In unserem Format "Ansichtssache" versuchen wir, Meinungen, Stimmungen, Überreaktionen oder sonstige Ansichten jeglicher Art in eine These zu packen und zu analysieren.
Das kann mal provokant sein, mal eine oft gehörte Meinung. Mal sehr strittig, mal weniger. Mal eine Prognose, mal eine simple Einordnung.
In der aktuellen Ausgabe behandeln wir die kommende Fußball-WM 2026, die in den USA, Mexiko und Kanada stattfinden wird. Zum ersten Mal in diesem Jahrtausend findet das Turnier in Nordamerika statt. Zuletzt war man 1994 in den USA und acht Jahre zuvor in Mexiko zu Gast.
Doch was dürfen wir von der 23. Ausgabe der WM erwarten? Erwartet uns ein Turnier, das für einen nachhaltig positiven Eindruck sorgen wird? Wie wird sich die WM auf den Fußball in den USA auswirken?
Zu diesem Anlass diskutieren die LAOLA1-Redakteure Harald Prantl und Alessandro Righi über folgende vier von der Redaktion ausgearbeitete Thesen:
1.) Das Ende der Fahnenstange ist erreicht: Fußball wird in den USA nie die Relevanz von Basketball und Football erreichen.

Alessandro Righi:
Fakt ist: Die USA sind keine Fußballnation, auch wenn man in der Vergangenheit sensationelle Turniere wie etwa die WM 2014 gespielt hat.
ABER: Ich gehe trotz der für die Ewigkeit bestehenden Unterordnung zum Basketball und dem American Football davon aus, dass nach der Heim-WM der "Hype" zumindest temporär so groß sein wird, dass sich das auf die MLS sowie die College-Teams auswirken wird. Warum? Der Amerikaner ist, wenn es um den Sport geht, nicht dumm. Ein College nach dem anderen meldet Interesse bei der NCAA an.
Zusammengefasst bedeutet das: Der US-Fußball rüstet sich für die Zukunft. Die Hoffnung beruht auf den "Stars von morgen", die im Social-Media-Zeitalter das Potenzial haben, den Sport "vor der Haustüre" langfristig relevant zu gestalten.
Harald Prantl:
Zu Teil eins der These: Nein, die Fahnenstange ist definitiv noch nicht erreicht. In der Saison 2024 verzeichnete die MLS in der Regular Season mit einem Schnitt von 23.234 Fans pro Spiel die besten Zahlen ihres Bestehens.
Die Abo-Zahlen steigen, die Stadien sind zu 94 Prozent gefüllt, auch auf Social Media geht es stetig bergauf. Und da sprechen wir nur von der Elite-Liga der Männer, die Frauen-Liga wächst noch rasanter (11.235 Zuschauer:innen pro Spiel). Zu Teil zwei der These: Sag niemals nie, aber auf absehbare Zeit ist das wohl unmöglich. Aber der Markt in den USA ist groß genug, um auch hinter den Platzhirschen genug Fans abzugrasen...
2.) Fehlender Wettbewerb: Die MLS braucht eine Auf- und Abstiegsregelung, damit es auch in den unteren Tabellenregionen bis zum Ende um etwas geht.

Harald Prantl:
Die beste Basketball-Liga der Welt hat keine Auf- und Abstiegsregelung, die beste Eishockey-Liga, die beste Baseball-Liga und die beste Football-Liga auch nicht. Die großen US-Ligen sollten also Beleg genug dafür sein, dass es das nicht braucht.
Dieser eurozentristische, sehr traditionsbewusste Blick auf den Fußball wird übrigens auch auf dem "alten Kontinent "durch diverse neue Fußball-Formate – Kings League, Baller League, Icon League und Co. – herausgefordert.
Alessandro Righi:
Da kann ich meinem Kollegen nur beipflichten. Der US-Sport basiert grundlegend auf einem anderen System, die Säulen "Franchise", "Salary Cap" und "Trade" bzw. "Draft" gibt es nur westlich des Atlantiks.
Was bedeutet das im Umkehrschluss? Folgendes: Ein Investor kauft sich bewusst bei Team A oder B ein (in diesem Fall die MLS), weil er aufgrund eines garantierten Platzes Teil DER Show ist. Dazu kommt der "Salary Cap" bzw. "Gehaltsdeckel", der allen Teams aufgrund eines Gehaltsmaximums Fairness bei der Spielverpflichtung ermöglicht.
Selbst wenn in einer utopischen Fantasie das geregelt wird, steht noch das "Trade"- bzw. "Draft"-System im Weg. Kurz gefasst: Aufgrund der genannten Faktoren ist das eine Fantasie und nicht umsetzbar.
MLS: Die Liga der ÖFB-Kapitäne
3.) Viva la Mexiko! In 20 Jahren werden sich noch alle an die großartige Stimmung in Mexiko erinnern und vergessen haben, dass die WM auch in den USA und Kanada stattfand.

Alessandro Righi:
Richtig. Die Mexikaner sind nun mal ein hochemotionales Volk, wenn es um den Sport geht - sei es der Fußball, Boxen oder Baseball. Diese Passion werden wir im Fernsehen zu spüren bekommen.
Ich freue mich darauf, erleben zu dürfen, mit welcher Art und Weise uns die mexikanischen Fans beeindrucken werden. Hingegen sind in den USA und Kanada in puncto Stadion-Stimmung "tote Hose" angesagt. Das können die einfach nicht – müssen sie möglicherweise gar nicht, da ihre Sportkultur anderweitig konzentriert ist.
Heißt: Ja, wir werden uns an die tausenden jubelnden Mexikaner erinnern, die US-Amerikaner und Kanadier werden wir im besten Fall als grauen Fleck im Hinterkopf behalten.
Harald Prantl:
Auf den ersten Blick würde ich zustimmen, je mehr Gedanken ich mir darüber mache, bin ich aber skeptisch.
Einerseits lebt die Stimmung bei großen Turnieren immer von den Gäste-Fans der jeweiligen Teilnehmer – also unabhängig vom Veranstaltungsort.
Andererseits leben in den USA und in Kanada sicher mehr Menschen mit Wurzeln in aller Herren Länder die Welt als in Mexiko, die Zahl der Fans einzelner Nationen ist tendenziell also größer. Fraglos werden die Heimspiele der Mexikaner sehr beeindruckend sein, das kann sich nach der Vorrunde aber schon wieder erledigt haben.
4.) Gescheiterte Erben: Die Fußstapfen von Bradley, Dempsey und Co. sind für die aktuelle Generation um McKennie und Pulisic zu groß.

Harald Prantl:
Wenn man diesen Satz liest, gewinnt man den Eindruck, diese Herren hätten im Trikot der USA bei Weltmeisterschaften Unfassbares erreicht. Kurzer Faktencheck: Michael Bradley stand zweimal im WM-Achtelfinale, Clint Dempsey hat es 2002 immerhin bis ins Viertelfinale geschafft.
Das ist dem aktuellen US-Team bei einer Heim-WM schon auch zuzutrauen. Was jedoch stimmt: Die USA sind in der Entwicklung ihres Nationalteams gewiss nicht so weit, wie sie sich das für das Heim-Turnier erhofft hätten, viele Spieler sind zwar überaus talentiert, erreichen ihren Leistungs-Zenit tendenziell aber erst in den kommenden vier bis acht Jahren.
Alessandro Righi:
"Gescheiterte Erben" würde ich nicht sagen. Denn man muss fair gegenüber dem US-Herrenteam sein: 2025 ist bei den Feldspielern nur ein Akteur, nämlich Kapitän Tim Ream, 30 oder älter.
Das bedeutet, dass wir Zeuge einer womöglich vielversprechenden Generation sind, die erst ihren Weg finden muss. Starspieler wie Christian Pulisic (26), Giovanni Reyna (22) oder Weston McKennie (26) sind im besten Fußball-Alter und werden in der Theorie auch noch locker die WM 2030 bzw. 2034 spielen können. Und wenn die Qualifikation für die Runde der letzten 32 misslingt, dann nicht aufgrund der Spieler, sondern weil man sich mit Mauricio Pochettino als Cheftrainer vertan hat.