news

Die goldenen Regeln des Turnier-Scoutings

LAOLA1-Experte Bernd Freimüller erklärt, auf welche Details es ankommt:

Die goldenen Regeln des Turnier-Scoutings Foto: © GEPA

Sommerzeit ist Hlinka-Gretzky-Cup-Zeit. Das U18-Turnier ist seit 1991 ein Fixtermin für alle großen Eishockeynationen und dadurch auch für die Scouts der 31 NHL-Klubs.

Knapp 250 gaben sich heuer in der Slowakei und Tschechien die Ehre. Nicht alle waren beim 3:2-Finalsieg von Russland über Kanada noch anwesend, viele Reports wurden bereits davor abgeschlossen.

Auch Bernd Freimüller ließ sich den Cup nicht entgehen. Der LAOLA1-Experte erklärt, welche Scouting-Regeln es für dieses und ähnliche Turniere zu beachten gilt:

"Wie scoutest du bei Turnieren?" "Worauf achtest du?" "Warum stechen dir Spieler ins Auge?" "Auf welche Stärken und Schwächen schaust du genau?" - solche und ähnliche Fragen werden mir während der Saison von Fans, aber auch von Coaches und Managern öfters gestellt. Jeder Scout ist anders, gewisse Regeln bringt aber die Erfahrung mit sich.

Nehmen wir ein Top-Turnier her: Beim alljährlichen Hlinka Gretzky Cup (Jahrgang 2002 und jünger), der seit letzter Saison zwischen Edmonton und Europa (Tschechien und der Slowakei) pendelt, geben sich die Scouts ein Stelldichein. Schließlich geht es darum, einige der Top-Picks erstmals in ihrem Draftjahr zu sehen bzw. sich eine Übersicht über die Spielstärke vor allem der Europäer zu verschaffen. Bei knapp 160 eingesetzten Spielern reichte es heuer für mich zu 60 Reports, also mehr als ein Drittel. Ein Blick auf einige meiner persönlichen Scoutingregeln anhand dieses Turniers:

"Die guten Spieler stechen von alleine heraus"

Selbst Fans, die sich mit dem Nachwuchseishockey kaum auseinandersetzen oder gar blutige Laien könnten wahrscheinlich die Topspieler  bei Turnieren herausfiltern. Ein fast zwei Meter großer Center mit ausgezeichneten Beinen und sanften Händen wie der Kanadier Quinton Byfield sticht ebenso gleich ins Auge wie sein Landsmann Cole Perfetti, der nach Belieben traf und mit zwölf Punkten in fünf Spielen einen neuen Turnierrekord aufstellte.

Bei solchen Spielern geht es für professionelle Scouts dann um die Details: Wird Perfetti "nur" ein NHL-Toptorjäger oder ein kompletter Spieler? Wie groß ist bei Byfield das Torjägerpotential – draftest du einen Mann, der für 20 oder 40 Tore pro Saison gut ist? Wenn sie nicht total abbauen, werden beide Spieler heuer Top-5-Picks werden, das steht fest. Doch diese Fragen werden erst im Laufe der Saison beantwortet. Ein schlechtes Turnier hätte bei beiden Spielern vielleicht einen schwächeren Eindruck hinterlassen, doch ihr Status als Top-Cracks wäre vorläufig nicht in Frage gestellt worden.

"Scouten für die ferne - nicht nahe - Zukunft"

Für dieses Turnier musste ich mich wieder umstellen: Der Großteil meiner Arbeit (von den österreichischen Juniorenligen abgesehen) beschäftigt sich mit Erwachsenen. Die Frage, ob ein 28-jähriger Spieler, der etwa in der DEL gespielt hat, einem EBEL-Team sofort weiterhelfen kann, ist natürlich nicht immer klar zu beantworten. Aber immer noch leichter als die, welche Rolle ein jetzt 17-jähriger Schwede oder Finne in etwa sechs Jahren in der NHL spielen wird.

Wieviel legt der Spieler körperlich zu? Ist seine Beinarbeit so, dass er auch auf noch engerem Raum erfolgreich sein kann? Sind seine Stärken auf das Seniorenniveau übertragbar? Kann er mit dem Profi-Druck umgehen? Wird er ein Rollenspieler (wenn überhaupt) oder ein Spielträger? Alles Fragen, die viel Spekulation beinhalten. Auch bei Profis kommt es oft von einem Jahr auf das andere zu Leistungssprüngen in beide Richtungen, doch die Voraussagen basieren eben bereits auf ihrem Niveau im Senioren- und nicht im Juniorenbereich. Bei jungen Spielern sind vor allem bei erfahrenen Scouts deren Erfahrung und ein gewisses Bauchgefühl unerlässlich.

"Kein All-Star-Team bilden"

Ein Fehler, der vor allem in Fankreisen gerne gemacht wird, bei Scouts aber weniger: Die besten Spieler eines Turniers sind für sie oft auch die besten Spieler für die Draftliste. Aber halt! Es geht nicht darum, ein All-Star-Team des Turniers zusammenzustellen, sondern eben in die Zukunft zu blicken. Ist der Russe Alexandr Pashin mit seinen fünf Toren im Semifinale und Finale (daher ein All-Star-Garant) wirklich ein Spitzenmann oder wird sein Mangel an Größe doch ins Gewicht fallen? Er wird sicher auf einigen vorläufigen Listen, mit denen die Scouts in die anstehende Saison gehen, hinter Spielern gereiht, die beim Hlinka-Turnier weniger auffielen.

"Pars pro toto – die Überbewertung einzelner Szenen"

Auch stets eine Falle: Eine Szene eines Spielers – egal ob gut oder schlecht – wird für diesen Spieler als beispielgebend hergenommen und der Bericht basiert darauf. Ein Defender macht etwa einen katastrophalen Fehlpass im eigenen Drittel - ist er ein Spieler, der in dieser Szene dumm agiert hat, oder ein dummer Spieler? Das macht natürlich einen Riesenunterschied.

Ein Top-Pick für den Draft 2019: Quinton Byfield
Foto: © getty

Wohlgemerkt, beim Hlinka-Turnier ist der Unterschied vom schlechtesten zum besten Spieler zwar groß, aber nicht so himmelweit wie vor Jahren noch. Fast jeder Crack auf diesem Niveau kann heute eislaufen, die Kurzbeschreibung "Heavy Boots" (= "Schwere Stiefel"), die Spieler vor Jahren noch in zwei Worten eliminierte, ist heute kaum mehr anzuwenden. Es geht viel mehr ins Detail, daher sind Scouts für Auffälligkeiten dankbar  - noch dazu zu einem Zeitpunkt der Saison, wo sie die Spieler noch nicht so kennen.

Doch der erste Eindruck kann oft täuschen - oder auch nicht. Der kanadische Defender Jamie Drysdale fiel mir schon bei seinem ersten Shift mit zwei aggressiven und wunderbaren Pokechecks auf. "Stick!" war meine kurz hingekritzelte Bemerkung. Natürlich reicht ein Shift nicht aus, doch Drysdale bewies im Rest des Spiels, dass er zwar kein Hüne, doch ein immens cleverer und mobiler Defender ist - seine ausgezeichnete Stockarbeit ist nur ein Teil des Gesamtpakets. Der russische Defender Shakir Mukhamadullin schoss gleich zu Beginn des ersten Spiels mit einem One-Timer (schnell und in einem Move) fast die Stange entzwei - das blieb mir natürlich im Hinterkopf. In den weiteren Spielern bewies er immer wieder seine Schusskraft, der Hammer war also kein Zufall. Dazu kam noch die Fähigkeit, mit seiner Mobilität Shotblocker zu umgehen – etwas, das bei großen Defendern wie ihm nicht oft vorkommt.

Andere Spieler wiederum konnten meine ersten Eindrücke nicht bestätigen. Oft kommt es vor, dass ich mir kurz notiere "Rush", "Deke", "Big Hit" und es bleibt bei diesen Worten - das genügt natürlich nicht für einen (positiven) Report. Der Mann mit dem "Big Hit" blieb weitere davon schuldig, ihn also als "physischen Defender" zu kategorisieren, wäre nach diesem ersten Eindruck übereilt gewesen.

Streitpunkte Skating und Hockey Sense

Die Columbus Blue Jackets reisten zu diesem Turnier mit 14 (!) Scouts - das muss eine unglaubliche Meinungskakophonie ergeben. Denn selbst wenn Scouts dieselben Spiele sehen, sind sie oft höchst unterschiedlicher Meinung. Die größten Unterschiede ergeben sich oft in den Kategorien "Hockey Sense" und "Skating".

Im Gegensatz zum Eislaufen ist der Eishockeyverstand nicht messbar, jeder Scout stellt sich etwas anderes darunter vor. Meine Faustregel: Die Situationen am Eis sind ja oft die gleichen - macht ein Spieler dann das, was gute Spieler vor ihm gemacht haben oder nicht?

Beispiele dafür:

  • Nach einem Fehler im Coverage (das kommt immer wieder vor) versucht der Defender diesen auszugleichen, in dem er wie wild der Scheibe oder dem Scheibenführenden nachfährt anstatt in seine Ausgangsposition zurückzukehren.
  • Proaktives Hitting: Um seine Anwesenheit nachzuweisen, verlässt der Spieler seine Position zur Unzeit, teilt zwar einen Hit aus, hinterlässt aber hinter sich ein riesengroßes Loch (in der EBEL öfters bei Sam Antonitsch zu sehen).
  • Der Flügel ist zwar im eigenen Drittel in seiner Position, vergisst aber über seine Schulter zu schauen und sein Defender kann so ungehindert in den Slot fahren.
  • Der Defender attackiert frontal anstatt aus einem sicheren Winkel bzw. steht öfters auf der falschen Seite des Pucks.
  • Der Goalie hat Probleme, Verkehr hinter seinem Tor zu verfolgen, wird damit öfters ein Opfer von Wrap-Arounds.

Kommt alles immer wieder vor, vor allem beim heutigen Tempo. Bei den schlechteren Spielern eben öfters und voraussehbarer als bei den besseren. Und vor allem wie sich Spieler von Fehlern erholen, sagt viel darüber aus, wie sie das Spiel geistig verarbeiten.

Auch beim Eislaufen scheiden sich öfters die Geister, obwohl das doch eher zu quantifizieren ist: Natürlich sind richtiger Glüher gleich schnell auszumachen, aber handelt es sich um "functional speed" oder kommen sie zwar schnell an, allerdings am falschen Ort (was wieder mit dem Hockey Sense zusammenhängt). Nachdem offenes Eis heute immer weniger zu finden ist, sich das Spiel oft auf kleinsten Raum abspielt (etwa einer Hälfte des defensiven Drittels), kommt es viel mehr auf Agilität und Quickness an als auf große Sprintstärke auf langer Strecke. Da heißt es schon verdammt genau hinzusehen und selbst dann scheiden sich die Geister…

Eines hat mich das Hlinka-Turnier aber wieder gelehrt (nicht dass ich es nicht schon wusste): Es kommt natürlich auch darauf an, welche Spiele man sieht. Ich habe Finnland zweimal gesehen: Im Auftaktspiel (0:6 gegen Kanada) und zum Abschluss (1:5 gegen Schweden). Dementsprechend negativ fielen meine Berichte aus. Kollegen, die die drei Siege dazwischen gesehen haben, hatten sicher einen positiveren Eindruck. Nur eine der vielen Fußangeln im Scouting-Business…

Kommentare