news

Geht der verirrte Stern in Ungarn wieder auf?

Wo, wenn nicht hier? Vieles spricht für eine Mercedes-Überraschung:

Geht der verirrte Stern in Ungarn wieder auf? Foto: © getty

Zwei Schätzfragen: Wie groß ist der WM-Vorsprung von Charles Leclerc auf George Russell? Und wie komfortabel jener von Ferrari auf Mercedes?

Leclerc, erster Herausforderer von WM-Leader Max Verstappen, hat gerade einmal 27 Zähler Polster auf den besser platzierten Mercedes-Piloten. Und Ferrari trennen nur 44 Punkte vom amtierenden Konstrukteurs-Weltmeister.

Doch während die Scuderia in beiden WM-Kämpfen steckt, werden die Silbernen im Niemandsland verortet. Eine Fehleinschätzung, die in der zweiten Saisonhälfte noch auffällig werden könnte.

 

Denn der Grand Prix von Frankreich wurde mit den Rängen zwei für Lewis Hamilton und drei für Russell zur Kampfansage, dass sich der Platzhirsch des letzten Jahrzehnts langsam wieder Rennsiegen annähert.

Nicht schnell, aber zuverlässig

Während den "Silberpfeilen" noch etwas an Speed fehlt, um die beiden Top-Teams unter normalen Umständen anzugreifen, beeindruckt Mercedes durch Beständigkeit.

Russells Ausfall beim Heimrennen war bislang das einzige Mal, dass ein "W13" nicht ins Ziel kam. Hamiltons 13. Platz in Imola die einzige Ankunft, die nicht in den Punkten endete.

Und gleich hinter Verstappen und Leclerc ist der siebenfache Weltmeister auch wieder der Fahrer der Stunde. Die letzten vier Rennen beendete der Brite allesamt auf dem Podest.

Das Potenzial des ersten Autos nach den neuen Regeln scheint limitiert zu sein. Dafür hat sich Mercedes jene Konstanz bewahrt, die etwa Ferrari im Rennen um einen Titel im Augenblick fehlt.

Werden vorne Fehler gemacht, war Mercedes ausnahmslos da - und diese gab es nun zuhauf.

Leuchtende Momente geben Hoffnung

"Wir wissen nicht so recht, was am Auto funktioniert und was nicht. Das ist das Problem."

Toto Wolff

Dazu hat ein größeres Update in Le Castellet noch nicht den erhofften Erfolg gebracht. Dass die Performance des "W13" auch schwer von der befahrenen Strecke abhängen kann, ist aber in der ersten Saisonhälfte schon augenscheinlich geworden.

Hoppelten die "Porpoising"-anfälligen Autos in Imola und Baku nur so herum, konnte Hamilton in Silverstone sogar in einen Kampf mit dem angeschlagenen Leclerc und Sergio Perez gehen.

Schon in Österreich klopfte Mercedes im Qualifying pacetechnisch an den vorderen Plätzen an, ehe beide Autos in der Bande landeten. Es war aber ein erster Funken der Hoffnung, dass noch einiges im Auto steckt.

Hamilton gegen den 300er-Fluch

Mit dem Hungaroring steht beim Grand Prix von Ungarn nun eine ganz eigene Strecke an. Eine, die Mercedes und vor allem Hamilton immer lag.

Acht Siege hat der Brite in Budapest zu Buche stehen, das ist Rekord. Neun Siege auf der gleichen Strecke gelangen überhaupt noch nie einem Fahrer.

Mit so einem Hintergrund wäre es nur eine Woche nach einem zweiten Platz seltsam, Hamilton nicht auf dem Zettel zu haben. Auch, wenn der 300. Grand Prix am vergangenen Wochenende eine gefährliche Marke darstellte: Keiner der anderen Fahrer, die diesen Meilenstein je erreichten, konnte danach noch einen GP-Sieg feiern.

Aktuell wartet Hamilton auch so lange wie noch nie auf einen Sieg. Selbst in den zwei schwierigsten Jahren seiner bisherigen Karriere, 2009 mit McLaren und 2013 im ersten Mercedes-Jahr, gelangen ihm GP-Triumphe. Der Höhepunkt kam dann jeweils ausgerechnet wo? In Ungarn.

Mercedes versteht das Auto nicht

Und nicht alle der 300er-Kollegen saßen danach in einem siegfähigen Auto. Ein solches muss der Mercedes erst wieder werden. Mittelfristig hat der Rennstall aber Ressourcen und Potenzial, wieder um Siege mitzufahren.

Der 300er-Fluch wird also mit großer Wahrscheinlichkeit gebrochen - und sei es nicht mehr in diesem Kalenderjahr.

Aktuell rächt sich jedoch die konzeptionelle Fehleinschätzung, auf die sich das Team bei der Umsetzung der 2022er-Regeln stützte. Der radikale Ansatz erwies sich als fehlerbehaftet, offen ist, wie viel durch Updates wirklich ausgemerzt werden kann.

"Wir wissen nicht so recht, was am Auto funktioniert und was nicht. Das ist das Problem", erklärte zuletzt auch Toto Wolff.

So gab es in Frankreich erst einmal lange Gesichter, als nach dem vielversprechenden Update erst einmal mehrere Zehntel Qualifying-Abstand zur Spitze blieben. Im Rennen lief es besser.

"Uns fehlen im Qualifying sechs bis sieben Zehntel auf den Leader. Wir bringen die Reifen nicht ins optimale Fenster und holen aus der ersten fliegenden Runde nicht das Optimum heraus. Im Rennen verlieren wir dann am Start drei Sekunden, aber sobald wir uns stabilisieren, ist es gar nicht so schlecht", lautete das jüngste Wolff-Resümee.

2023 ein WM-Dreikampf?

So bleibt der "W13" eine Wundertüte, die nicht einmal das eigene Team so richtig versteht. Aber zumindest eine zuverlässige.

Nicht ausgeschlossen, dass es auch 2022 noch einmal für ganz oben reicht - wenn alles im richtigen Moment zusammenläuft. Bei günstigem Rennverlauf, Fehlern der Konkurrenz oder auf einer kompakten Strecke wie dem Hungaroring etwa.

Fortschritte sind jedenfalls schwer zu leugnen und ein gewisses Maß an "Spaß an der Sache" bei allen Beteiligten zurück.

Dazu kommt die Sommerpause näher. Nach Ungarn wird erst Ende August in Belgien wieder gefahren. Vier Wochen hat Mercedes Zeit, den "W13" noch ein bisschen besser zu verstehen und nachzubessern.

Spätestens 2023 ist mit Mercedes wieder voll zu rechnen, wird aus dem WM-Duell hoffentlich ein Dreikampf. Unwahrscheinlich, dass die Silbernen an ihrem schwierigen Konzept festhalten und nicht einen anderen, erprobteren Weg einschlagen. Dann kann 2022 als Lernjahr abgebucht werden.

Symbiose statt Team-Fight

Und die Zukunft in Silber schaut wieder rosiger aus.

Hamilton zeigt noch keine Müdigkeitserscheinungen, auch die Wachablöse durch Russell tritt höchstens schleichend ein. Das am heißesten erwartete Stallduell entpuppt sich vorerst als Symbiose des gegenseitigen Pushens.

"George ist super positiv, er hat einen positiven Einfluss auf das Arbeitsumfeld. Es ist wirklich angenehm, mit ihm zu arbeiten und es ist toll, seinen Erfolg zu sehen. Ich sehe, dass er so viel Potenzial in sich hat - auch jenes, ein Weltmeister zu werden. Ob ich dabei sein werde oder nicht: Er hat alle Qualitäten, das Team in der Zukunft vorwärts und zu Erfolgen zu bringen. Es war die richtige Entscheidung, ihn ins Team zu holen. Ich hoffe, dass ich ein Teil sein kann, der ihm bei Fortschritten hilft", tönte es zuletzt von Hamilton in Richtung des 13 Jahre jüngeren Landsmannes.

In Südfrankreich stand das Duo erstmals gemeinsam am Podest. Dass auch der zweite Fahrer im Stall absolut siegfähig ist, wird durch seine Wartefrist auf den ersten vollen Erfolg nicht in Zweifel gezogen.

Wer weiß, wohin das Pendel in Ungarn ausschlägt. Der Hungaroring war in der Vergangenheit schon für Überraschungen gut. Für Hamilton. Und für Debütsieger.

Kommentare