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Roger Schmidt und Benfica: Eine unerwartete Traum-Ehe

Zum ersten Mal seit knapp 20 Jahren wird in Portugal wieder vom Champions-League-Titel geträumt. Einen großen Anteil daran hat der deutsche Cheftrainer.

Roger Schmidt und Benfica: Eine unerwartete Traum-Ehe Foto: © getty

Europas Klub-Elite staunt über Roger Schmidt und Benfica Lissabon.

Der 56-jährige Deutsche erlebt in Portugal einen ungeahnten Höhenflug und könnte in dieser Saison alle seine bisherigen Erfolge übertrumpfen.

Seinen Durchbruch schaffte Schmidt in Salzburg, wo er zusammen mit Ralf Rangnick den furchteinflößenden "Red-Bull-Fußball" auf die große Bühne brachte. Unvergessen bleibt der überragende 3:0-Auswärtssieg über Ajax Amsterdam in der Europa League, mit dem sich die Salzburger die Anerkennung aller internationalen Topklubs verdienten.

Schmidts nächster Schritt ging wie bei vielen seiner Nachfolger in die Deutsche Bundesliga, als Bayer Leverkusen ihn 2014 aus seinem laufenden Vertrag kaufte. Er setzte seinen Weg und seine Spielphilosophie mit akzeptablem Erfolg fort, doch die defensiven Anfälligkeiten im aggressiven Pressingspiel des Trainers wurden mehr und mehr ersichtlich.

Leverkusen kassierte einfach zu viele Gegentore. Nach einer 2:6-Klatsche gegen Borussia Dortmund zog der Verein im März 2017 schließlich die Reißleine und entband Schmidt von seinen Aufgaben. Was folgte, war ein Engagement in China bei Beijing Guoan und der allgemeine Glaube an eine möglicherweise verschwendete und "gescheiterte" Trainer-Karriere.

Doch der Deutsche kam zurück: Bei PSV Eindhoven belebte er sowohl seine eigene, als auch Mario Götzes Karriere wieder und unterschrieb im vergangenen Sommer schließlich bei Benfica Lissabon. Im April 2023 steht er nun inmitten der Weltelite im Viertelfinale der Champions League und wird von allen Seiten gefeiert sowie mit Lobeshymnen überhäuft.

Schmidts Bilanz in Portugal ist nahezu einschüchternd. Aber warum passt er eigentlich so gut zu Benfica? Und wie weit kann die Reise in der Champions League gehen?

"O grande Schmidt"

Die Fans des portugiesischen Rekordmeisters waren in der jüngsten Vergangenheit nicht gerade vom Erfolg verwöhnt. Nach drei meisterlosen Jahren entschied sich Benfica im Sommer für einen Neuanfang mit Schmidt an der Seitenlinie.

LAOLA1 sprach mit den beiden portugiesischen Journalisten und Benfica-Experten Luis Mateus und Duarte Monteiro über die Entwicklungen im Verein seit Schmidts Ankunft.

Benficas Fanbase wird auf 5,8 Millionen geschätzt
Foto: © getty

"Benfica hat in den letzten zwei Jahren wirklich schlecht gespielt und war in den meisten Spielen vielmehr reaktiv als proaktiv. Schmidts Vorgänger Jorge Jesus konnte dem Team weder im Ballbesitz noch im Pressingspiel eine klare Struktur verleihen", erzählt Mateus. "In der Champions League funktionierte es ganz gut, aber intern war man mit der Spielweise unzufrieden und auch die Ergebnisse in der Liga waren unzureichend."

Jorge Jesus wurde also gefeuert, sein Nachfolger, Interimstrainer Nelson Verissimo, sollte die Saison noch irgendwie retten. Mit dem dritten Endrang in der Liga holte er noch das Optimum heraus, auch wenn das Ligacup-Finale gegen Stadtrivale Sporting wenig überraschend verloren ging.

In der aktuellen Spielzeit schaffte Benfica schließlich den Turnaround. Bis zum vergangenen Wochenende dominierte der Hauptstadt-Klub mit 23 Siegen aus 26 Spielen die Meisterschaft und trotz der bitteren Niederlage gegen den FC Porto am Freitag, die den Vorsprung in der Tabelle auf sieben Punkte schmelzen ließ, ist die Stimmung in Lissabon so gut wie lange nicht mehr.

Ein großer Anteil wird dabei dem neuen Trainer zugesprochen: "Mit Schmidt änderte sich alles", erklärt Mateus die Trendwende, die unter Roger Schmidt eingeleitet wurde. "Die Mannschaft begann, proaktiv zu spielen, agierte dominant, mit gutem Pressing und zumeist hervorragendem Gegenpressing. Er konnte die Spieler, die Vereinsverantwortlichen und die Experten sehr schnell von seiner Philosophie überzeugen und seine Mannschaft tritt fast immer flüssig und dynamisch auf."

"Man darf nicht vergessen, das Benfica in den letzten drei Jahren nicht mal ein Hauch einer Chance auf die Meisterschaft hatte", fügt Monteiro an, "Benfica spielt offensiven, aber auch cleveren Fußball. Und das hat klar die Fingerabdrücke von Roger Schmidt. Sie haben bislang zwei Spiele nach 90 Minuten verloren, das sagt fast alles über seine Arbeit aus."

Unlängst verlängerte Benfica seinen Vertrag bis 2026 inklusive üppiger Gehaltserhöhung. Zudem wurde die im Arbeitspapier verankerte Ausstiegsklausel von zuvor 10 Millionen Euro auf 30 Millionen Euro erhöht. Schmidt soll dem Verein nämlich noch langer erhalten bleiben:

"Derzeit ist jeder zufrieden mit den Ergebnissen und dem Spielstil. Er wirkt glücklich und die Fans lieben ihn. Er macht bis jetzt einen richtig guten Job!", sagt Mateus.

Auch deshalb wird der Trainer von den eingefleischten "Benfiquistas"  mittlerweile nur noch "O grande Schmidt" genannt.

 

Benficas überragende Saisonstatistiken unter Schmidt:

Team Siegquote Torverhältnis Pflichtspiele
Benfica Lissabon 82,6% +85 46
SSC Napoli 81,1% +62 37
FC Barcelona 73,9% +51 42
FC Porto 73,3% +73 45
FC Arsenal 72,5% +46 40
Bayern München 71,8% +79 39
Real Madrid 71,1% +62 37
Manchester United 70,8% +39 48
Manchester City 68,9% +75 45
Paris Saint-Germain 68,3% +57 41

Vom No-Name zum Fanliebling

Im Vergleich zu anderen Spitzenteams aus europäischen Top-Ligen sticht Benficas Saison rein statistisch gesehen eindeutig heraus. Natürlich bekommen es die Stars in England, Spanien, Italien und Deutschland wöchentlich mit vermeintlich härteren Gegnern zu tun, was eine undifferenzierte Betrachtung der Zahlen erschwert. Nichtsdestotrotz darf die portugiesische Liga qualitativ nicht unterschätzt werden und Schmidts Einfluss auf Benficas Wiederauferstehung selbst ohne diese Vergleiche als bemerkenswert und außergewöhnlich bezeichnet werden.

Dabei gab es zu Beginn einige Zweifel am Trainer. Der Deutsche galt bei seiner Ankunft in den meisten Kreisen als unbeschriebenes Blatt: "Nur wenige in Portugal kannten ihn und seinen Status im deutschsprachigen Raum", erklärt Mateus.

Zudem sorgte Schmidts Ruf als Verfechter des aggressiven Pressingspiels bei vielen Experten für Unbehagen: "Er wurde als unausgewogener Trainer angesehen, der mit seinem Ansatz sehr hohes Risiko eingeht. Außerdem wurde er zunächst heftig kritisiert, da er mit einen Riesenkader von 38 Spielern in die Vorbereitung ging und in den ersten Spielen etwas seltsame Ein- und Auswechslungen vornahm."

Schon nach wenigen Spielen verstummten die Kritiker. Schmidts Kalkül, zu Beginn mit einem großen Kader zu arbeiten, ermöglichte es einigen bereits abgeschriebenen Spielern wie Joao Mario, Alejandro Grimaldo oder Chiquinho, sich wieder als feste Größen in der Mannschaft zu etablieren.

Auch der "Mut zur Jugend" zahlte sich aus. Der Deutsche zögerte nicht, Talente wie Innenverteidiger Antonio Silva oder Stürmer Goncalo Ramos ins kalte Wasser zu werfen. Beide sind aus der Startelf der "Águias" (Adler) nicht mehr wegzudenken und werden den Klub wohl bald für viel Geld verlassen.

"Mittlerweile ist alles vergessen", schlussfolgert Mateus über die anfänglichen Bedenken, "Unter den Fans ist er ein richtiger Star, jeder will ein Foto oder Autogramm von ihm. Und auch die Medien scheinen überzeugt."

Monteiro stimmt seinem portugiesischem Kollegen zu: "Für die Fans ist er bislang unantastbar und das spürt man unter anderem auch, wenn die Mannschaftsaufstellung im Stadion durchgegeben wird. Er ist bei weitem der Name, der am meisten gefeiert wird."

 

Roger Schmidts persönliche Bilanz:

Verein Amtszeit Pflichtspiele Punkte pro Spiel
SC Paderborn 2011-2012 36 1,78
RB Salzburg 2012-2014 99 2,24
Bayer Leverkusen 2014-2017 125 1,70
Beijing Guoan 2017-2019 83 1,84
PSV Eindhoven 2020-2022 104 2,16
Benfica Lissabon seit 2022 46 2,59

Wie viel Salzburg steckt noch in Schmidt?

Ein Blick auf die bisherigen Trainer-Stationen des 56-Jährigen und den dabei erreichten Punkteschnitt lässt vor allem eine These zu: So gut wie in dieser Saison hat noch nie ein Team unter Schmidt performt.

Doch warum ist Schmidt in Portugal so erfolgreich? Hält er weiterhin an seiner Philosophie, die er mit Salzburg in Europas Spitzenfußball etablierte, fest?

Luis Mateus hat in dieser Saison schon viele Partien des Rekordmeisters verfolgt: "Benfica begann unter ihm, wie ein großes Team aufzutreten, völlig unabhängig davon, gegen wen man spielt. Die Spieler haben Spaß, das Team kreiert viele Chancen, erzielt viele Tore und kassiert auf der anderen Seite relativ wenige. Um ehrlich zu sein gibt es in der Liga nur vier Teams, die ernsthaft um den Titel spielen können und klar über dem Rest stehen. Doch im Vergleich zu Porto, Sporting und Braga performt Benfica auch gegen die kleineren Mannschaften und leistet sich quasi keine Ausrutscher."

Dabei sei Schmidt jedoch schon ein wenig von seiner ehemaligen Spielidee abgewichen: "Ich beurteile sein Pressing und Gegenpressing als nicht so aggressiv wie bei Salzburg und Leverkusen, aber Benfica spielt sicherlich mit dieser Ausrichtung. Er beordert weniger Spieler nach vorne, einfach um defensiv besser organisiert zu sein, doch die Idee ist weiterhin, schnelle Ballgewinne zu generieren und mit direktem Zug vor das gegnerische Tor zu kommen", findet der Journalist.

"Der große Unterschied liegt im Positionsspiel. Schmidt hat auch ruhige Phasen in seine Spielweise etabliert. Das Team kann den Ball hoch halten, neu aufbauen und auf den richtigen Moment warten."

Es ist eine generelle Entwicklung des über Jahre gefürchteten "Red-Bull-Fußballs", die sich auch in Schmidts persönlicher Entwicklung abzeichnet: Der extreme Pressingfußball, der in den vergangenen Jahren viele Nachahmer fand und in vielen Ligen erfolgreich praktiziert wurde, stößt an seine Grenzen, wenn nur diese eine Richtung und kein "Plan B" vorhanden ist. Das liegt vor allem daran, dass sich Gegner mit der Zeit besser auf diese Systeme einstellen und die Schwächen in der Absicherung ausnutzen können.

Schmidt scheint diesen Trend erkannt und sich bei Benfica ein Stück weit neu erfunden haben. Auf der anderen Seite scheiterte ein Trainer wie Jesse Marsch, der die österreichische Bundesliga mit einer ähnlich ausgerichteten Taktik dominierte, im Anschluss sowohl in Leipzig als auch in Leeds an mangelnden alternativen Ideen.

Gonzalo Ramos ist der aktuelle Star im Benfica-Kader
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Wie jeder Trainer benötigt Schmidt natürlich einen qualitativ hochwertigen Kader, um erfolgreich Fußballspielen zu können. Dieser ist bei Benfica trotz ständiger Star-Abgänge durchwegs mit unglaublichem Potential gefüllt. Nach den Verlusten von Darwin Nunez (für 80 Millionen Euro zum FC Liverpool) und Enzo Fernandez (für 121 Millionen Euro zum FC Chelsea) steht mit Gonzalo Ramos der nächste Superstar in den Startlöchern.

Das Eigengewächs, das den großen Cristiano Ronaldo bei der WM in Katar aus Portugals Startelf verdrängte, hat sich unter Schmidt zu einem Topstürmer entwickelt und sich bei sämtlichen europäischen Topklubs auf die Einkaufsliste geschossen. Seinen steilen Aufstieg verdankt er vor allem seinem Trainer, wie er während der WM in einem Interview verlautbarte: "Er ist einer der besten Trainer, mit denen ich je gearbeitet habe. Ich habe mich als Spieler und Mensch weiterentwickelt", so Ramos damals.

Die Aussage des 21-jährige Portugiesen unterstreicht, welches Ansehen Schmidt innerhalb der Mannschaft genießt. Der Deutsche scheint es geschafft zu haben, den Mix aus Talenten, gestandenen Spielern und bereits abgeschriebenen Rückkehrern zu einer echten Einheit zu formen.

"Ich denke, alle Spieler glauben an den Prozess, und die Erfolge geben dieser neuen Identität natürlich Recht", schlussfolgert Mateus.

CL: Außenseiter mit berechtigtem Finalanspruch

Neben der erwarteten Meisterschaft darf der Fokus nun auch auf die Champions League, durch die Benfica bisher mit einer fast makellosen Bilanz marschierte, gelegt werden.

In der schweren Gruppe H setzten sich die Portugiesen gegen Paris Saint-Germain und Juventus durch und wurden Gruppenerster, wenn auch nur erdenklich knapp: Wegen der selben Punkteanzahl, Tordifferenz und zwei 1:1-Remis in den direkten Duellen gegen PSG entschied schlussendlich die sechste(!) Tiebreaker-Regel, also die Anzahl der insgesamt erzielten Auswärtstore, zugunsten von Benfica.

Den Vorteil, als Gruppensieger im Achtelfinale womöglich einen leichteren Gegner zugelost zu bekommen, nutzten Gonzalo Ramos und Co. gegen Club Brügge (2:0, 5:1) mit äußerster Souveränität aus. Nun wartet in der Runde der letzten Acht Inter Mailand.

Benfica Lissabon - Inter Mailand, ab 21:00 Uhr im LIVE-Ticker >>>

"Das Viertelfinale ist schon ein Erfolg, weil Benfica sonst nicht oft soweit kommt. In Portugal wird diese Runde im Prinzip als das Maximum, das ein heimisches Team erreichen kann, angesehen", erzählt Mateus. Schon in der letzten Spielzeit stand der Hauptstadtklub im Viertelfinale und schlug sich gegen den FC Liverpool zumindest im Rückspiel recht wacker (1:3, 3:3). In dieser Saison soll noch mehr drin sein:

"Ich glaube, Benfica hat gute Chancen, zumindest bis ins Halbfinale zu kommen", ist der Journalist überzeugt. "Dieses Jahr ist aufgrund der Auslosung alles anders. Inter wäre gegen Porto beinahe rausgeflogen, also kann Benfica das auch schaffen."

Und in einem möglichen Semifinale scheinen zu diesem Zeitpunkt weder Napoli noch Milan unüberwindbare Hürden für Benfica darzustellen. Auch deswegen geht Monteiro sogar noch einen Schritt weiter:

"Ich persönlich finde, dass Benfica seit 1990 vielleicht die größte Chance hat, wieder ins CL-Finale zu kommen. Die Mannschaft gibt es her und die Auslosung war, ehrlich gesagt, perfekt. Alles zusammen ergibt, dass die Fans und die Medien offen über das Finale sprechen. Ich traue der Mannschaft zu, dass sie es schaffen kann."

Benficas ehemaliger Trainer Bela Guttmann (1899-1981)
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Und über allem schwebt der Guttmann-Fluch?

Sollten Schmidt und Benfica es entgegen aller Erwartungen ins Endspiel der Königsklasse schaffen, steht dem Verein neben dem Finalgegner noch ein weiteres Hindernis gegenüber: Bela Guttmann und der berüchtigte "Guttmann-Fluch".

Als die österreichisch-ungarische Trainerlegende Benfica 1962 im Streit verließ, prophezeite er dem Verein, "in Europa 100 Jahre keine Titel mehr zu gewinnen." Auch nach 60 Jahren hält der Fluch weiter an, zumal Benfica inzwischen acht europäische Endspiele in Folge verloren hat.

Am Vorabend des Europokal-Finales 1990 besuchte Vereinslegende Eusebio gar das Grab Guttmanns am Wiener Zentralfriedhof, um den ehemaligen Trainer um Verzeihung zu bitten - vergebens, denn Benfica musste sich am nächsten Tag dem AC Milan geschlagen geben.

Bela Guttmann schwirrt also noch immer in den Köpfen der Benfiquistas herum: "Es war bei den beiden Europa-League-Endspielen 2013 und 2014 so und es wird auch jetzt wieder hochkommen, sollte Benfica kurz davor stehen", ist sich Monteiro sicher.

Laut Mateus ist dieser Spruch im Endeffekt aber nicht mehr viel mehr als eben nur ein Spruch: "Natürlich wird man von Zeit zu Zeit daran errinert, aber im Prinzip ist das nur noch Folklore. Ich glaube, niemand glaubt ernsthaft an einen Fluch."

"Tatsache ist, dass Benfica in fast allen Endspielen die schlechtere Mannschaft war. Der Rest ist einfach nur Fußball."

Bela Guttmann wird Roger Schmidt also nicht stoppen können.

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