news

Revolution im Nachwuchsfußball? Nur Mut, ÖFB!

Das Akademie-System wird geändert. Wo setzt der ÖFB an? Geht das weit genug?

Revolution im Nachwuchsfußball? Nur Mut, ÖFB! Foto: © GEPA

Vor einem Jahr war noch nicht abzusehen, dass der SK Austria Klagenfurt die österreichische Fußball-Landschaft nachhaltig verändern wird.

Genau genommen passiert das aber. Denn der Kärntner Klub hat mit seinem erfolgreichen Akademie-Lizenzantrag Ende April 2021 eine Entwicklung angestoßen, die für eine neue Struktur im Nachwuchsfußball sorgt. Ob es eine Evolution oder gar eine Revolution wird, hängt vom Mut des ÖFB ab.

Was bisher geschah: Die Kärntner nutzten das 2016 beschlossene Verfahren, um eine Akademie-Lizenz zu erlangen. Dem ÖFB waren ob der Erfüllung der Kriterien die Hände gebunden. Erstmals seit 2008 werden die ÖFB-Jugendligen (U15, U16, U18) mit 13 Teilnehmern ausgetragen.

Im Herbst meldeten mit dem GAK und dem TSV Hartberg weitere Vereine Interesse an einer Akademie-Lizenz an. Der ÖFB zog mittels Präsidiumsbeschluss die Handbremse, stoppte die Vergabe von Lizenzen. Die Klubs wiederum argumentierten mit der Verpflichtung, eine Akademie zu betreiben bzw. mit einer zusammenzuarbeiten, um die Bundesliga-Lizenz zu erhalten.

Die (österreichische) Lösung: Wer die Kriterien erfüllt, erhält weiterhin eine Lizenz, darf vorerst aber nicht an den ÖFB-Jugendligen teilnehmen. Eine neue Akademie-Struktur wird erarbeitet und soll ab dem Sommer 2023 umgesetzt werden.

Unverhofft bietet sich dem ÖFB die Chance, ein seit rund zwei Jahrzehnten bestehendes System zu reformieren, das dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse vielleicht nicht mehr in jeglicher Hinsicht gerecht wird.

Mut ist notwendig!

Doch das erfordert Mut. Den Mut so mancher Entscheidungsträger, sich einzugestehen, vielleicht nicht in jeder Hinsicht der Talenteförderung das nötige Knowhow mitzubringen, um auf wertvolle Inputs von Experten verzichten zu können. Den Mut, auch unbequeme Regeln aufzustellen, wenn sie die individuelle Entwicklung von SpielerInnen langfristig auf eine neue Stufe heben. Den Mut, finanzielle Mittel zur Förderung freizugeben, die anderweitig vielleicht sichtbarer, aber nicht wertvoller wären.

Die Pläne des ÖFB sehen vor, die Akademien in zwei Leistungsklassen aufzuteilen. Diverse Kriterien sollen die Akademien – wahrscheinlich im Zweijahresrhythmus – den beiden Klassen zuteilen. Wie ist die Ausbildungsstätte infrastrukturell aufgestellt? Welche Lizenzen bringen die angestellten Trainer mit? Wie viele Nachwuchsteamspieler stellt die jeweilige Akademie? Wie sind die Ergebnisse? Und, und, und.

All das birgt große Tücken. Kann sichergestellt werden, dass jeder der vorgegebenen Punkte ausschließlich nach objektiven Kriterien bewertet werden kann? Die Einberufung von Nachwuchsteamspielern etwa könnte zu Interventionen bei den Jugendteamchefs führen, die sich diese wohl gerne ersparen.

Werden die geeignetsten oder die am besten ausgebildeten Trainer angestellt? Übernimmt sich eh keine Akademie finanziell, um infrastrukturell noch was zu tun, um doch in der oberen Klasse zu landen?

Die größte Herausforderung jener Taskforce, die am neuen Akademie-System arbeitet, wird sein, sich nicht in sportpolitische Ränkespiele verstricken zu lassen, keine Kompromisse auf Kosten der Talenteförderung einzugehen

Zudem muss sich der ÖFB die Frage stellen, wie er mit weiteren Akademie-Bewerbern umgeht. Inklusive der "Interessenten" GAK, Hartberg, Horn, Vienna, Kapfenberg und FAC wären es dann 19 Akademien. Da die Kriterien für die zweithöchste Akademie-Lizenzklasse tendenziell aber gesenkt werden, ist es nicht auszuschließen, dass noch einige weitere Klubs auf die Fördertöpfe zugreifen wollen. Was als Ausbildungsweg der besten österreichischen Nachwuchstalente gedacht ist, darf keiner Nivellierung nach unten unterworfen werden.

Es sind viele Interessen vieler Stakeholder zu beachten. Der Breitensport in Form jener Vereine, die Spieler an Akademien abgeben, der Spitzensport, die Landesverbände, der ÖFB, die Bundesliga, die Politik mit ihren Fördergeldern,… Zusätzlich natürlich jene, die im aktuellen Prozess nicht viel mitzureden haben, aber in der täglichen Praxis nicht minder wichtig sind: Eltern und Spielerberater. Und der allerwichtigste aller Stakeholder: der Spieler selbst.

Die größte Herausforderung jener Taskforce, die am neuen Akademie-System arbeitet, wird sein, sich nicht in sportpolitische Ränkespiele verstricken zu lassen, keine Kompromisse auf Kosten der Talenteförderung einzugehen.

Gehen die Pläne weit genug?

Und über all diesen Überlegungen schwebt dann noch eine viel größere Frage: Gehen die Pläne des ÖFB eigentlich weit genug? Sind sie so zukunftsträchtig, dass sie im kommenden Jahrzehnt nur durch kleine Eingriffe noch als topmodern gelten?

Seit Jahren bekommt der Verband das Problem mit dem RAE (Relative Age Effect) nicht in den Griff. Der RAE besagt, dass innerhalb eines Selektionszeitraumes früh geborene Sportler gegenüber den spätgeborenen systematisch bevorzugt werden. Dadurch werden nicht die talentiertesten gefördert, sondern jene, die in ihrer Entwicklung weiter sind, weil sie schlichtweg älter und somit auch erfahrener sind.

Angenommen zwei Kinder fangen an ihrem siebenten Geburtstag zum Fußballspielen an, Spieler A ist am 1. Jänner geboren, Spieler B am 31. Dezember desselben Jahres. Wenn sie sich mit 14 Jahren um die Aufnahme in eine Akademie bemühen, hat Spieler A ein Jahr mehr Erfahrung als Fußballer, das sind fast 15 Prozent.

Ein Blick auf die aktuellen, erweiterten Kader der Nachwuchsnationalteams zeigt, dass 47 Prozent im ersten Quartal des Jahres Geburtstag haben, 27 Prozent im zweiten, 16 Prozent im dritten und 10 Prozent im vierten. Dabei sind von der Wahrscheinlichkeit her in allen Quartalen gleichviele talentierte Fußballer zu finden.

Ein fast noch größeres Thema ist das biologische Alter. Das besagt, wie weit ein junger Mensch bereits entwickelt ist. Dafür braucht es kein Handwurzel-Röntgen mehr, mittels Mirwald-Test (Größe stehend, Größe sitzend, Gewicht) ist das gut einzuschätzen.

Ein Projekt des Schweizer Fußballverbands hat bei Spielern im Alter von 13 und 14 Jahren einen biologischen Altersunterschied von bis zu 3,2 bzw. 2,8 Jahren, einen Größenunterschied von bis zu 42 bzw. 36 Zentimetern und einen Gewichtsunterschied von bis zu 35 bzw. 36 Kilogramm festgestellt.

Ist das Akademie-Eintrittsalter mit just jener Phase, in der die Differenzen der körperlichen Entwicklung junger Menschen am größten sind, richtig gewählt? Soll es überhaupt auf das Geburtsdatum ankommen?

In mehreren Ländern, etwa auch in England, Deutschland und der Schweiz, wurden sehr positive Erfahrungen durch "Bio-Banding" gemacht. Die Spieler messen sich dabei nicht mehr in den klassischen Altersklassen nach ihrem Geburtsdatum, sondern werden anhand ihrer biologischen Entwicklung eingeteilt.

Retardierte, also Spätentwickler, werden von ihren Trainern viel positiver wahrgenommen, wenn sie sich mit körperlich gleichwertigen Spielern messen, schlüpfen auch eher in Führungsrollen, die sie als kleinste Kadermitglieder sonst nicht einnehmen.

Akzelerierte, also Frühentwickler, wiederum werden mehr gefordert, weil sie sich nicht auf ihre körperliche Überlegenheit verlassen können und andere Lösungswege finden müssen.

Im ÖFB besteht zwar die Möglichkeit, biologisch retardierte Spieler, die in ihrer Entwicklung zumindest ein Jahr und zwei Monate verzögert sind, eine Altersklasse weiter unten einzusetzen, doch in der Praxis findet das nur selten statt.

Kopfsache für Entscheidungsträger

Die Sensibilisierung für all diese Probleme ist viel zu wenig weit fortgeschritten. Entscheidungsträger scheinen teilweise noch im vorigen Jahrtausend zu leben. Dass ergebnisorientierter Fußball der individuellen Entwicklung des Spielers im Nachwuchs nicht zuträglich ist, ist in vielen Köpfen noch nicht angekommen.

Es gibt immer noch Akademien, in denen Trainer Punkteprämien kassieren, in denen sich die Leiter bei mittelmäßigen Tabellenplatzierungen Aufsichtsräten erklären müssen. Dementsprechend setzen Trainer Spieler teilweise auf Positionen ein, auf denen sie zwar aktuell am meisten helfen, langfristig aber in der Spitze nicht konkurrenzfähig sein werden.

Das Spannungsfeld zwischen Ergebnisdruck sowie der wünschenswerten Entwicklung eines Siegeswillens und der möglichst drucklosen individuellen Entfaltung sowie der Praxis, Fehler machen zu dürfen, aufzulösen, ist zweifelsohne eine der größten Herausforderungen in der Talententwicklung.

In dieser Hinsicht geht der ÖFB einen spannenden Weg, zur im letzten Sommer eingeführten U14-Jugendliga werden keine Ergebnisse veröffentlicht.

Das sind der Mut und die progressive Energie, mit der die Nachwuchsarbeit in die kommenden Jahrzehnte geführt werden muss.

Kommentare