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Plötzlich im Viertelfinale: Was macht Marokko so gefährlich?

Les Lions de l'Atlas haben bei dieser WM gut lachen. Nach Siegen über Belgien und Spanien steht man im Viertelfinale. Was macht die Nordafrikaner so gefährlich?

Plötzlich im Viertelfinale: Was macht Marokko so gefährlich? Foto: © getty

Noch vor der Weltmeisterschaft in Katar hätten wohl nur die kühnsten Optimisten damit gerechnet, dass Marokko in einer Vorrunden-Gruppe mit Belgien und Kroatien der Aufstieg gelingen würde. Die "Löwen vom Atlas" erwiesen sich jedoch als abgezockter als ihre europäischen Kontrahenten und marschierten als souveräner Gruppensieger ins Achtelfinale.

Auch dort war für die Mannschaft von Walid Regragui nicht Schluss. Feldüberlegene, aber ideenlose Spanier mussten sich im Elfmeterschießen den Nordafrikanern mit 0:3 beugen. Nun wartet in der Runde der letzten Acht die zweite Fußball-Großmacht der iberischen Halbinsel: Portugal.

Für viele Fußballfans und Experten kam die plötzliche Erfolgsserie der Marokkaner überraschend. LAOLA1 will an fünf Punkten festmachen, wie es dem ersten arabischen Land der WM-Historie gelang, das Viertelfinale des prestigeträchtigen Bewerbs zu erreichen.

Verteidigung ist der beste Angriff

"Wir wollen das Mindset verändern, wie die Welt auf afrikanische Teams schaut. Wir müssen uns den europäischen State of mind aneignen und sagen: Wir wollen weiterkommen! Nichts anderes zählt!"

Walid Regragui

Das Offensichtlichste zuerst. Marokko verteidigt sehr kompakt. Vor allem gegen auf dem Papier bessere Mannschaften befinden sich bis auf Solospitze Youssef En-Nesyri (FC Sevilla) phasenweise bis zu neun Spieler hinter dem Ball. Gegen Kroatien, Belgien und Spanien war diese Taktik von Erfolg gekrönt, man zermürbte den Gegner buchstäblich.

Aus einer sicheren, mannschaftlich geschlossenen Defensivarbeit heraus werden einzelne offensive Nadelstiche gesetzt. Die schnellen Flügel Sofiane Boufal (Angers) und Hakim Ziyech (Chelsea) kreieren zahlreiche gefährliche Umschaltsituationen und können den Gegner im Handumdrehen auf dem falschen Fuß erwischen.

Eine mannschaftlich geschlossene Defensive, die sich nur selbst überwinden kann. Im bisherigen Turnierverlauf kassierte Marokkos Defensive nur einen Gegentreffer. Bezeichnenderweise fiel der gegen den vermeintlich schwächsten Gegner Kanada und resultierte aus einem Eigentor von West-Ham-Legionär Nayef Aguerd. Wenn die Marokkaner das Spiel machen müssen, sind sie hinten anfälliger. Was das angeht, kann man beruhigt sein. In den verbleibenden WM-Spielen wird man dazu nicht gezwungen sein.

Die Stars des nordafrikanischen Landes sind nicht zufällig Weltklasse-Abwehrspieler. Neben Achraf Hakimi (PSG) und Noussair Mazraoui (Bayern München) sorgen Aguerd und Routinier Romain Saiss (Besiktas) dafür, dass hinten nichts anbrennt. Wichtig ist der Teamspirit. Keiner der Offensivspieler ist sich zu schade für Defensivarbeit. Teamchef Walid Regragui hat seine Löwen taktisch perfekt auf das Turnier eingestellt.

Trainer als Erfolgsfaktor: "Sind wieder eine Familie"

 


Regragui im siebten Himmel
Foto: © getty

Kaum einer kannte Marokkos Nationaltrainer Walid Regragui, einen 47-jährigen gebürtigen Franzosen, vor dem Turnier in Katar. Zehn Jahre lang beackerte er in seiner aktiven Vereinskarriere als Rechtsverteidiger für spanische (Racing Santander) und franzöische Klubs (Toulouse, Ajaccio, Dijon) die Außenbahnen. 44 Länderspiele bestritt er für seine Wahlheimat Marokko.

Dabei feierte der Trainer zuletzt große Erfolge auf Vereinsebene. Mit Wydad Casablanca gewann er die afrikanische Champions League.

Vor der WM forderte Regragui von seinen Spielern "europäischer zu spielen". Von dem schönen Spiel, für das afrikanische Mannschaften bei der WM bekannt sein, könne man sich nichts kaufen. "Wir wollen das Mindset verändern, wie die Welt auf afrikanische Teams schaut. Wir müssen uns den europäischen State of mind aneignen und sagen: Wir wollen weiterkommen! Nichts anderes zählt", gab Regragui vor Turnierstart die Marschroute vor.

Seine Vorstellungen musste Regragui schnell umsetzen. Erst im August 2022 wurde er als Cheftrainer vorgestellt, in sieben Spielen unter seiner Ägide hat Marokko bisher nicht einmal verloren. Auch seine Defensivtaktik griff sofort. Lediglich ein Gegentor steht in seiner Amtszeit bisher zu Buche, das man sich selbst schoss. Auf ein "richtiges" Gegentor "wartet" man also noch. 

Dabei trat Regragui kein einfaches Erbe an. Unter Vorgänger Vahid Halihodzic waren Spieler wie Noussair Mazraoui und Hakim Ziyech in Ungnade gefallen. Ziyech gab aufgrund der Streitereien mit dem Ex-Trainer sogar seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft bekannt.

Doch nicht nur das. Jahrelang waren Konflikte zwischen in Marokko geborenen Spielern und solchen, die aus europäischen Ländern stammen bei den "Löwen vom Atlas" vorprogrammiert. Der 47-Jährige identifizierte schnell die richtigen Ansprechpartner und Fürsprecher in der Mannschaft und drehte zwischenmenschlich an den richtigen Schrauben. Nun sei man "eine große Familie", erklärt PSG-Star Achraf Hakimi.

Ziyech und Hakimi - Die tödliche rechte Achse


Ziyech und Hakimi bejubeln den Viertelfinaleinzug
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Stehen Achraf Hakimi und Hakim Ziyech auf dem Platz, kann Marokko eigentlich gar nicht verlieren. Zumindest legt das die Statistik nahe. 36 Mal spielte das Duo zusammen für die Nationalmannschaft, nur fünf dieser Spiele gingen verloren. Der Rechtsverteidiger und der Rechtsaußen harmonieren gut miteinander, seit 2016 spielt man zusammen für Marokko.

Auch bei der WM läuft über die rechte Achse der Nordafrikaner das Groß der Angriffe. Nur an einem der bisherigen vier Endrunden-Treffer der Marokkaner waren weder Ziyech noch Hakimi direkt beteiligt. Auch in der Defensive bündelt man die Kräfte, wenn der Gegner lange Ballbesitzphasen aufzieht. Beide Starspieler sind sich auch nicht zu schade, Verantwortung zu übernehmen. Im Elfmeterschießen gegen Spanien verwandelten sowohl Ziyech als auch Hakimi ihre Strafstöße und schossen Marokko ins Viertelfinale.

Dabei hätten beide Spieler nicht mit unterschiedlicheren Vorbedingungen in das Turnier gehen können. Ziyech spielte schon unter Thomas Tuchel und jetzt unter Graham Potter keine Rolle beim FC Chelsea. Lediglich fünf Liga-Einsätze stehen aus der laufenden Saison zu Buche, nur einmal durfte Ziyech von Beginn an ran.

Hakimi ist bei Frankreichs Serienmeister Paris Saint-Germain dagegen ein absoluter Dauerbrenner. Nur ein Match verpasste der Außenverteidiger bewerbsübergreifend bis dato. Zudem gewann Hakimi mit den Parisern mit dem Supercup bereits die erste Saison-Trophäe.

Breiter Kader: Legionäre aus den europäischen Topligen

 


Bono hielt gegen Spanien drei Elfmeter
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Was Regragui mit seinem taktischen Leitbild nach europäischem Vorbild vorgibt, leben seine Kicker seit Jahren. Die klare Mehrzahl der marokkanischem Teamspieler verdient ihr Geld in den Top-5-Ligen Europas. Legionäre aus dem arabischen Raum oder gar Spieler aus der heimischen Liga sind die klare Ausnahme. Die individuelle Klasse der Marokkaner überschattet die der anderen afrikanischen WM-Teilnehmer bei Weitem.

Nur sechs der 26 Kader-Spieler spielen außerhalb Europas. Bei der WM kommen sie nur sporadisch zu einigen Kurzeinsätzen, denn Regragui kann auf exzellentes Spielermaterial bauen. Durchschnittlich stehen in der marokkanischen Startelf neun Spieler, die entweder in England, Deutschland, Spanien, Italien oder Frankreich engagiert sind.

Torhüter Bono und Torjäger En-Nesyri (beide FC Sevilla) spielen in La Liga, Nayef Aguerd (West Ham) und Hakim Ziyech (Chelsea) in der Premier League. Sofyan Amrabat (Florenz) und Abdelhamid Sabiri (Sampdoria Genua) verdienen ihr Geld in der Serie A, Achraf Hakimi (PSG), Azzedine Ounahi und Sofiane Boufal (beide Angers) sind bei Ligue-1-Klubs unter Vertrag. Der einzige Bundesliga-Kicker im Aufgebot von Regragui ist Bayern-Star Noussair Mazraoui.

Die einzigen regelmäßigen Starter, die nicht in Europas Topligen spielen, sind Achter Selim Amallah (Standard Lüttich) und Innenverteidiger Romain Saiss (Besiktas). Saiss erzielte beim 2:0-Sieg gegen Belgien das wichtige 1:0, dass das WM-Aus der "Roten Teufel" schlussendlich besiegelte.

Marokkos stärkster Verbündeter: Der zwölfte Mann

 

 


Marokko-Anhänger beim Spiel gegen Spanien
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Bei der WM in Katar zeichneten sich Marokkos Fans vor allem durch ihren unbändigen Support aus. Gegnerische Mannschaften werden über 90 Minuten gnadenlos ausgepfiffen, die Anhänger beweisen bei dieser Dauerbeschallung nicht nur ihr herausragendes Lungenvolumen.

Dass dies zur Verunsicherung des Gegners beitragen kann, sah man gegen Belgien und Spanien.

Dabei können die "Löwen vom Atlas" nicht nur auf Anhänger aus der Heimat zählen. Wie schon bei der WM 2010 versammeln sich diesmal die Menschen aus dem arabischen Kulturkreis hinter ihrem letzten Verteter. Was in Südafrika "All Africa for Ghana" war, könnte in diesem Jahr "All Arabia for Morocco" sein. Den "Löwen vom Atlas" kann es nur recht sein.

Im 37-Millionen-Einwohner-Staat in Nordafrika brechen erwartungsgemäß alle Dämme. Sogar König Mohammed VI. streifte sich ein Trikot über und fuhr mit offener Limousine durch die Straßen der Hauptstadt Rabat. Auch die zahlreichen großen Auswanderergruppen in Spanien, Frankreich oder Belgien ziehen in großer Zahl auf die Straße und stellen die örtlichen Ordnungskräfte vor große Herausforderungen.

Arabische Fußballgeschichte haben "Les Lions de l'Atlas" bereits geschrieben, reicht es vielleicht sogar für den ganz großen Coup?

 


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