Warum der Radsport boomt:
Rivalität:
Denkt man an die herausragenden Zeiten einzelner Sportarten zurück, sind diese oft mit großen Rivalitäten verbunden. Sowohl Senna gegen Prost, Joe Frazier gegen Muhammad Ali als auch Federer gegen Nadal zeigten: Ein Sport ist vor allem dann richtig begeisternd, wenn sich zwei Ausnahmeathleten den Thron streitig machen.
Der Radsport befindet sich aktuell in einer dieser Phasen. Auf der einen Seite steht Pogacar, ein Alleskönner und Naturtalent, der auf jedem Terrain gewinnen kann und mit seinem aggressiven Fahrstil Rennen von vorne dominiert. Der Slowene ist charismatisch, humorvoll und erfreut sich sowohl bei Kollegen als auch in den Medien großer Beliebtheit.
Sein Gegenüber Vingegaard ist ein völlig anderer Typ. Der Däne ist eher introvertiert und scheut das Rampenlicht. Nach einem schweren Sturz bei der Baskenland-Rundfahrt war es fast ein Wunder, dass er drei Monate später am Start der Tour de France stand. Vingegaard konnte Pogacar zwar nicht Paroli bieten, doch ließ nichts unversucht und kam eindrucksvoll von seiner Karriere-gefährdenden Verletzung zurück.
Die Frage nach dem besten Klassementfahrer der Welt prägt den Diskurs seit nunmehr vier Jahren. Aktuell schlägt das Pendel klar Richtung Pogacar aus.
Persönlichkeiten:
Um dem Sport dauerhaft Attraktivität zu verleihen, benötigen Zuseher jedoch mehr als nur die oben beschriebene Rivalität. Die Tour 2024 wusste in dieser Hinsicht zu überzeugen. Denn trotz "Pogis" Dominanz wurde den Fans stets ein Spektakel geboten. Fast jede Etappe schrieb ihre eigene außergewöhnliche Geschichte, sei es eine emotionale, bewundernswerte oder kontroverse. Die Protagonisten sind dabei so verschieden und vielfältig wie lange nicht mehr:
Da ist etwa der 39-jährige Sprintstar Mark Cavendish, der eigentlich schon seine Karriere beenden wollte, schließlich doch noch ein Jahr dran hängte und nun mit seinem 36. Etappensieg den großen Eddy Merckx überflügelte.
Oder Biniam Girmay, der zunächst als erster dunkelhäutiger Afrikaner eine Tour-Etappe gewann, schließlich noch zweimal triumphierte, sich das Grüne Trikot des besten Sprinters schnappte und sein Heimatland Eritrea in Ekstase versetzte.
Oder Romain Bardet, Frankreichs langjährige GC-Hoffnung, der bei seiner letzten Tour de France einen versöhnlichen Abschied feierte und sich dank eines couragierten Angriffs am ersten Tag das Gelbe Trikot überstreifen durfte.
Das Peloton verfügt im Moment eine Fülle an polarisierenden und bewunderten Persönlichkeiten, auch abseits der Superstars. Wenn diese dann noch auf der größtmöglichen Bühne performen, schreiben sich die Storylines praktisch von alleine.
Mediale Aufmerksamkeit:
Seit 2019 liefert die Netflix-Serie "Formula 1 - Drive to Survive" Einblicke hinter die Kulissen der Königsklasse des Motorsports. Sehr nahbar, oft überdramatisiert und weitestgehend spannend erzählt, schaffte es die Doku über die Jahre hinweg, zahlreiche neue Fans an Land zu ziehen.
Ein ähnliches Ziel verfolgt der Radsport, auch wenn er mit dem Glamour und Glanz, Stars und Sternchen oder einfach der schlichten Faszination an schnellen Autos der Formel 1, nicht mithalten kann. Die Serie "Tour de France: Im Hauptfeld" verfolgt einen praktisch identen Ansatz wie "Drive to Survive" und will den Sport einem größeren Publikum näherbringen.
Bislang geht die Rechnung voll auf: Die ersten beiden Staffeln überzeugten sowohl eingefleischte Fans als auch "Neueinsteiger". Der Radsport hat sich in letzter Zeit von seinen traditionellen Ausprägungen befreien können und ist aufgrund dieser Offenheit zu einem wesentlich attraktiveren Produkt in der Medienlandschaft geworden.
"Auf einmal fahren alle Rennrad":
Abseits der professionellen Szene gibt es aktuell einen wahren Hype um das Rennrad. Das hobbymäßige Rennradfahren ist in den letzten Jahren ein immer beliebteres Ventil geworden, um dem Alltag zu entfliehen und die Natur zu entdecken. Auch gesellschaftspolitische Entwicklungen - wie der Klimawandel oder Mobilität - spielen dabei eine Rolle.
Zudem ist der Sport nicht mehr nur hauptsächlich Männern vorbehalten, sondern boomt vor allem bei Frauen und jüngeren Personen. "Auf einmal fahren alle Rennrad", titelte die "SZ" im April.
Davon profitiert auch der Profi-Zirkus. Wird ein Sport selbst betrieben, führt das mittelfristig zu einem gestiegenen Interesse an der Wettkampf-Szene. Dieser Trend ist im Moment deutlich zu beobachten und wird durch das Aufkommen neuer Idole wie Pogacar, Vingegaard oder Evenepoel verstärkt.
Wir müssen über Doping sprechen:
Trotz aller positiver Entwicklungen muss abschließend noch auf das große Thema "Doping" eingegangen werden. Dies verstärkt vielleicht nicht den behandelten "Radsport-Boom", doch scheint wieder einmal die Berichterstattung der letzten Wochen zu bestimmen.
Pogacars Leistungen sorgen nicht nur für Be-, sondern vor allem auch Verwunderung. Wie kann es sein, dass ein Fahrer die Konkurrenz derart in Grund und Boden fährt, dabei sämtliche Rekorde bricht und das alles noch mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit vollzieht? Der 25-Jährige sorgt für neue Maßstäbe, die selbst für Experten nur schwer fassbar sind.
Von Dopingskandalen ist der professionelle Radzirkus in den letzten Jahren eigentlich weitestgehend verschont geblieben. Einzig der Kolumbianer Miguel Angel Lopez, ein zweifacher Podiumgewinner bei Grand Tours, wurde 2024 rückwirkend für vier Jahre gesperrt.
Das Vertrauen in den Sport ist langsam, aber sicher, zurückgekehrt. Die "schmutzigen" Jahre und deren Protagonisten wie Lance Armstrong oder Jan Ullrich gehören der Vergangenheit an, während eine neue Generation an außergewöhnlichen Talenten und Persönlichkeiten ein neues - und hoffentlich sauberes - Kapitel des Sports schreibt. Doch dieses Vertrauen wird "dank" Pogacar nun wieder auf die Probe gestellt.
Pogacars Leistungen schaden dem Sport?
Warum werden Pogacars Leistungen so kritisch beleuchtet? Ein Beispiel:
Der Slowene bewältigte den Schlussanstieg der 15. Etappe auf das Plateau de Beille in 39:50 Minuten. Dazu fuhr er den knapp 16 Kilometer langen und im Schnitt 7,8% steilen Berg in einer unglaublichen durchschnittlichen Geschwindigkeit von 23,95 km/h hinauf.
Den bisherigen Rekord hatte der viel zu früh verstorbene Marco Pantani 1998 mit einer Zeit von 43:20 Minuten aufgestellt. 2007 benötigten Michael Rasmussen und Alberto Contador 44:08 Minuten. Alle drei wurden später des Dopings überführt, bzw. im Fall von Pantani jahrelang beschuldigt.
Der Vergleich mit historischen Daten ist immer schwierig, da sich vieles am Sport und vor allem die Rennräder stetig weiterentwickeln. Dennoch kommt der riesengroße Abstand für viele überraschend, zumal Pogacar auf der 19. Etappe zum Isola 2000 noch einen draufsetzte. Binnen weniger Tage rief der 25-Jährige die "beste und zweitbeste Kletterleistung aller Zeiten" ab.
Und tut dies, ohne im Ziel große Erschöpfung zu zeigen, während die Konkurrenz Minuten später völlig entkräftet die Linie überquert. "Warum sollten wir jetzt anfangen zu glauben, dass alle sauber sind", ist unter einem Post auf "X" zu lesen. Die Frage ist berechtigt, obwohl der Sport viel für seine Glaubwürdigkeit getan hat.
Radsport im Grenzbereich des Erlaubten
Auf der Suche nach Erklärungen kamen in den vergangenen Tagen neue Erkenntnisse ans Licht. Das US-Portal "Escape Collapse" berichtete über den Einsatz von Kohlenmonoxid-Kreislaufgeräten im UAE-Team sowie der Visma-Equipe. Beide Mannschaften räumten im Anschluss den Gebrauch ein.
Das Gerät wird zur Leistungsmessung nach Trainingslagern genutzt. Ob es auch leistungssteigernd und dadurch verboten werden sollte, wird sich zeigen. Dass sich der Radsport auf der Suche nach der optimalen Performance oft im Grenzbereich des Erlaubten bewegt, ist nichts Neues.
Mit Sicherheit sind die Daten eines Pogacar, Vingegaard und Evenepoel auch auf eine Kombination verschiedener Faktoren zurückzuführen: Wir sprechen von einer Generation an außergewöhnlichen Talenten, die von den neuesten Formen der Trainingssteuerung sowie weitreichenden Entwicklungen im Bereich der Ernährung profitieren kann.
Eine Generation, die mit ihren innovativen Rennanzügen auf den modernsten Rennmaschinen aller Zeiten sitzt, und dabei vom Fahrstil viele Anstiege weitaus aggressiver und mutiger in Angriff nimmt als in der Vergangenheit. Geraint Thomas, Sieger der Tour de France 2018, erklärte erst kürzlich in seinem Podcast, dass er froh sei, im nächsten Jahr aufzuhören, denn: "So wie heutzutage geraced wird, ist verrückt!"
Und somit bleibt abschließend zu sagen: Nach aktuellem Stand sollen Pogacar und Co. Glaube geschenkt werden. Nicht nur, weil ansatzlose Unterstellungen fehl am Platz wären, sondern vor allem, um die "Hype-Welle", die der Sport im Moment reitet, nicht abflachen zu lassen.