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Abebe Bikila: Barfuß durch Rom

Eine afrikanische Ikone - der Äthiopier schockte 1960 die ganze Welt.

Abebe Bikila: Barfuß durch Rom Foto: © getty

Es brauchte eine ganze italienische Armee, um Äthiopien zu erobern, doch es brauchte nur einen barfüßigen Äthiopier, um Rom zu erobern.

Abebe Bikila kam aus dem Nichts. Und in etwas mehr als zwei Stunden wurde er zur Ikone.

Bei den Olympischen Spielen von Rom 1960 lief der hagere Soldat aus Haile Selassies Leibgarde ohne Schuhe zu Marathon-Gold. Als erster Schwarzafrikaner überhaupt bestieg er bei Olympia die höchste Treppe des Siegespodests.

Es war der Höhepunkt eines ungewöhnlichen Lebens, das tragisch enden sollte.

Eine Kindheit im Dorf

Dabei hatte alles ganz gewöhnlich begonnen. Am 7. August 1932 gebar Woodenesh Beneberu ihren Sohn Abebe Bikila.

Im Dorf Jato, 130 Kilometer von der Hauptstadt Abbis Abeba entfernt, wuchs er gemeinsam mit einem Bruder und einer Schwester auf, wie man als Kind äthiopischer Bauern eben aufwächst.

Mit Vater Bikila Demissie wurden die Schafe gehütet, in der kleinen Kirche fand Schulunterricht statt. Eine Kindheit in Armut, aber nicht unglücklich.

Mussolinis Gräueltaten

Der geographischen Lage des Dorfes sei Dank. Denn in Teilen Äthiopiens wüteten seit dem 3. Oktober 1935 die Truppen des faschistischen Italiens.

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Benito Mussolini träumte von einer Wiedererstehung des Imperium Romanum und versuchte mit aller Kraft Äthiopien zu annektieren. Über 300.000 Soldaten marschierten in den Staat im Nordosten Afrikas ein.

Der Einsatz von Giftgas sowie Massenerschießungen standen an der Tagesordnung. Hunderttausende Äthiopier fielen dem Krieg zum Opfer, darunter unzählige Zivilisten.

Bikilas Familie war davon nicht betroffen, sie hörte nur von den schrecklichen Gräueltaten. 1941 endete die Annexion, britische Truppen befreiten mit Hilfe von Exil-Äthiopiern das Land, Kaiser Haile Selassie bestieg wieder den Thron.

Im Dienst des Kaisers

Im Alter von 17 Jahren beschloss Abebe, ihm zu dienen und heuerte beim Militär an. In der Kadetten-Schule glänzte der junge Mann in erster Linie durch sportliche Leistungen.

Bereits als Jugendlicher tat er sich als ausgezeichneter Schwimmer hervor. Ganna – eine Art Hockey-Spiel auf riesigem Gelände – war seine Leidenschaft.

Während der Ausbildung zum Gardisten kreuzte sich Bikilas Weg mit jenem von Onni Niskanen. Es sollte eine schicksalhafte Begegnung sein.

Der in Finnland geborene Schwede war 1946 ins Kaiserreich gekommen, um dort ein Schulsport-Programm einzuführen. Nebenbei arbeitete er als Journalist. In seiner Heimat war er begeisterter Langstreckenläufer, ehe ein sowjetischer Granatsplitter seine aktive Laufbahn beendete.

Die Entdeckung des Rohdiamanten

Als Niskanen den jungen Soldaten laufen sah, war ihm sofort klar, dass er einen Rohdiamant, den es zu schleifen galt, vor sich hatte. „Er war ein großartiges Talent. Ich wusste, dass er sich mit den Besten messen kann“, erinnerte sich der Skandinavier.

Er entdeckte das Talent 1958. Im Marathon-Ziel der Armee-Meisterschaften wartete er gemeinsam mit den Massen darauf, den damaligen Helden Wami Biratu als Sieger bejubeln zu dürfen. Doch es sollte Bikila sein, der das Rennen machte. 2:39,50 war die Siegerzeit.

Niskanen war sicher: Der Junge kann laufen! Kein Wunder, hatte er es doch immer schon getan. Ob beim Ganna-Spiel oder im Alltag. In Äthiopien war es schlichtweg üblich, auch große Distanzen zu Fuß zurückzulegen. Bikila lief etwa jeden Tag 40 Kilometer – 20 von daheim in die Kadetten-Schule und 20 wieder zurück.

Ein ausgeklügeltes Trainingsprogramm

Der Trainer nahm den Youngster unter seine Fittiche und zog mit ihm ein ausgeklügeltes Trainingsprogramm durch.

"Wenn er mit Schuhen lief, war sein Stil nicht perfekt. Außerdem machte er in der Minute fünf bis sechs Schritte weniger."

„Qualität ist im Training wichtiger als Quantität. Ich glaube, dass es besser ist, 10 Kilometer als 30 Kilometer zu laufen. Außerdem müssen die Einheiten abwechslungsreich sein, sonst erschafft man Roboter und keine Sieger“, beschrieb Niskanen seine Philosophie.

Bikila verbesserte sich rasch. Zwei Jahre später wurde er mit einer Laufzeit von 2:21,23 Stunden für den Olympischen Marathon von Rom angemeldet, nur etwas mehr als sechs Minuten über dem Weltrekord von 2:15,17, den Sergej Popov zu dieser Zeit hielt.

Die Konkurrenz nahm Niskanens Angaben nicht ernst. Vielmehr beobachtete sie mit einem breiten Grinsen, wie sich Bikila und seine beiden Landsleute Mamo Wolde sowie Said Mussa auf das Rennen vorbereiteten.

Ohne Schuhe an den Start

Das Trio trug keine Schuhe. Wie sollten diese Afrikaner denn die 42,195 Kilometer auf Roms Straßen barfuß überstehen? Niemand konnte sich das vorstellen.

Dass die Äthiopier ohne Schuhe an den Start gingen, hatte aber seine Gründe. Sie waren es gewohnt, so zu laufen. „Wenn er mit Schuhen lief, war sein Stil nicht perfekt. Außerdem machte er in der Minute fünf bis sechs Schritte weniger“, gab der Trainer zu bedenken.

Rhadi Ben Abdesselem, Marokkaner und einer der großen Favoriten, berichtete: „Ich war fasziniert von Abebes Fußsohlen. Sie waren stark und schwarz wie Kohle.“

Zum Erstaunen aller setzte sich Bikila bald mit einer Spitzengruppe ab. Die anwesenden Journalisten rätselten noch, wie man den Namen dieses Nobodys ausspräche, als nur noch Rhadi und der Äthiopier an vorderster Front liefen.

Die Zerstörung eines Mythos

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In diesen etwas mehr als zwei Stunden wurde der zu dieser Zeit geltende Mythos, Schwarze wären für Langstrecken nicht geschaffen, von Haile Selassies Leibgardisten in Grund und Boden gelaufen.

Es waren gespenstische Szenen in dieser Römer Nacht. Mit offenen Mündern standen Tausende Menschen an den Straßenrändern und beobachteten, wie im flackernden Licht der Soldaten, die mit Fackeln die Strecke beleuchteten, ein barfüßiger Äthiopier zum Sieg lief.

Zwei Kilometer vor dem Ziel blickte Bikila nach rechts und sah den Obelisk von Axum. 1937 hatte Mussolini dieses archäologische Prachtstück in Äthiopien ausgraben und in Italiens Hauptstadt vor dem ehemaligen Kolonialministerium aufstellen lassen.

Just an dieser Stelle zog der Schwarzafrikaner den Sprint an und ließ Rhadi förmlich stehen. Nach 2:15,16 Stunden überquerte er die Ziellinie. Weltrekord! Und das erste Mal in der Geschichte der Olympischen Spiele, dass ein Schwarzafrikaner Gold holte.

Ein staunender Arzt

Ein italienischer Arzt untersuchte den Triumphator unmittelbar nach dem Rennen und staunte nicht schlecht. Der Puls Bikilas betrug gerade einmal 88, und auch sonst zeigte er keinerlei Anzeichen von Müdigkeit. Blasen an seinen Füßen suchte der Mediziner ebenfalls vergeblich.

"Er ist eine afrikanische Ikone und mein persönlicher Held. Ohne ihn wäre ich immer noch ein Bauer in den Bergen von Arsi."

Haile Gebrselassie

Auf die Frage, wie lange er dieses Tempo denn noch durchgehalten hätte, antwortete der Athlet: „Zehn bis 15 Kilometer.“

Die Bedeutung dieses Erfolgs beschrieb die lebende Langstrecken-Legende Haile Gebrselassie Jahrzehnte später wie folgt: „Bevor die Gebrüder Wright erfolgreich ein Flugzeug erfunden haben, konnten die Menschen nicht fliegen. Die meisten glaubten nicht einmal, dass das möglich wäre. Jetzt schicken wir Raketen zum Mars.“

„In Afrika gab es vor Bikila keine erfolgreichen Läufer. Die meisten von uns glaubten nicht einmal, dass das jemals so sein würde. Jetzt gibt es Tausende von uns, die Rennen auf der ganzen Welt gewinnen.“

Gebrselassie weiter: „Er ist eine afrikanische Ikone und mein persönlicher Held. Ohne ihn wäre ich immer noch ein Bauer in den Bergen von Arsi.“

Der Strick drohte

Das sahen 1960 auch die Landsleute des Olympiasiegers so. Kaiser Selassie gab einen triumphalen Empfang. Wenig später sollte dem Läufer die Anerkennung des Herrschers das Leben retten.

General Mengistu Neway putschte gegen den Kaiser. Bikila, der mit Politik nichts am Hut hatte, musste sich als Leibgardist für eine Seite entscheiden. Es sollte die falsche sein. Der Putschversuch schlug fehl und alle daran Beteiligten wurden zum Tod durch den Strick verurteilt. Bikila aber wurde pardoniert.

So konnte sich der wortkarge Superstar auf die Spiele in Tokio 1964 vorbereiten. In der Zwischenzeit lief er drei  internationale Marathons, zwei davon beendete er siegreich. Doch die gewissenhafte Vorbereitung auf Japan sollte sechs Wochen vor dem Rennen ein jähes Ende finden.

Der Läufer musste sich einer Blinddarm-Operation unterziehen. Niemand hielt es für möglich, dass er rechtzeitig fit werden würde. Doch Bikila strafte die Allgemeinheit einmal mehr Lügen. Er wurde nicht nur fit, er gewann den Marathon auch. Diesmal in Schuhen.

Der Äthiopier lief ein einsames Rennen, niemand hatte auch nur den Hauch einer Chance. Nach 2:12,11 Stunden – ein neuer Weltrekord – durfte er sich zweifacher Olympiasieger nennen. Die 80.000 Menschen im Stadion staunten nicht schlecht, als Bikila nach dem Zieleinlauf minutenlang Lockerungsübungen durchführte. Von Erschöpfung abermals keine Spur.

Bei seiner Rückkehr in die Heimat sollte sich das Schauspiel von vor vier Jahren wiederholen. Jede Menge Pomp und Trara. Außerdem bekam er vom Kaiser persönlich einen VW Käfer. Ein verhängnisvolles Geschenk.

Die Aufgabe in Mexiko City

Doch vorerst ging der einzigartige Erfolgslauf weiter. Bis zu den Olympischen Spielen 1968 konnte der schier unschlagbar scheinende Langstrecken-Star alle drei internationalen Rennen, die er bestritt, für sich entscheiden.

In Mexiko City selbst ging er jedoch verletzt an den Start. Nach 15 Kilometern musste Bikila wegen eines Ermüdungsbruchs aufgeben. „Ich kann nicht mehr. Die Verantwortung, für Äthiopien zu gewinnen, liegt nun auf deinen Schultern“, raunte er seinem Teamkollegen Mamo Wolde zu. Dieser hielt dem Druck stand und holte Gold.

Der schwere Schicksalsschlag

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Es sollte Bikilas letzter großer Auftritt als Marathon-Läufer sein. 1969 schlug das Schicksal beinhart zu. Der Äthiopier hatte mit seinem VW Käfer einen schweren Autounfall. Sein Wagen überschlug sich, als er einer Gruppe demonstrierender Studenten auswich.

Kaiser Selassie schickte den Volkshelden zur Behandlung nach England. Doch auch dort konnte kaum etwas für ihn getan werden. Bikila war querschnittgelähmt. Bis vor kurzem trugen ihn seine Beine von Sieg zu Sieg, nun gar nicht mehr.

Doch Jammern war seine Sache nicht: „Es war Gottes Wille, dass ich bei Olympia gewonnen habe. Und es war Gottes Wille, dass ich diesen Unfall hatte. Ich habe diese Siege akzeptiert und ich akzeptiere diese Tragödie.“

Wenngleich er fortan im Rollstuhl saß, hatte er seinen Sportsgeist nicht verloren. Noch während seiner Therapie in Europa entdeckte der Äthiopier das Bogenschießen für sich. 1970 wurde er im Zuge eines Bewerbs für Querschnittgelähmte, an dem über 100 Schützen teilnahmen, Siebenter.

Zudem fand Bikila einen Weg, um seine Leidenschaft für Langstrecken-Bewerbe weiterhin ausleben zu können. In Norwegen fuhr er bei einem 25 Kilometer langen Hundeschlitten-Rennen zum Sieg.

Tod im Alter von 41 Jahren

Am 20. Oktober 1973 ging das Leben des zweifachen Olympiasiegers zu Ende. Er starb an einer Hirnblutung, die den Spätfolgen seines Autounfalls zugeschrieben wurde.

65.000 Menschen waren zugegen, als der herausragende Sportler zu Grabe getragen wurde.

Die Erinnerung an Abebe Bikila aber blieb. Der Äthiopier, der Rom barfuß bezwang. Und damit dem schwarzafrikanischen Selbstbewusstsein einen unschätzbaren Dienst erwies.

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