"Was schreiben wir zu dieser Partie?"
Fragende Blicke dominierten die Gesichter der heimischen Journaille. "Pfuh - keine Ahnung", erwiderte einer. Die Szenerie spielte am 14. Mai 2024 in Prag, Österreich bestritt gegen Kanada das dritte Gruppenspiel der Weltmeisterschaft.
Nach zwei Dritteln war die Messe eigentlich gelesen. Der 28-fache Weltmeister führte gegen eine tapfer kämpfende, jedoch klar unterlegene rot-weiß-rote Auswahl mit 6:1.
Nichts, aber wirklich gar nichts deutete darauf hin, dass an diesem Abend noch Eishockey-Geschichte geschrieben werden würde. Aber Sport kann verrückt sein - jener mit zwei Kufen, einem Schläger und einer Hartgummischeibe ganz besonders.
Der Wahnsinn nimmt seinen Lauf
In der Angst, von den "Ahornblättern" völlig abgeschossen zu werden, richtete Teamchef Roger Bader einen Appell an die Mannschaft: Genießt dieses letzte Drittel. Mit dieser Ansprache in der zweiten Drittelpause wurden "die Fesseln gelöst".
Und die Geschichte nahm ab der 44. Spielminute ihren Lauf. Benjamin Baumgartner vollendete einen von Peter Schneider iniitierten Konter wunderbar zum 2:6. Verhaltener Jubel - auch auf der Medientribüne.
54 Sekunden später betrug der Rückstand nur mehr drei Tore. Diesmal war es Schneider, der nach Zuspiel von Dominic Zwerger selbst abschloss.
Kanadische Ratlosigkeit
Die Kanadier würden doch nicht völlig einbrechen? "Nein, jetzt werden sie richtig wütend sein", war der Konsens unter den Kollegen.
"Ich habe zu den Kanadiern auf die Bank rübergeschaut - diese Weltklasse-Spieler waren komplett ratlos."
Einige waren überhaupt bereits zurück ins Medienzentrum gegangen, um ihre Berichte pünktlich mit Spielende abschicken zu können. Von dort sahen sie, wie Kanada zunehmend in einen Schockzustand geriet.
"Ich habe zu den Kanadiern auf die Bank rübergeschaut - diese Weltklasse-Spieler waren komplett ratlos", erinnert sich Schneider gegenüber LAOLA1 ein Jahr später wohlwollend zurück.
Zwergers Hammer und finstere Mienen
Die Bader-Truppe hatte hingegen Lunte gerochen.
Als Dominic Zwerger den NHL-Goalie Jordan Binnington mit einem knallharten Schlagschuss ins kurze Eck düpierte, wurden die Dämme leicht angebrochen. Dieses Tor habe er sich später noch oft angesehen, erzählt der Schweiz-Legionär.
Kanadas Head Coach Andre Tourigny blickte mit finsterer Miene auf den Videowürfel der O2-Arena, 9:19 Minuten waren noch auf der Spieluhr - 4:6 der Zwischenstand. 3:0 für Österreich im dritten Drittel. Das war alleine schon ein großer Erfolg.
Doch es war ein Knistern in der Luft. Die Stimmung war am Siedepunkt, das Momentum auf Österreichs Seite. "Das ist das Tolle am Sport. Man kann sich oft nicht erklären, warum das auf einmal kommt", sagt Schneider.
Zwickt's mi, i man i tram
"Was ist mit den Kanadiern passiert?", fragte Kommentator Daniel Warmuth während der Live-Übertragung des ORF. Nur um Sekunden später in Ekstase zu verfallen: "Nächste Chance, Schneider - Toooooooooooor! Des gibt's ned."

Auch beim Schreiber dieser Zeile, der erst am Abend zuvor in Prag ankam, herrschte Fassungslosigkeit. Was geschieht hier? Frei nach Wolfgang Ambros: "Zwickt's mi, i man i tram" - nein, das ist tatsächlich die Realität, ich bin auf dem Weg nach Tschechien nicht in einem Paralleluniversum gelandet.
Teamchef Bader hatte zu diesem Zeitpunkt bereits überlegt, Goalie David Madlener für einen sechsten Feldspieler vom Eis zu holen.
"Tooooooooooooooooooooooooor!!! Ha ha ha"
Dies machte er mit Anbruch der Schlussminute. Auf der Spielfläche geschah zur gleichen Zeit das Unfassbare.
Marco Rossi spielte die Scheibe tief in die Rundung, Dawson Mercer holte sie und gab sie weiter an Kaiden Guhle. Der kanadische Defender leistete sich den folgenschweren Fehler, nahm den Puck nicht sauber an und servierte ihn direkt für Rossi.
Der NHL-Legionär zog vor das Tor, umspielte Binnington und hob das Spielgerät mit der Rückhand unter die Latte. "Tooooooooooooooooooooooooor!!! Ha ha ha" - dieser Torschrei von Daniel Warmuth ging in die österreichische Fernsehgeschichte ein.
Manchmal gibt es einfach keine Erklärung
Die Sensation war perfekt. Österreich machte gegen den Rekordweltmeister Kanada innerhalb von 20 Minuten ein 1:6 wett. Es ist die größte Aufholjagd in der über 100-jährigen Geschichte der Eishockey-Weltmeisterschaft.
"Alles, was wir berührt haben, ist zu Gold geworden."
"Es war ein absoluter Wahnsinn, wie in Trance. Wir hatten unglaubliches Selbstvertrauen und wussten, dass die Spielzüge aufgehen. Und natürlich hatten wir auch das nötige Glück", strahlt Schneider noch heute über beide Ohren. Zwerger ergänzt: "Alles, was wir berührt haben, ist zu Gold geworden."
Eine Erklärung für dieses Stück österreichische Sportgeschichte zu finden, ist schwierig. "Jeder, der Sport einmal auf einem hohen Level betrieben hat, wird bestätigen können, dass man sich einfach nicht erklären kann, wieso das manchmal so ist und manchmal eben genau umgekehrt", so Schneider.
Der Torjäger führt aus: "Es gibt einfach so Spiele oder Drittel, wo alles genau so passiert, wie man es will - oder sogar noch besser. Das war der Fall."
Dass den Kanadiern die absolute Blamage erspart blieb, dafür sorgte Kapitän John Tavares in der Overtime. Der NHL-Star überwand Madlener nach 15 Sekunden und erzielte damit das zweitschnellste Tor in einer Verlängerung in der WM-Geschichte.
Wieder wartet das Mutterland des Eishockeys
Ein Jahr später dürfen sich Österreichs Spieler am Donnerstagabend (20:20 Uhr im LIVE-Ticker >>>) auf der großen WM-Bühne erneut mit dem Mutterland des Eishockeys messen.
Die Erinnerungen kommen freilich wieder hoch, dürfen jedoch nicht Überhand nehmen. Schneider mahnt: "Dass das nochmal passiert, ist sehr unwahrscheinlich. Es wäre falsch zu denken, wir schießen gegen Kanada nochmal fünf Tore im letzten Drittel."
Stattdessen soll verhindert werden, wieder 1:6 in Rückstand zu geraten. "Wir wollen von Anfang an defensiv gut stehen und schauen, dass es hoffentlich nicht passiert", sagt der 34-Jährige.
Aber: "Wenn es passiert, dann werde ich mir vielleicht in der Drittelpause die Bilder anschauen und mich daran zurückerinnern."