Hintergrund
Abfahrt am Limit? Warum Athleten das Risiko bewusst wählen
Abfahrer leben und lieben das Risiko. Kilde, Odermatt, Kriechmayr & Co. sprechen offen über Angst, Mut und Verantwortung. Der Tod von Matteo Franzoso rückt die Frage nach Sicherheit stärker denn je in den Fokus.
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Textquelle: © LAOLA1
von Daniela Kulovits
Abfahrt – Die alpine Königsdisziplin.
Geschwindigkeit, Mut und Präzision treffen in ihrer reinsten Form aufeinander.
Keine andere Disziplin verlangt den Athleten so viel ab: Sie stürzen sich mit über 130 km/h ins Tal, tasten sich ans Limit heran und müssen in Sekundenbruchteilen Entscheidungen treffen, die über Sieg oder Sturz entscheiden können. Deshalb fasziniert sie, deshalb werden die besten Abfahrer als Helden ganzer Nationen gefeiert.
Wie schmal in der Abfahrt der Grat zwischen Triumph und Tragödie ist, hat dieser Sommer bewiesen. Der junge Italiener Matteo Franzoso verlor in Folge eines Trainingssturzes in Chile sein Leben.
Eine Tragödie, die eine Debatte über die Sicherheit von Trainingspisten ausgelöst hat. Und die so manchen Athleten wachgerüttelt oder zumindest nachdenklich gestimmt hat.
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Sicherheit? "Wir Athleten müssen einfach sagen: hier fahre ich nicht"
"Im Training ist man da oft nicht so genau. Wir Athleten müssen einfach sagen: hier fahre ich nicht. Da muss ich mich auch selbst an der Nase nehmen, da bin ich oft zu blauäugig. Weil: Wird schon nichts passieren. Es passiert ja auch sehr häufig nichts, aber das eine Prozent, wo was passiert, kann halt tragisch ausgehen", sagt ÖSV-Athlet Daniel Hemetsberger in Hinblick auf den verheerenden Trainingsunfall von Franzoso.
Die Abfahrt ist ein Hochrisikosport, hundertprozentige Sicherheit existiert nicht. Dessen sind sich alle Athleten bewusst. Stürze wird man nie komplett vermeiden können – das bedingt alleine schon die "Variable" Mensch.
Dennoch liegt es wohl in der Natur eines Abfahrers, seine eigenen Grenzen auszuloten.
"Wir wissen am Start, dass es ein Risiko ist. Du gehst es bewusst ein", sagt mit Aleksander Aamodt Kilde einer der besten Abfahrer der Welt.
"Wir akzeptieren das Risiko. Wir lieben das Adrenalin", beschreibt der Schweizer Justin Murisier die "Spezies" Abfahrer.
"Wir bereiten uns unser ganzes Leben auf diese zwei Minuten Abfahrt vor. Wir sind die besten Skifahrer der Welt für diese Aufgabe", sagt mit Marco Odermatt der aktuell beste Skifahrer und gibt zu: "Als Athlet denk man sehr selten an die schlimmen Szenen."
Die Fähigkeit, am Limit zu bleiben, ohne es zu überschreiten
Wer gewinnt, ist selten einfach nur schneller – sondern präziser. In der Abfahrt bedeutet Risiko Kontrolle: Die Ideallinie so eng wie möglich zu nehmen, Kanten nur so viel einzusetzen wie unbedingt nötig und jede Unebenheit mit dem Körper zu absorbieren.
Doch dieselben Faktoren, die eine Siegfahrt ausmachen, können binnen Sekunden zum Kontrollverlust führen. Ein minimal zu später Druck auf der Kante, ein Schlag aus dem Nichts: Schon wird aus einem perfekten Lauf ein Sturz, der ganze Saisons oder Karrieren verändern kann. Es geht vor allem um die Fähigkeit, am Limit zu bleiben, ohne es zu überschreiten.
"Als Junger war es für mich überhaupt kein Problem, jedes Mal zu riskieren. Als älterer Athlet ist es nicht mehr ganz so einfach, bei jedem Rennen voll zu attackieren", gibt Vincent Kriechmayr zu.
Man müsse sich aber stets am Limit bewegen, um mit der jüngeren Garde rund um Marco Odermatt oder Franjo von Allmen mithalten zu können.
Das bestätigt auch Hemetsberger. "Man muss es sich schon gut überlegen, wie viel Risiko man eingeht. Ich reflektiere meistens: Hab ich das drauf? Genau so weit, wie ich es mir zutraue, gehe ich dann auch – und nicht weiter. Jüngere Athleten sind da noch risikofreudiger. Sollte es dann nicht für ein gutes Ergebnis reichen, ist es so. Dann fahr' ich lieber das nächste Rennen, bevor ich gar keines mehr fahre."
"Wir können nicht warten, bis wir Tote haben"
Gedanken, die unter die Haut gehen – aber nur menschlich anmuten. Und doch kommt es nur selten vor, dass ein Athlet am Start zurückzieht.
Der Skisport wird regelmäßig von schweren, teils lebensbedrohlichen Stürzen überschattet, tödliche Unfälle wie jener von Matteo Franzoso passieren immer wieder. So ist erst im Oktober 2024 die 19-jährige Italienerin Matilde Lorenzi nach einem Trainingssturz verstorben, der Franzose David Poisson kam im November 2017 im Training in Kanada ums Leben.
Die Ursachen dafür sind vielfältig, sie reichen von schlichten Fahrfehlern bis hin zu geringen Sicherheitsstandards – vor allem auf den Trainingsstrecken wie bei Franzoso der Fall.
Die FIS hat infolgedessen beschlossen, bis zum kommenden Frühjahr die weltweiten Abfahrts-Trainingsstrecken zu prüfen. Zudem sollen Sicherheitsrichtlinien – national und international – aktualisiert werden. Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung der Renndirektoren Markus Waldner und Peter Gerdol soll Vorschläge zur weiteren Verbesserung der Sicherheitsstandards entwickeln und testen. Zur Saison 2026/27 sollen sie einsatzbereit sein.
Aleksander Aamodt Kilde nimmt neben den Verbänden und der FIS nicht zuletzt die Läuferinnen und Läufer selbst in die Pflicht. "Wenn wir die Dinge in eine extreme Richtung treiben wie jetzt, passieren natürlich auch extreme Dinge. Wir Athleten müssen auf der Strecke aufmerksam sein. Wenn etwas gefährlich ist, muss man als Athlet sagen: Du, Coach, das schaut schwierig aus."
Denn: "Wir können nicht warten, bis wir Tote haben, um etwas zu unternehmen."