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Daniel Yule: Ein Schlafwandler als Heilsbringer

Der Schlafwandler vom Ende der Welt führt die Schweiz in ungeahnte Höhen.

Daniel Yule: Ein Schlafwandler als Heilsbringer Foto: © getty

Daniel Yule hat in seinem Leben drei Weltcup-Rennen gewonnen – die Slalom-Bewerbe in Madonna di Campiglio 2018 und 2020 sowie jenen in Adelboden 2020. Damit ist der 26-Jährige der erfolgreichste Schweizer Slalom-Fahrer aller Zeiten.

Schwer vorstellbar für Menschen, die Landsleute von Marcel Hirscher sind. Der hat in der Regel ja gefühlt nur drei Rennen gebraucht, um drei Siege einzufahren.

„Prügeldisziplin“ sagen die Schweizer, wenn sie über den Slalom sprechen. Je ein Sieg durch Marc Berthod und Marc Gini 2007, einer von Ramon Zenhäusern 2019 und eben jene drei von Yule – das ist die läppische Slalom-Siegbilanz der Eidgenossen in diesem Jahrtausend. 1999 stand Didier Plaschy zwei Mal am Podest ganz oben. Acht Siege in einem Vierteljahrhundert.

Auch davor waren die Erfolge überschaubar. Paul Accola jubelte 1991 einmal, Legende Pirmin Zurbriggen brachte es auf zwei Erfolge in den 1980er-Jahren. Insgesamt waren es in der langen Weltcup-Geschichte nur 17 Schweizer Slalom-Siege.

Alles, nur kein Wunderkind

Kein Wunder, dass sich die Schweizer Medien dieser Tage überschlagen. Daniel Yule ist der völlig unverhoffte Heilsbringer in einer Disziplin, in der es für Swiss Ski praktisch traditionell nichts zu holen gibt. Und unverhofft trifft es im Fall des 26-Jährigen tatsächlich.

"Als ich Daniel erstmals auf Ski gesehen habe, war ich mir ziemlich sicher, dass der im Weltcup nie eine echte Chance haben wird"

Trainer Matteo Joris

„Als ich Daniel erstmals auf Ski gesehen habe, war ich mir ziemlich sicher, dass der im Weltcup nie eine echte Chance haben wird“, sagt sein Trainer Matteo Joris. Sein ehemaliger Trainer Louis Borloz erzählte einmal: „Als ich ihn zum ersten Mal Skifahren sah, dachte ich, dass wir sehr viel Arbeit vor uns haben.“

Yule war auf dem Schnee stets weit davon entfernt, ein Wunderkind zu sein. Irgendwie waren die anderen immer besser, talentierter. Also arbeitete der Walliser immer ein wenig härter. Er sei sehr ehrgeizig, ein kompetitiver Typ, verliere einfach nicht gerne, sagen sie im Schweizer Skiteam über ihn.

Die Legende besagt, bei seinem allerersten Skirennen im Alter von fünf Jahren wäre Yule mit Abstand der Schnellste gewesen. Allerdings habe er die Tore einfach ignoriert, fuhr schnurstracks vom Start ins Ziel.

Der Schotte vom Ende der Welt

Dass das mittlere Kind – sein älterer Bruder Alastair ist Skilehrer, seine jüngere Schwester Vanessa Ergotherapeutin – überhaupt Skifahrer wurde, ist so logisch wie unwahrscheinlich. Das Slalom-Ass wuchs in Branche d’en-Haut bei La Fouly im Walliser Val Ferret auf. Ein Ort im Dreiländereck zwischen Frankreich, Italien und der Schweiz. Ort ist allerdings ein viel zu großes Wort für Branche d’en-Haut, Fleck trifft es eher. 18 Menschenseelen leben dort dauerhaft, fünf davon tragen den Nachnamen Yule.

Das Val Ferret sei das Ende der Welt, oder zumindest knapp davor, scherzen sie in der Schweiz. Man müsse zwei Tage vorher anreisen, um rechtzeitig dort anzukommen, sagen sie.

Foto: © GEPA

Papa Andrew ist Engländer, eher durch Zufall verschlägt es ihn 1967 im Zuge einer Skitour während eines Sprachaufenthalts nach La Fouly. Immer wieder zieht es ihn in den folgenden Jahren zurück in das Dörfchen im Mont-Blanc-Gebiet, ehe er sich schließlich als Lehrer dort niederlässt. Mama Anita, eine in Mexiko geborene Schottin, lernt ihren späteren Mann bei einer Skireise kennen. 1988 kaufen sie ein Haus, betreiben dort zunächst auch ein Bistro.

Yule ist bis 2008 britischer Staatsbürger, erst dann entscheidet er sich für die Schweiz. „Lange habe ich mir Gedanken gemacht, ob ich diesen Pass wirklich will. Aber nicht, weil ich eine Rennfahrerkarriere unter britischer Fahne in Erwägung ­gezogen habe. Ich habe gezögert, weil ich keine Lust auf die ­Schweizer Armee hatte“, erzählt er. Die Sache hat sich dann kurioserweise aber selbst erledigt. Weil er ein starker Schlafwandler ist, wird er für untauglich erklärt.

Very british mit Zuneigung zum Bier

Daheim wird in der Familie Yule fast ausschließlich Englisch gesprochen – obwohl der 26-Jährige auch Deutsch, Französisch und Italienisch fließend beherrscht. Auch sein Humor sei „very british“, so der Skifahrer. Und sein Sturkopf schottisch. Die Verbindung zur Heimat seiner Eltern ist da. „Ich träume oft von einem Wohnsitz in einem kleinen Schloss in Schottland, am besten in der Nähe eines Golfplatzes und des Meers. Ich stelle es mir wunderbar vor, beim ärgsten ­Sauwetter in der Schloss­bibliothek in einem Ledersessel zu sitzen, zu lesen und ­einen Whisky zu trinken“, sagt er.

Apropos Whisky. Dem Alkohol ist Yule grundsätzlich nicht abgeneigt. „Besonders Bier mag ich sehr gerne“, sagt er über sich. Aber: „Während der Saison trinke ich normal keinen Schluck Alkohol.“ Der Schweizer ist ein vernünftiger Typ. Schon als Kind habe man sich mit ihm wie mit einem Erwachsenen unterhalten können, erinnert sich ein früherer Trainer.

"Mein Vater hat mir schon zu verstehen gegeben, dass ich mein Geld eher mit meinem Kopf als mit meinen Beinen verdienen werde"

Daniel Yule

Auch die Familie sorgt dafür, dass Yule auf der sicheren Seite bleibt. „Mein Vater hat mir schon zu verstehen gegeben, dass ich mein Geld eher mit meinem Kopf als mit meinen Beinen verdienen werde und hat mir gesagt, dass ich mindestens bis ins Alter von 18 Jahren zur Schule gehen muss“, berichtet der Technik-Spezialist, der bei Olympia 2018 in Pyeongchang und 2019 bei der WM in Are Gold mit der Mannschaft holt.

Doch nach der schulischen Reifeprüfung ist für den Schweizer, der seit Juni 2019 als FIS-Athletensprecher fungiert, noch nicht Schluss mit dem Lernen. Yule absolviert ein Wirtschaftsstudium. Zudem betreibt er gemeinsam mit einem Freund und einem asiatischen Geschäftsmann eine Skischule in China im Resort Thaiwoo.

Das Schweizer Slalom-Wunder

Foto: © GEPA

Vorerst steht jedoch die Ski-Karriere im Fokus. Yule ging den Weg der kleinen Schritte, sammelte 2014 die ersten Punkte, verbesserte sich von Jahr zu Jahr stets, ohne einen ganz großen Sprung zu machen.

Seit Jahren arbeitet die Slalom-Trainingsgruppe bestehend aus Yule, Luca Aerni, Ramon Zenhäusern, Reto Schmidinger und Marc Rochat hart daran, den Anschluss an die Weltspitze zu schaffen. Der eine mit mehr, der andere mit weniger Erfolg.

Tatsache ist aber auch, dass in diesem Winter neben dem bereits erwähnten Quintett auch schon Tanguy Nef und Sandro Simonet im Slalom Weltcup-Punkte gesammelt haben. Keine andere Nation hat mehr Slalom-Fahrer im Punkte-Ranking. Und mit 1.106 Zählern sind die Eidgenossen vor Norwegen (884) und Österreich (883) aktuell auch die beste Slalom-Nation.

Nicht schlecht für den einstigen Slalom-Prügelknaben. Angeführt wird das Schweizer Slalom-Wunder von Daniel Yule. „This is my house“, brüllte er, als er in Adelboden triumphierte. „Als Schweizer gibt es nichts Größeres, als in Adelboden oder Wengen zu gewinnen. Das Gefühl war unglaublich“, sagt er.

Sollte Yule auch in Wengen triumphieren, ist er endgültig ein Schweizer Volksheld.

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