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Schlierenzauers turbulentes Jahrzehnt

Von der selbsternannten Legende zum abgestürzten Super-Adler – und zurück?

Schlierenzauers turbulentes Jahrzehnt

1.1.2010, Garmisch-Partenkirchen. Gregor Schlierenzauer gewinnt das Neujahrsspringen der Vierschanzen-Tournee.

Es war der Auftakt in ein Jahrzehnt voller Erfolge, Rückschläge und Emotionen für Österreichs erfolgreichsten Skispringer aller Zeiten. Ein Jahrzehnt, das in wenigen Tagen zu Ende geht. Ein Jahrzehnt, in dem Erfolg und Misserfolg für Schlierenzauer so nah beieinanderlagen.

"Jetzt darf ich mich offiziell 'Legende' nennen"

Die frühen 2010er-Jahre sind die erfolgreichsten in der Karriere des Gregor Schlierenzauer, dessen Stern in der Saison 2008/09 mit seinem ersten Gesamtweltcup-Sieg im Alter von nur 17 Jahren so richtig aufging. In dieser Zeit kürte er sich unter anderem in Oslo zum Weltmeister auf der Normal- und Großschanze sowie im Team (2011).

Im Winter 2011/12 gewann Schlierenzauer erstmals die prestigeträchtige Vierschanzen-Tournee, im Jahr darauf wiederholte er den Triumph und sicherte sich auch seinen zweiten Gesamtweltcup-Sieg.

Im Jänner 2013 feierte der Stubaier seinen zweiten Gesamtsieg bei der Vierschanzen-Tournee, womit er der erste Springer seit Janne Ahonen 2006 war, dem die erfolgreiche Titelverteidigung gelang.

Am 3. Februar 2013 schrieb Schlierenzauer Skisprung-Geschichte: Er überholte mit seinem 47. Weltcupsieg Matti Nykänen in der ewigen Bestenliste. "Das ist schon ein Meilenstein. Jetzt darf ich mich offiziell 'Legende' nennen“, sagte ein sichtlich emotionaler Schlierenzauer damals.

Am 6. Dezember 2014 folgte mit seinem 53. Weltcupsieg in Lillehammer ein weiterer Meilenstein – kein anderer Skispringer in der Geschichte hat bis heute mehr Erfolge im Weltcup gefeiert. Der 53. ist bis heute Schlierenzauers letzter Sieg.

Nach Silber mit der Mannschaft bei den Olympischen Spielen 2014 und zwei zweiten Plätzen bei der WM 2015 (Großschanze, Team) begannen die Turbulenzen in Schlierenzauers Karriere. Plötzlich ging es nicht mehr nur steil bergauf auf der Erfolgsleiter.

Auszeit, Verletzung, Sinnkrise

In der Saison 2015/16 nahm sich der Tiroler nach einem schwachen Start eine Auszeit, im März 2016 zog er sich beim Skifahren in Kanada einen Kreuzbandriss zu.

Bei seinem Comeback im Jänner 2017 sprang Schlierenzauer in Wisla auf Anhieb auf Rang acht. Mit der Bronzemedaille im Team bei der WM 2017 blieb er seiner Serie treu, bei jedem Großereignis eine Medaille zu gewinnen. Für den Saisonabschluss wurde er wegen "inkonstanter Leistungen" nicht berücksichtigt.

Später gab Schlierenzauer zu, in einer Sinnkrise gesteckt zu haben. Diese hat ihn menschlich geprägt, das einstige Wunderkind ist gereift. Schlieri wollte nicht mehr Schlieri sein, sondern der Gregor. "Jetzt bin ich gereift und gewachsen - ja, erwachsen", sagte er 2017.

Durch die schwierige Zeit hätten sich auch seine Prioritäten verschoben. Man hat das Gefühl, der einstige Superstar, dem oft Arroganz nachgesagt wird, ist geerdet. Er habe sich geöffnet und versucht, an ihm zu arbeiten, sagte Schlierenzauer.

"Man sieht natürlich das Leben mit anderen Augen, wenn man erwachsen wird, wenn man reift. Man lernt, man hat eine andere Sichtweise, wenn es einmal weniger gut läuft. Man sieht auch die Dinge neben dem Sport anders und vielleicht auch wieder intensiver."

Schlierenzauers größter Sieg

Sportlich war es die bis dahin herausfordernste Zeit seiner Karriere. "Es ist für mich schon berührend und inspirierend, dass man innerhalb von eineinhalb Jahren so extreme Gefühlswelten durchlebt - einmal oben, einmal unten", sagte Schlierenzauer und kündigte gleichzeitig wieder vollen Angriff in der Saison 2017/18 an.

"Es ist so viel passiert in meiner Karriere mit so vielen Erfolgen, dass ich nach der herausfordernden Zeit, der Verletzung, der Auszeit, den größten Sieg eigentlich schon erreicht habe, indem ich weitergegangen bin, indem ich mich der Herausforderung gestellt habe und für mich gesagt habe: Ich will es noch einmal wissen. Ich bin wieder zurück!"

Sein großes Ziel, Olympia-Gold im Einzel, erreichte Schlierenzauer aber auch bei den Spielen 2018 nicht. Im März des gleichen Jahres schnupperte der Tiroler in Planica mit seinem Flug auf die Weltrekordweite von 253,5 m nochmals Höhenluft, auch wenn er den Sprung nicht stehen konnte und der Rekord deshalb nicht offiziell gewertet wurde.

Obwohl Schlierenzauer glaubte, nach dem Kreuzbandrisses 2016, der Sinnkrise und einer weiteren Knieverletzung sei "die Talsohle erreicht", folgte 2019 nach einem schwachen Saisonstart samt Verzicht auf die Vierschanzen-Tournee mit der Nicht-Nominierung für die Heim-WM in Seefeld der nächste Tiefschlag. Schlierenzauer beendete die Saison vorzeitig – und grübelte erneut über seine Karriere.

Schlierenzauer, der Kämpfer

Im Sommer rappelte sich der Weltcup-Rekordsieger aber wieder auf und entschied sich für eine Forsetzung seiner Karriere – "Nicht weil ich muss, sondern weil ich will!"

Schlierenzauer will niemandem mehr etwas beweisen, aber mit Unterstützung seines früheren Trainers Werner Schuster will der einstige "Superadler" wieder zurück in den "elitären Kreis" der Top Ten im Weltcup.

Das gelang dem seit Dezember 2014 auf einen Einzelpodestplatz im Weltcup wartenden Schlierenzauer mit Rang vier in Nizhny Tagil zumindest ein Mal. Ansonsten ist der bisherige Saisonverlauf des 29-Jährigen noch ein Auf und Ab – von Platz vier bis 44 war bisher alles dabei.

"Wenn man vier Jahre sportlich praktisch weg vom Fenster ist, muss man akzeptieren, dass die Dinge nicht von heute auf morgen greifen", ist Schlierenzauer um Geduld bemüht.

Wenn nicht heute oder morgen - Was bringt das kommende Jahrzehnt für Gregor Schlierenzauer? Am 7. Jänner wird der Tiroler 30 Jahre alt. Für einen Skispringer gewiss kein Alter, um die Karriere zu beenden.

Aber was, wenn sein Plan, an die Weltspitze zurückzukehren, erneut nicht aufgeht? "Fristen oder eine Deadline habe ich mir keine gesetzt. Solange die Lust und Leidenschaft für den Sport so groß bleiben wie sie aktuell sind, werde ich auch die Geduld haben, mich zurück zu kämpfen", sagt Schlierenzauer.

Zuzutrauen ist es ihm auf jeden Fall. Dass er das Skispringen noch immer auf einem hohen Niveau beherrscht, hat Schlierenzauer in den letzten Wochen bewiesen.

Und wer weiß, was am 1.1.2020 in Garmisch passiert...

 

 

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