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Halbnackt, ausgehungert und ohne Manieren

Halbnackt, ausgehungert und ohne Manieren

Zusammengepfercht in einem kahlen Raum. Alle sind nur in Unterwäsche. Unweigerlich kommt einem das Bild von Schweinen in Massentierhaltung in den Sinn.

Der hinter dir schiebt dich nach vorne. Doch du kannst nicht ausweichen, weil kein Platz ist. Du könntest nicht einmal umfallen, selbst wenn du es wolltest.

Mit der Brust stehst du am Vordermann an. Während dir sein Achselschweiß-Geruch in die Nase steigt, spürst du im Nacken den Atem deines Hintermannes. Schwindel überkommt dich. Kein Wunder, seit etwa fünf Tagen hast du nicht mehr vernünftig gegessen, seit zwei Tagen kaum mehr etwas getrunken. Und das vielleicht Schlimmste: Die Uhr zeigt erst kurz vor sieben Uhr in der Früh.

Kannst du es spüren? Das unangenehme Gefühl, das ihn dir hochsteigt, wenn du dir dieses Szenario vorstellst? Judoka Hilde Drexler braucht das nicht, denn sie erlebt solche Situationen mehrmals pro Monat – und zwar bei der Abwaage am Morgen vor Weltcup-Turnieren.

Beinahe liebgewonnen

„Mit der Zeit gewöhnt man sich dran“, grinst die Wienerin, die bei der Weltmeisterschaft in Paris bis 63 kg am Donnerstag um Medaillen und „Big Points“ für die Olympia-Quali kämpft.

Das Abnehmen vor Wettkämpfen, das im Sportler-Jargon als „Gewichtmachen“ bezeichnet wird, ist für die 27-Jährige längst nicht mehr nur eine reine Notwendigkeit, sondern viel eher bereits ein Ritual, „das einfach dazugehört“. Mit knapp zwei Kilo „Übergewicht“ ist sie im Vergleich zu manchen Mitstreiterinnen aber ohnehin noch gut dran.

Woran sich die Heeressportlerin allerdings nicht gewöhnen will, ist das rauer werdende Klima während der Abwaage. „Viele fahren die Ellbogen aus, werden grob. Es geht drunter und drüber“, schildert die EM-Dritte von Istanbul.

Der Kampf ums letzte Kipferl

Dabei hat Drexler, der ÖJV-Teamchef Udo Quellmalz bei der WM einen Platz unter den Top-7 zutraut, als Frau noch Glück. „Bei den Burschen geht es um ein Vielfaches schlimmer zu.“

Da kann es schon mal vorkommen, dass beispielsweise Sportler über die Tische, die von den Funktionären zu Ordnungszwecken aufgestellt worden sind, klettern. Streitereien sind keine Seltenheit. „Dort herrscht Chaos.“

Hilder Drexler holte heuer mit Bronze ihre erste EM-Medaille

„Jeder will möglichst schnell auf die Waage, um dann endlich beim Frühstück etwas essen zu können“, erklärt Drexler. Die Redewendung von der Schlacht am Frühstücksbuffet kann dort getrost sprichwörtlich genommen werden. „Einige bunkern das Essen, als würden sie in den Krieg ziehen.“

Auf die Fassade konzentriert

Es sind aber weniger die Manieren zu Tisch, über die sich die Germanistik-Studentin  ärgert, sondern die schlechte Organisation des Wiegens. Zumeist herrscht etwa Ungewissheit, ob Gewichtsklasse für Gewichtsklasse oder quer durch den Gemüsegarten gewogen wird. Bei kurzfristigen Alleingängen der Kampfrichter, die alles überwachen, ist Frust bei den Athleten, die nur wenige Stunden später Höchstleistungen bringen sollen, vorprogrammiert.

„Das größte Problem ist, dass meistens zu wenige Waagen da sind. Oft kommt ein Gerät auf knapp hundert Sportler“, hofft sie inständig auf eine Besserung der Situation. „Schließlich hat der Weltverband die Organisatoren der Turniere in den vergangenen Jahren gezwungen, dass nach außen hin alles tipp topp stimmt, doch was hinter den Kulissen abläuft, scheint sie nicht zu interessieren.“

Ein frommer Wunsch, steht mit Paris doch die teilnehmerstärkste Weltmeisterschaft in der Geschichte des Judos ins Haus.

Reinhold Pühringer