Politehnica UTM, die ausschließlich mit einheimischen Spielern antraten, die Null. Am folgenden Spieltag musste Straistari dennoch Neuzugang Dyulgerov Platz machen.
Die sportlichen Rückschläge liegen aber auch an der wirtschaftlichen Situation Transnistriens. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine gerät die fragile Wirtschaft in Tiraspol zunehmend unter Druck. Anfang des Jahres kam es zu einer Energiekrise, da Russland die Gaslieferung vorübergehend eingestellt hat.
International darf der FC Sheriff wieder mitmischen: In der Qualifikation zur UEFA Europa League trifft der Verein auf den FC Utrecht (Hinspiel 1:3) - und bietet Sheriff damit eine weitere Gelegenheit, Transnistrien international ins Gespräch zu bringen. Wenn auch in einem deutlich kleineren Rahmen, als noch zu früheren Zeiten.