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Halvor Egner Granerud - der Phönix aus der Asche

Vom Beinahe-Karriereende zum neuen norwegischen Skisprung-Superstar:

Halvor Egner Granerud - der Phönix aus der Asche Foto: © GEPA

Extrovertiert, emotionsvoll, selbstbewusst und fokussiert – nein, die Rede ist hier nicht vom kommenden Wintersport-Star Österreichs, sondern vom norwegischen Skisprung-Dominator Halvor Egner Granerud.

Vor allem bei den erstgenannten Charaktereigenschaften denkt wohl kaum einer an einen Skandinavier. Die sind doch eher bekannt als kühl, reserviert und wortkarg. Granerud hingegen ist das genaue Gegenteil. Zumindest privat. Geht es auf die Schanze, zeigt sich die norwegische Kaltschnäuzigkeit, die dieses Wintersportland derzeit so stark macht.

Am vergangenen Wochenende feierte der Norweger seinen vierten bzw. fünften Saisonsieg in Folge, seit dem zweiten Springen in Kuusamo ist der 24-Jährige ungeschlagen. Nur die Skiflug-Weltmeisterschaft stellt einen kleinen Makel in einer bisher tadellosen Saison dar, verpasste der aus Oslo stammende Granerud die Goldmedaille doch bloß um 0,5 Punkte. 

(Artikel wird unter dem Video fortgesetzt)

Sieggarant im Teamfliegen

Foto: © GEPA

Dafür sicherte er sich eben jene im Teamfliegen mit seinen Mannschaftskollegen.

19,2 Zähler Vorsprung hatte das Team von Cheftrainer Alex Stöckl auf die Zweitplatzierten Deutschen. Dabei lag Deutschland vor den letzten Springern mit 14,6 Punkten vor den Skandinaviern.

Vor Granerud ließ Stöckl um zwei Luken verkürzen, der Norweger musste nun mindestens 228 Meter fliegen, um die daraus resultierenden Bonuspunkte zu erhalten.

Eine extrem mutige, aber letztlich richtige Entscheidung. Der 24-jährige Überflieger bestätigte seine starke Form mit einem Flug auf 234,5 Meter und holte über 30 Punkte auf Deutschland auf.

Beinahe das Karriereende

Vor gut einem Jahr war dies aber noch undenkbar. Nach der stärksten Weltcupsaison 2018/19, die er nach drei Platzierungen unter den besten fünf auf dem 15. Gesamtplatz beendete, folgte im vergangenen Winter der Absturz, sogar das Karriereende stand kurzzeitig im Raum.

Vor dem Saisonauftakt im polnischen Wisla erfährt Granerud auf der Pressekonferenz des norwegischen Teams, dass sein Name nicht auf der Liste der sechs Springer steht, die nach Polen reisen.

Rückblickend dazu sagt der 24-Jährige in einem Interview mit dem norwegischen Rundfunk (NRK): "Es war schwer. Das Schlimmste war, im Fernsehen ein Springen zu sehen, an dem ich nicht teilgenommen habe. Ja, dann musste ich rausgehen und etwas anderes machen."

Der Norweger steigt daraufhin in den Continental-Cup, quasi dem B-Weltcup des Skisprungzirkus, um. Der Weltcupauftakt auf der Normalschanze von Vikersund verläuft miserabel. Nur Platz 40 erreicht der Überflieger in seiner Heimat, auch in den weiteren Bewerben geht es für den 24-Jährigen einfach nicht nach vorne.

Granerud erinnert sich zurück: "Es war ein ziemlich dunkler Winter. Viel handelt von der falschen Technik. Irgendwann ist es selbstverständlich zu fragen, ob die Karriere beendet ist. Und kurzfristig war es das auch. Ich habe letztes Jahr mitten im Winter eine Pause gemacht. Eine Woche war ich kein Skispringer", betont er.

"Aber ich hatte vor, dass ich nach dieser Woche wieder Skispringer werden würde", fügt der Osloer hinzu. Erst im Februar kehrte der Norweger im rumänischen Rasnov in den Skisprung-Weltcup zurück und zeigte sich formverbessert. Am zweiten Wettkampftag holte er seine ersten Punkte.

Der Turnaround

Zum Auftakt der Raw-Air-Tour in seiner Geburtsstätte Oslo kommt der 24-Jährige nicht über die Qualifikation hinaus, wird gar nur 55. Von 65 Springern, liegt über 30 Punkte hinter den Besten. Die Saison ist daraufhin beendet.

"Mir ist aufgefallen, dass es sehr schwierig war, bereit für die Saison zu sein. Es war sofort ein Neustart", berichtet Granerud rückblickend. Der Norweger hat nun ein Ziel: Den Turnaround. Er will der Beste sein, Titel gewinnen. 

Cheftrainer Alex Stöckl erzählt im LAOLA1-Interview über eine E-Mail seines Schützlings an das Trainerteam: "Er hat uns im Prinzip die Frage gestellt, woran er arbeiten soll und was wir glauben, was fehlt. Wir haben das im Trainerteam besprochen und ihm eine ausführliche Antwort geschrieben. Damit war er dann sehr zufrieden und er hat sich das auch zu Herzen genommen."

Granerud startet daraufhin mit dem Training, nimmt sich die klare Botschaft seines Trainers, dass ihm sowohl technische Stabilität fehlt als auch er im Körper zu steif ist, zu Herzen und arbeitet am Turnaround.

Im NRK-Interview gibt der Norweger preis: "Ich habe das Gefühl, diesen Sommer wieder Skispringen gelernt zu haben." Und das merkt man dem Norweger auch an – das erste Kräftemessen der Saison gestaltet er erfolgreich, holt sich Silber bei den norwegischen Sommer-Meisterschaften in Trondheim.

Nur wenige Wochen später, bei den nachgeholten norwegischen Meisterschaften, glänzt Granerud erneut mit dem zweiten Platz und den Sieg im Team.

Der erste Weltcupsieg und dann läuft das Radl

Granerud nach seinem ersten Weltcupsieg in Kuusamo
Foto: © GEPA

Angesprochen auf die Nominierung des 24-Jährigen sagt Stöckl: "Er hat im Sommer wieder gut gearbeitet. Im Vergleich zum Vorjahr hat er es geschafft, ein bisschen ganzheitlicher zu denken was das Training betrifft. Er ist ein sehr intelligenter Bursche, aber er ist oft sehr detail-fokussiert und hat sich speziell im Vorjahr ziemlich verlaufen, weil er einfach das große Ganze aus den Augen verloren hat. Das hat er heuer anders gemacht, er hat gut gearbeitet. Er ist ein sehr professioneller Athlet mit einem durchorganisierten Tagesablauf."

Schon beim Teamspringen ist er der stärkste Norweger, bestätigt dies auch mit Rang vier im Einzel-Bewerb. Auch beim ersten Springen in Kuusamo verpasst Granerud nur um 2,7 Punkte das Podest. Was aber darauf folgt, ist der Aufstieg des Phönixes aus der Asche.

Am 28. November, beim zweiten Springen von Kuusamo, steigt Granerud erstmals auf das Weltcup-Podest und darf sofort aufs oberste Treppchen steigen. 

Dem folgt der erste Doppelsieg in Nizhny Tagil, Silber im Einzel und Gold im Team bei den Skiflug-Weltmeisterschaften in Planica und der Doppelsieg am vergangenen Samstag und Sonntag in Engelberg, der Generalprobe für die kommende Vierschanzentournee, bei der er nun der große Favorit auf den Gesamtsieg sein wird.

Für den Cheftrainer der norwegischen Skisprung-Herren kommt diese Explosion allerdings nicht überraschend: "Wir haben ja gewusst, dass er Potenzial hat. Letzten Winter war er komplett weg, aber das hatte technische Gründe. Wir haben ihn dann trotzdem in die Mannschaft genommen, weil wir gewusst haben, dass er hohes Potenzial hat. Und das bestätigt er jetzt, dass wir ihn nicht haben fallen lassen."

Weltmeister? Anfangs absurd, nun denkbar

Dabei muss man nochmal in den vergangenen April zurückblicken, um vielleicht das Erfolgsrezept des 24-Jährigen herauszufinden. Denn ein Mann hat großen Anteil daran, dass Norwegen einen neuen Skisprung-Superstar bejubeln darf – Christian Meyer.

Der norwegische Ex-Skispringer ist der Coach der Skisprung-Damen seiner Heimat, führte unter anderem Maren Lundby an die Weltspitze heran, die die letzten Jahre regelrecht dominierte und dreimal en suite den Gesamtweltcup für sich entschied.

Meyer ist aber auch der Trainer von Granerud und stellte seinem Schützling im Frühling eine Herausforderung – er soll bei den nordischen Ski-Weltmeisterschaften in Oberstdorf (23. Februar bis 7. März 2021) Weltmeister werden. Angesichts seiner damaligen Verfassung, ein Ding der Unmöglichkeit, ein fast schon absurdes Ziel.

Wenige Monate später, scheint es sogar realistisch. "An den besten Tagen kann ich einige Weltcupspringen gewinnen. In den letzten Wochen habe ich erkannt, dass ich auch die Weltmeisterschaft insgesamt gewinnen kann", sagt ein selbstbewusster Granerud.

Auch der 47-jährige Stöckl ist der Meinung, dass dem 24-Jährigen alle Türen offen stehen: "Wenn er es schafft, wie jetzt zu springen, wird er es tun. Er ist reif genug und hat Erfahrung. Es ist erfreulich das zu sehen, nach all dem was er durchgemacht hat."

Schreibt Granerud sogar Geschichte?

Der 24-Jährige mutierte über den vergangenen Sommer zum neuen Überflieger, dem Skisprung-Superstar Norwegens.

Die Chancen stehen hoch, dass er der vierte Athlet in der Vierschanzentournee-Geschichte werden könnte, der bei allen vier Stationen gewinnt. Auch innerhalb der Skisprung-Elite ist man sich einig, dass Granerud der große Favorit auf den Tournee-Sieg sein wird.

Siegt er zumindest beim Auftakt in Oberstdorf und in Garmisch-Partenkirchen, verewigt sich Granerud sogar in den Geschichtsbüchern – sieben Siege in Serie gelangen bisher noch keinem.

Nur Janne Ahonen, Thomas Morgenstern, Gregor Schlierenzauer und Ryoyu Kobayashi erreichten bisher sechs Erfolge am Stück, ein Siebenter blieb ihnen verwehrt.

"Verrückter Vogel" und die Lockerheit eines Überfliegers

Foto: © GEPA

Der Norweger könnte also in den kommenden Wochen in ganz neue Sphären empor stoßen. Und mit seiner Lockerheit abseits der Schanze, ist der 24-Jährige ganz nebenbei sogar zum Publikumliebling geworden. Denn er ist es, der der Skisprung-Szene mit seiner eigenen Art etwas ganz Spezielles verleiht.

Nicht umsonst wird Granerud oft als "verrückter Vogel" bezeichnet. Auch Stöckl stimmt dem zu: "Ja, das stimmt schon. Er ist grundsätzlich ein sehr spielerischer Typ. Er ist sehr intelligent, an vielen Dingen interessiert, wissbegierig. Ich glaube, das ist eine gute Mischung."

Das Erfolgsrezept des 24-Jährigen? "Ich versuche es locker anzugehen, mir nicht zu viele Gedanken über meinen Sprung zu machen", gibt er erst kürzlich in einem TV-Interview mit dem ARD preis.

Es scheint sich ein neuer Wintersport-Superstar in Norwegen zu entwickeln. Einer, mit dem die Skandinavier bestimmt ganz viel Freude haben wird. Einer, der wohl auch der restlichen Konkurrenz den letzten Nerv ziehen wird.

Bei der kommenden Vierschanzentournee kann er beweisen, warum sich jeder den Namen Halvor Egner Granerud einprägen sollte. Denn eines ist klar – der Schritt vom vorzeitigen Karriereende bis zum Eintrag in die Geschichtsbücher ist wohl nur ein kleiner.

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