Wir schreiben das Jahr 1976: Mit dem Tod von Mao Zedong endet die Kulturrevolution in China, die Tschechoslowakei wird Fußball-Europameister und Mark Edmondson gewinnt als Nummer 212 der Welt als letzter Australier den Herren-Einzel-Titel bei den Australian Open.
42 Jahre keimen langsam wieder leichte Hoffnungen auf ein Ende der Durststrecke auf.
Nach dem Turniersieg von Nick Kyrgios in Brisbane, seinem ersten auf australischen Boden, sehen viele Landsleute den gefürchteten Bad Boy als aussichtsreichen Titelkandidaten – obwohl es der 21-jährige seit den Australian Open 2015 nicht mehr ins Viertelfinale eines Grand-Slam-Turniers geschafft hat.
Starke Leistung gegen Dimitrov
Vor allem seine eindrucksvolle Vorstellung im Brisbane-Halbfinale gegen Masters-Sieger Grigor Dimitrov zeigte erneut das extrem große Potenzial des extrovertierten Australiers.
„Wir setzen in Melbourne große Hoffnungen in ihn und die Auslosung schaut nicht schlecht aus, obwohl im Raster einige gefährliche Spieler in seiner Nähe sind“, meint Wally Masur, der Präsident des australischen Tennis-Verbands.
Kyrgios trifft in der ersten Runde auf den Brasilianer Rogerio Dutra Silva. In der dritten Runde könnte es zu einem Next-Generation-Duell gegen Denis Shapovalov oder Stefanos Tsitsipas. Erst danach wartet dem Papier nach mit Jo-Wilfried Tsonga ein erster großer Name.
Rückenwind von Cash und Hewitt
Rückenwind erhält die aktuelle Nummer 17 der Welt auch vom ehemaligen Wimbledon-Sieger Pat Cash und dem australischen Davis-Cup-Kapitän Lleyton Hewitt, der als letzter Australier im Endspiel stand, 2005 aber gegen den Russen Marat Safin verlor.
„Nick hat in Brisbane schon im Davis Cup gegen die USA sehr gut gespielt und deshalb ist er dort auch mit sehr viel Selbstvertrauen angetreten. Er hat sich im Wochenverlauf steigern können und vor allem sehr gut serviert“, analysierte Hewitt.
Wobei der ehemalige Weltranglisten-Erste auch festhält, dass der Druck durch den Turniersieg in Brisbane nicht kleiner geworden ist.
„Es ist für Nick sicherlich eine große Erleichterung, seinen ersten Titel in Australien geholt zu haben“, so Hewitt, der bereits als 16-Jähriger sein Heim-Turnier in Adelaide gewinnen konnte. „Durch den Turniersieg steigen aber auch die Erwartungen in ihn. Der Druck wird noch größer werden, sobald er nach Melbourne kommt.“
Cash sieht "Außenseiter-Chancen"
Für Cash steht fest, dass Kyrgios in jedem Fall „Außenseiter-Chancen“ auf den Titel halt. „Ich zweifle nicht daran, dass Nick irgendwann den großen Durchbruch schaffen wird. Ich weiß nur nicht, ob sein Körper schon jetzt über sieben Fünf-Satz-Matches in Folge durchstehen kann.“
Möglicherweise sei dies aufgrund seines starken Aufschlags und Spielstils aber auch gar nicht nötig. „Er hat das Spiel dazu, seine Gegner richtiggehend vom Platz zu schießen. Er ist ein unglaubliches Talent und er wird schön langsam erwachsen – von Jahr zu Jahr wird es ein bisschen besser.“
Philippoussis ist skeptisch
Diesbezüglich eher skeptisch äußerst sich mit Mark Philippoussis eine weitere ehemalige australische Tennis-Legende. „Ja, er ist ein unglaubliches Talent – aber seien wir uns ehrlich, das zählt am Ende nicht“, meinte der frühere Weltranglisten-Achte und ehemalige US-Open-Finalist.
„Von den Top-Spielern ist jeder talentiert. Und ab einem bestimmten Punkt kommt man nur weiter, wenn man härter trainiert und körperlich und mental stärker als der Gegner ist – vor allem bei einem Grand-Slam-Turnier kommt es darauf an“, sieht Philippoussis seinen Landsmann diesbezüglich in keiner guten Position.
„Er wird sicherlich noch einige Turnier gewinnen und bei manchen Grand-Slam-Turnieren in die zweite Woche oder ins Halbfinale kommen. Aber er ist mental und körperlich nicht so stark, dass er den Titel holen wird“, erklärt Philippoussis, der grundsätzlich nichts gegen Kyrgios hat. „Ich drücke ihm auch die Daumen, aber so ehrlich muss ich bei meiner Analyse sein.“
Kyrgios will Experten-Stimmen ausblenden
Der polarisierende Kyrgios bekräftigt in jedem Fall, sich von beiden Parteien nicht aus der Konzentration bringen zu wollen. „Ich versuche alle Experten-Stimmen abzublocken. In der einen Woche sagen sie etwas Gutes, dann wieder etwas Böses. Deshalb will ich das alles eigentlich gar nicht hören.“
Es wäre allerdings nicht Kyrgios, wenn er zumindest nicht etwas über den möglichen Sensations-Titel in Melbourne nachgedacht hätte.
„Ich will versuchen, die nächsten Tagen in Melbourne zu genießen und bereit zu sein. Ich bin zuvor noch nie als Turniersieger zu den Australian Open gekommen und habe im Vorfeld auch noch nie so gut gespielt wie heuer. Wer weiß, was ich in den nächsten beiden Wochen hier anstellen kann“, philosophiert er mit seinem bekannt unberechenbaren Lächeln.