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Findet der Mythos "Vizekusen" endlich ein Ende?

Ein Blick auf die Entstehung in den 2000er und die kommenden Aussichten:

Findet der Mythos Foto: © getty

Saisonübergreifend 13 Spiele in der deutschen Fußball-Bundesliga ungeschlagen, ein letztlich dominanter Gruppensieg in der UEFA Europa League und Platz eins in der Liga mit der Chance auf die Weihnachtsmeisterschaft – und dann kamen die Bayern.

So in etwa lässt sich der Herbst von Bayer 04 Leverkusen beschreiben. Trotz der bitteren Heimniederlage gegen die Münchner und der verpassten Chance, sich ein kleines Polster zu den schärfsten Verfolgern aufzubauen, wird man das Gefühl nicht los, dass ausgerechnet heuer, in einer von Corona bestimmten und zusammengeschobenen Spielzeit, ein Image fallen könnte.

"Vizekusen" – ein Begriff, der sich um die 2000er Jahre bei der "Werkself" regelrecht fest gefressen hat und bis heute über der BayArena zu Leverkusen schwebt. Doch, woher stammt diese Redensweise überhaupt? Und stehen die Chancen tatsächlich so hoch wie schon seit Jahren nicht mehr, dass das Phänomen in dieser Saison sein Ende findet?

Die Entstehung "Vizekusens"

(Artikel wird unter dem Video fortgesetzt.)

Das bittere Eigentor von Michael Ballack
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Wagen wir einen Exkurs in die Vergangenheit. Bayer Leverkusen steht vor dem 34. und letzten Spieltag der Bundesligasaison 1999/00 mit 73 Punkten an der Tabellenspitze, drei Punkte dahinter liegt der FC Bayern München.

Die "Werkself" rund um den damals erst 22-Jährigen Michael Ballack braucht bei Aufsteiger Unterhaching nur ein Remis, um erstmals in der Historie der Rheinländer den Meistertitel zu holen.

Der deutsche Rekordmeister wiederum hatte den DFB-Pokalsieger der vergangenen Saison Werder Bremen im heimischen Olympiastadion zu Gast. Die Münchner erledigten ihre Aufgabe mit Bravour, schickten den Klub von der Weser, unter anderem dank eines frühen Doppelschlags von Ex-Rapidler Carsten Jancker, mit 3:1 nach Hause.

Somit mussten die Leverkusner zumindest einen Punkt in Unterhaching holen. Was aber folgte, war die Geburtsstunde von "Vizekusen".

Michael Ballack avancierte zum Unglücksraben und schoss den Aufsteiger per Eigentor nach 20 Spielminuten in Führung, in der zweiten Hälfte beendete Markus Oberleitner, der nur zwei Jahre später über den Umweg Greuther Fürth beim FC Kärnten landete und dort seine letzten Jahre bis zum Karriereende verbrachte, die Titelträume von Bayer 04.

Lediglich eine Kopie der Meisterschale wurde dem mittlerweile 30-maligen Meister aus München überreicht, selbst die Verantwortlichen der Bundesliga rechneten wohl mit einer Übergabe in Unterhaching.

Mit 73 Punkten war Leverkusen sogar der bis dahin stärkste Tabellenzweite seit Einführung der Drei-Punkte-Regel. Nach dem dritten Vizemeister-Titel der vergangenen vier Jahre war der Mythos "Vizekusen" geboren.

Der dreimalige Vize-Trainer Christoph Daum sollte auch in der kommenden Saison die Chance auf den erstmaligen Triumph in der deutschen Bundesliga bekommen, wurde allerdings in Folge seines Kokainkonsums am 23. Oktober 2000 aus Leverkusen entlassen.

Nach einem Jahr unter Berti Vogts übernahm Klaus Toppmöller die Truppe. Und in der Spielzeit 2001/02 stand die "Werkself" erneut kurz vor dem Meistertitel. Aber der Zeitraum zwischen dem 20. April und dem 15. Mai 2002 sollte "Vizekusen" für immer prägen.

Drei Titel in 25 Tagen vergeben

Real Madrid jubelt nach dem CL-Triumph
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Am 24. Spieltag übernimmt Bayer 04 mit einem glatten 4:0-Erfolg gegen Borussia Dortmund die Tabellenspitze und baut den Vorsprung zwischenzeitlich auf fünf Punkte aus (Stand 14. April).

Drei Spieltage vor dem Ende der Saison, genau am 20. April, empfängt Leverkusen Werder Bremen, das einen überraschenden 2:1-Sieg holt. Dortmund schlägt den 1. FC Köln ebenfalls 2:1 und verkürzt den Rückstand auf zwei Punkte. Ab hier nimmt das Unheil seinen Lauf – in der kommenden Woche ist Bayer beim abstiegsgefährdeten 1. FC Nürnberg zu Gast und kassiert die zweite Pleite in Folge.

Mit einem 0:1 und dem gleichzeitigen 4:3-Sieg Dortmunds in Hamburg gibt die Truppe von Klaus Toppmöller die Tabellenführung vor dem letzten Spieltag wieder ab, welche sie auch am letzten Wochenende trotz eines Erfolgs über Hertha BSC nicht mehr zurückholen kann. Borussia Dortmund schnappt sich last minute die Meisterschale und Leverkusen steht erneut mit leeren Händen da.

Aber die "Werkself" konnte sich sowohl für das Pokalfinale als auch das Champions-League-Endspiel in Glasgow qualifizieren und hatte immer noch die Chance auf zumindest einen Titel, den ersten seit dem Pokalgewinn 1992/93. Damaliger Kapitän? Der jetzige ÖFB-Teamchef Franco Foda.

Nur eine Woche nach dem bitteren Vizetitel in der Bundesliga bot sich die Chance auf den DFB-Pokal. Gegner im Berliner Olympiastadion war der FC Schalke 04.

Nach einer ausgeglichenen ersten Hälfte wurde Leverkusen im zweiten Spielabschnitt innerhalb von 17 Minuten durch drei Gegentore zerlegt und musste letztlich mit einer 2:4-Pleite und dem zweiten verpassten Titel innerhalb von sieben Tagen die Reise nach Glasgow antreten.

In Schottland stieg das große Endspiel der "Königsklasse" gegen Real Madrid. Bereits nach der ersten Viertelstunde sind zwei Treffer gefallen, Raul brachte Real in Führung, doch Innenverteidiger Lucio stellte den Ausgleich wieder her. Dann folgte die 45. Minute – Roberto Carlos wird auf dem linken Flügel geschickt und spielt die hohe Flanke in die Mitte zu Zinedine Zidane, der den Ball an der Strafraumgrenze direkt übernimmt und in die Maschen haut – ein Traumtor, welches jedem Leverkusen-Anhänger bis heute noch weh tut.

Die "Werkself" vergeigt die dritte Titelchance innerhalb weniger Tage und kann sich letztlich für ihre wohl beste Saison der Vereinsgeschichte nicht belohnen. Vor allem ein Mann musste für das Image des "Ewigen Zweiten" gerade stehen - Michael Ballack. Ihm wurde vorgeworfen, in wichtigen Spielen regelmäßig auszulassen, wenn nicht sogar zu versagen.

Verlorener WM-Titel, Beinahe-Abstieg und weiterer Vizetitel

Ein weiterer unrühmlicher Punkt in dieser Spielzeit – Ballack, Bernd Schneider, Carsten Ramelow, Oliver Neuville und Hans Jörg Butt sollten nur wenige Wochen später erneut in einem Finale stehen, diesmal aber für die deutsche Nationalmannschaft bei der WM 2002 in Japan und Südkorea. Der Gegner? Rekordweltmeister Brasilien mit Teamkollege Lucio. Doch auch dieses Finale sollten sie verlieren, nur Lucio stand am Ende als einziger Leverkusner mit einem Titel da.

Was folgte, war ein Jahr voller Turbulenzen und beinahe der Abstieg, den man erst am 32. Spieltag abwenden konnte. Seitdem folgte ein weiterer Vizetitel in der Bundesliga-Saison 2010/11 unter Jupp Heynckes, in der man allerdings gegen dominante Dortmunder kaum Chancen hatte.

Auch zwei Finalis im DFB-Pokal konnte die "Werkself" für sich verbuchen, beide verlor man allerdings: 2008/09 ging Werder Bremen nach einem denkbar knappen 1:0-Erfolg mit dem Pokal nach Hause, in der vergangenen Saison wurde der Erfolgslauf Bayers von übermächtigen Bayern (2:4-Niederlage) gestoppt.

Aussortierte Spieler bringen Bayer voran

Wir sind mittlerweile in der heurigen, durch Corona bestimmten, Saison gelandet. Leverkusen erwischt einen mittelmäßigen Start in die Liga, holt allerdings drei Remis gegen starke Gegner – Wolfsburg (0:0), Leipzig (1:1) und Stuttgart (1:1) knöpfen der Elf von Trainer Peter Bosz Punkte ab.

Danach folgt aber ein Erfolgslauf sondergleichen, der die "Werkself" letztendlich sogar auf Tabellenplatz eins spülen sollte. Die Rheinländer feiern acht Siege aus neun Spielen, nur mit Hertha BSC trennt man sich unentschieden.

Somit steht Leverkusen vor dem Kracher-Duell mit dem FC Bayern München nach zwölf Spieltagen ungeschlagen da und führt die Tabelle mit 28 Punkten und einem Zähler Vorsprung auf etwas schwächelnde Münchner an.

Mittendrin sind die ÖFB-Legionäre Julian Baumgartlinger und Aleksandar Dragovic, die derzeit, auch aufgrund von Verletzungen, gesetzt sind und durchaus aufzeigen können. Dabei standen die Zeichen vor allem für Dragovic bis vor kurzem noch auf Abschied, gab es doch hinlänglich Gerüchte über Interesse von Roter Stern Belgrad, oder generellen Abwanderungsgelüsten aufgrund mangelnder Spielzeit des Ex-Austrianers.

Doch Bayer-Sportchef Simon Rolfes schob einem möglichen Abgang erst kürzlich den Riegel vor: "Drago bleibt, spielt richtig gut und ist sehr entschlossen. Auch für ihn gilt: Bei uns wird jeder Spieler gebraucht." Immerhin stellt die "Werkself" auch dank ihm und Baumgartlinger mit nun zwölf Gegentreffern die zweitbeste Defensive der Liga.

Und auch die Offensive glänzt dank einer Leistungsexplosion von Spielern wie Lucas Alario (acht Treffer), Leon Bailey (vier Tore und fünf Assists) sowie Patrik Schick (vier Treffer, eine Vorlage). Aber: Auch hier stellt Leverkusen "nur" die zweitbeste Offensive der Liga. Derzeit hängt also nur der Titel "Vize" im Hause der Rheinländer.

Eines haben die fünf genannten Spieler auch gemeinsam. Sie waren die letzten Jahre kaum als Stammspieler gesetzt. Sei es aufgrund von Verletzungen, Sperren oder mangelnder Leistungen. Alle Spieler galten als aussortiert, sollten möglicherweise schon abgegeben werden. Nun sind es genau sie, die die Abgänge von Kai Havertz und Kevin Volland wettmachen, oder Verletzungspausen in der Defensive überbrücken. 

Hartes Programm in den kommenden Wochen

Und vor allem ein Spieler überzeugt in allen Maßen, auch angesichts seines Alters – Florian Wirtz.

Der 17-Jährige kam erst zu Beginn des Jahres aus der Kölner Jugend, also vom direkten Rivalen, nach Leverkusen und konnte sich nach der Corona-Pause in den Reihen der "Werkself" festspielen. Zwei Tore und vier Assists in der Bundesliga, zwei Treffer und eine Vorlage in der Europa League, dazu an jedem fünften Tor Leverkusens mitbeteiligt.

Diese Statistiken beweisen, welch großes Talent in Wirtz steckt. Nicht umsonst fordern bereits viele Anhänger der DFB-Elf, dass der 17-Jährige in den Nationalteamkader berufen werden muss. Mit ihm hat Bayer den perfekten Havertz-Ersatz für schlappe 200.000 Euro vom direkten Rivalen geholt.

Nun stellt sich die Frage, ob der Mythos "Vizekusen" in dieser Saison endlich sein Ende findet. Die Chancen dafür stehen sehr hoch.

Sowohl in der Liga, als auch im Pokal und der Europa League ist der Mannschaft von Peter Bosz wohl alles zuzutrauen. Generell läuft es in Deutschland auf einen Dreikampf um den Meistertitel hinaus, zu unkonstant präsentieren sich zum Beispiel die kriselnden Dortmunder.

Im Wettrennen gegen Serienmeister Bayern München und Dominik Szoboszlais neuem Klub RB Leipzig werden vor allem die Wochen nach der sehr kurzen Weihnachtspause entscheidend sein.

Die kommenden Gegner bis zum Auftakt der Europa-League-Zwischenrunde Mitte Februar? Frankfurt, Bremen, Frankfurt (DFB-Pokal), Union Berlin, Dortmund, Wolfsburg, Leipzig, Stuttgart und Mainz.

Erst dann folgen die Duelle auf internationaler Ebene mit den Young Boys Bern, ein doch eher dankbarer Gegner für die "Werkself".

Aber: Bleibt Bayer bis zum Ende im Meisterrennen, wird es am 30. Spieltag vielleicht die Vorentscheidung in der Bundesliga geben, wenn man in München zu Gast ist. Spannend bleibt es aber bis zum Schluss, denn mit Dortmund ist der abschließende Gegner dieser Saison ein absoluter Kracher.

Im DFB-Pokal muss zuerst die Hürde Eintracht Frankfurt überwunden werden, auch keine allzu leichte Aufgabe gegen Adi Hütters Team. Und die Konkurrenz in der Europa League ist größer als wohl jemals zuvor, sind doch europäische Giganten wie Manchester United, der FC Arsenal, Tottenham Hotspur oder der wiedererstarkte AC Milan mit dabei.

Endet der Mythos "Vizekusen"?

Wenn die Partie gegen die Bayern aber eines gelehrt hat, ist es, dass Leverkusen in dieser Saison und der derzeitigen Verfassung mit absolut jedem Gegner mithalten kann.

Obwohl die Bayern am Ende eines anstrengenden Jahres etwas müde wirkten, war es doch Bayer, das zumindest in der ersten Spielhälfte die besseren Chancen vorfanden und nur durch unnötige Eigenfehler vielleicht nicht den Sieg, aber zumindest wichtige Punkte und die Winterkrone abgab.

Vielleicht ermutigende Details für Leverkusen? In den vergangenen zwei Spielzeiten stemmte der Wintermeister den Meistertitel am Ende der Saison nie in die Höhe.

Und die Bayern wirken in dieser Saison definitiv schlagbar, auch aufgrund der Abhängigkeit von Robert Lewandowski, der für 17 der 39 erzielten Tore verantwortlich ist.

Und ohne den Weltfußballer des Jahres 2020 hätte das Team von der Säbener Straße sagenhafte 13 Punkte weniger am Konto und würde mit nur 17 Punkten auf der neunten Position liegen. Die Münchner müssen also unbedingt hoffen, dass "Lewy" das kommende Jahr verletzungsfrei übersteht, sonst wird die neuerliche Mission Triple beinahe unmöglich werden.

Und Leverkusen bekäme endlich seine Chance, den Mythos "Vizekusen" ein für alle Mal abzulegen.

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