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Warum Teams kaum mehr die Stangen besetzen

Teams verzichten bei Cornern auf Mann an der Stange. LAOLA1 fragt nach.

Warum Teams kaum mehr die Stangen besetzen Foto: © GEPA

Aus Solidarität mit den gequälten Schülern der unlängst abgehaltenen Mathematik-Zentralmatura startet dieser Artikel mit einer Schätzfrage: Wie viel Prozent der Eckbälle, glaubst du, führen im Fußball zu Torerfolgen? (Bitte stimme im Voting drunter ab. Die Auflösung folgt am Ende der Geschichte)

Schätzfragen sind dankbar, denn bekanntlich lernt man manche Dinge erst zu schätzen, wenn sie nicht mehr da sind (ob das für die Mathe-Matura gilt, sei allerdings dahingestellt...).

Diese Lebensweisheit gilt auch für Fußball-Fans. Zum Beispiel bei Eckball-Gegentoren, wenn der Ball neben der Stange einschlägt. Tenor: „Warum steht da niemand an der Stange?“

Eine gute Frage, dachte sich LAOLA1. Denn früher war es durchaus üblich, beide Stangen zu besetzen. Mit der Etablierung der Raumdeckung wurde aber immer öfter darauf verzichtet.

Warum das so ist, sollen fünf verschiedene Perspektiven klären. Es geht um Tormann-Gefühle, Ressourcen-Verteilung, Deckungsvarianten, gefinkelte Schlenzer und Stangenküsser. Kurzum: Die Gründe sind multifaktoriell.

Michael Lercher: Der Mann an der Stange

Michael Lercher gehört zu einer beinahe ausgestorbenen Spezies von Bundesliga-Kickern. Der Linksverteidiger fungiert bei gegnerischen Eckbällen für den SV Mattersburg als Mann an der ersten Stange.

Warum die Burgenländer als eine der wenigen Bundesliga-Mannschaften in jedem Spiel darauf setzen, erklärt der 22-Jährige wie folgt: „Wir haben das als Team besprochen. Markus (Kuster, Anm.) fühlt sich so wohler. Ich bin eine zweite Absicherung für den Goalie. Er kann sich dadurch aufs lange Eck konzentrieren und auf Bälle, bei denen er rauskommen muss.“

„Ich bin dafür zuständig, Bälle auf die erste Stange zu klären. Zudem rücke ich auch mit raus, wenn der Corner kurz abgespielt wird“, erklärt Lercher seine Aufgabe, die er gefühlt öfter wahrnehmen muss als gedacht. „Bei sieben von zehn Ecken muss ich eingreifen.“

Im Idealfall so wie im Spiel beim SK Rapid (2:2) Anfang Dezember, als er Alois Höller vor einem Eigentor bewahrte und Rapids vermeintlichen Führungstreffer auf der Torlinie klären konnte.

Lerchers Rettungsaktion als erste Aktion im VIDEO: (Text geht drunter weiter)

Trotzdem versteht der SVM-Mann, wenn sich Teams gegen den Mann an der Stange entscheiden: „In der Bremen-Jugend (2012-2015, Anm.) hatten wir nur einen am langen Eck, bei Wacker (2015-2017, Anm.) an beiden. Es hat Vor- und Nachteile.“

Warum genau er der Auserwählte im Team ist? „Ich gehöre nicht zu den Größeren, die im Strafraum gebraucht werden“, sagt der 1,77-Meter-Mann. „Ich habe gute Sprungkraft und bin auch schnell.“

Richard Strebinger: "Welchen Spieler sollte ich dafür opfern?"

Während Lercher auf der Torlinie seine Heldentat vollbrachte, verzweifelte Richard Strebinger auf der anderen Seite des Spielfeldes. Der Rapid-Tormann sieht darin aber keinen Grund, auch selbst auf einen Mann an der Stange zu setzen – die Hütteldorfer verzichten wie so viele Teams darauf.

„Letztlich erklärt es sich simpel“, sagt der 25-Jährige: „Ich wüsste nicht, welchen Spieler ich aus unserer Deckung dafür opfern würde. Der eine oder die zwei würden in der Raumdeckung fehlen, das würde für viele Lücken im Strafraum sorgen. Deshalb konzentrieren wir uns drauf, einfach im Verbund gut zu stehen. Ein verlorenes Kopfballduell bleibt natürlich ein Restrisiko.“

Vielleicht war Strebinger auch deshalb anfangs durchaus skeptisch: „Ich habe mich ein paar Mal mit dem Trainer darüber unterhalten. Ich glaube aber, aufs Jahr gerechnet bekommt man so weniger Tore.“

Es gibt keine verlässlichen Zahlen darüber, ob ein Team mit Mann an der Stange mehr oder weniger Gegentore bei Eckbällen erhält. Zu hypothetisch ist die Frage, wie viele Tore der zusätzliche Spieler im Strafraum verhindert. Fest steht aber: Der SK Rapid verteidigt Eckbälle durchaus erfolgreich. Nur der LASK und Red Bull Salzburg (je 1) haben in dieser Bundesliga-Saison weniger Corner-Gegentore als die Wiener (2) erhalten (Quelle: transfermarkt.at).

Und so ganz verzichtet Rapid ja nicht auf eine Absicherung. „Wir haben zwei Leute am Fünfer vor der ersten Stange. Stefan (Schwab, Anm.) soll da abräumen und Kopfballverlängerungen verhindern. Für mich ist das die wichtigste Position.“

An seinem Torwartspiel würde eine Besetzung der Stangen übrigens nichts ändern. „Bis zum Fünfer muss ich alle Bälle haben. Dort stehen dann unsere Leute, die den Raum davor verteidigen.“

„Co-Trainer Martin Bernhard stellt uns da immer ein. Es sind oft nur Kleinigkeiten. Wenn ein Spieler einen halben Meter anders steht, kann das schon den Ausschlag geben“, erklärt Strebinger die Tücken der kombinierten Mann- und Raumdeckung, auf die Rapid und Mattersburg setzen.

Alfred Tatar: "Es gibt kein Patentrezept"

Es klang bereits durch: Wer sich mit dem Mann an der Stange beschäftigen will, muss sich mit den Deckungs-Varianten im Strafraum auseinandersetzen. LAOLA1 hat sich dafür mit SKY- Experte Alfred Tatar unterhalten.

„Bei der Raumdeckung fädeln sich die Spieler im Abstand von ein bis zwei Metern am Fünfer auf. Sie attackieren ihren Raum, wenn der Ball dort hinkommt“, erklärt der 54-Jährige. „Bei der Manndeckung hat man den Schützen und Gegner im Auge. Man sollte so einen Winkel einnehmen, mit dem man den Gegner blockieren oder selber den Ball attackieren kann.“

In der Theorie einfacher als in der Praxis. „Salzburg hat einmal bei einem Eckball Manndeckung gespielt und Andre Ramalho, eigentlich ja ein sehr guter Verteidiger, stand mit dem Rücken zum Schützen, sah nur seinen Gegenspieler an. Der sah nicht, was passiert! Ein großer Fehler.“

Es käme also auch darauf an, welche Deckungsvarianten den eigenen Spielern besser liegen. Da immer mehr Mannschaften auf die moderne Raumdeckung, zumindest in einer Mischform setzen, wurde auch der Mann an der Stange immer seltener. „Vier oder Fünf stehen am Fünfer aufgefädelt. Einer sichert noch davor ab und am Elfmeter auch noch zwei. Wenn du die Chance auf einen Konter haben willst, ist noch ein Neunter gebunden. Dann wird’s schon mühsam, wenn du noch jemanden zur Stange stellen willst.“

Vor allem wenn der Gegner zusätzliche Ressourcen fordert: „Damir Canadi hat damals in der Ersten Liga öfters als verteidigende Mannschaft beim Eckball drei Stürmer zur Mittellinie gestellt, einen links, einen in der Mitte und einen rechts. Darauf muss dann der Gegner reagieren. Im Strafraum ist es dann übersichtlicher, ein Vorteil für die Defensive“, erklärt Tatar.

Letztlich sind für den ehemaligen Trainer der Vienna (2010-2013) und vom SV Mattersburg (2013) zwei Faktoren entscheidend, um einen Mann an der Stange zu postieren: „Wenn der Gegner einen guten Eckball-Schützen hat und den Ball zum Tor zirkelt. Dort wird’s gefährlich. Dort kommt der Tormann, behindert von Gegenspielern, nur schwer hin und Spieler können den Ball verlängern.“

Die zweite Stange würde er jedoch nicht besetzen. „Das finde ich sinnlos. Wenn der Ball aufs lange Eck gezirkelt wird, muss der Goalie zur Stelle sein. Wenn der Ball weg vom Tor gezirkelt wird, kommen die anlaufenden Stürmer mit so einer Wucht zum Abschluss, dass es meist egal ist, ob ein Spieler bei der Stange steht. Sergio Ramos von Real Madrid ist da fast nicht zu verteidigen.“

Ein Beispiel-VIDEO für die Kopfballverlängerung: Friesenbichler lässt für Madl abscherzerln (Text geht drunter weiter)

Peter Michorl: "Dann wird's immer gefährlich"

Für Tatar hängt also die Frage von einem guten Eckballschützen ab. Beim LASK ist man hier an der richtigen Adresse. Die Linzer halten bei fünf Eckballtreffern – Liga-Höchstwert ex aequo mit Salzburg und Sturm.

Peter Michorl ist für seine Standardsituationen gefürchtet. Einen guten Eckball macht für ihn „die richtige Schärfe, Höhe und das nötige Glück aus.“

Dieses Glück wird hart erarbeitet. Bei jedem Abschlusstraining werden 30 Minuten lang Eckbälle trainiert. „Wir analysieren den Gegner und schauen uns an, wo ein gefährlicher Raum entstehen könnte. Dort läuft unser Spieler hin, dort wollen wir die Bälle hinbekommen“, so der 23-Jährige.

Der Raum vor der ersten Stange stellt natürlich so einen gefährlichen Raum dar. Für Michorl als Eckballschützen ist der Mann an der Stange aber irrelevant. „Nur weil dort keiner steht, schießen wir nicht automatisch die Bälle dort hin. Außerdem steht dann davor weniger Raum zur Verfügung. Wenn ich’s mir aussuchen könnte, würde ich mir daher sogar bei den Gegnern einen Mann an der Stange wünschen.“

Ein Wunsch, den der LASK seinen Kontrahenten nicht erfüllt. Auch die Linzer lassen die Stange unbesetzt. „Pavao (Pervan, Anm.) mag das nicht. Der Torwart entscheidet. Es kommt nur drauf an, wie er sich fühlt.“

So hat jeder Athlet seine Aufgaben zu erfüllen. Michorl eben Eckbälle zielgenau in den Strafraum zu bringen. „Nicht die einfachste Übung, es gelingt nicht immer. Aber wenn der Ball gut kommt und unsere Spieler gut reinlaufen, wird’s immer gefährlich.“

Christian Schoissengeyr: Der Vollstrecker

Wenn ein Eckball gut zur Mitte kommt, ist öfters ein Innenverteidiger zur Stelle - zum Beispiel Christian Schoissengeyr. Der 1,94-Meter-Hüne vom SK Sturm gehört zu den Kopfballungeheuern der Liga, auch wenn er in der Rückrunde kaum mehr zu Einsätzen kam.

„Offensiv spiele ich lieber gegen eine Manndeckung, da kann man den Gegner besser in Bewegung bringen. Die Eins-gegen-Eins-Duelle verursachen immer einen Wirbel“, sagt der 23-Jährige, der meistens einen besonderen Begleitschutz genießt. „Mittlerweile werde ich öfters von zwei Leuten gedeckt.“

Defensiv bespricht Sturm vor dem Spiel, wie Eckbälle verteidigt werden. Meistens die vorherrschende gemischte Mann- und Raumdeckung („Eine Reihe verteidigt den Raum, die anderen Spieler die gefährlichsten Kopfballgegner“), meistens ohne Mann an der Stange.

„Jörg mag das nicht“, erklärt Schoissengeyr, der aber wie bereits zuvor Strebinger den Mann am Fünfer einwirft. „Sozusagen ein weiterentwickelter Mann an der Stange.“ Kommt letzterer doch zum Einsatz, ist aber eines wichtig: „Er muss aktiv sein und auch ein bisschen hinausgehen, um die Laufwege zur ersten Stange zu blockieren. Manche küssen aber die Stange und bewegen sich nicht.“

Wem diese ehrenvolle Aufgabe im Fall der Fälle zuteil wird, ist festgelegt: „Der Kleinste oder ein Flügelspieler. Weil wenn er einen kurzen Ball abfängt, ist er der erste, der den Konter anführen kann.“

Schoissengeyr gibt aber auch Nachteile zu bedenken: „Für einen Kopfball unter die Latte ist der Mann an der Stange oft zu klein. Beim Rausrücken hebt er manchmal das Abseits auf. Und letztes Jahr in St. Pölten habe ich ein Tor geköpfelt, da stand der Mann an der anderen Stange“, lächelt er. „Und dir fehlen die zwei Spieler davor. Weil was bringt es dir, wenn du zwei Spieler auf der Torlinie hast, dafür dem Gegner überall freie Räume anbietest?"

Fazit: Die Bundesliga-Teams verzichten also mehrheitlich auf den Mann an der Stange, weil sich viele Goalies so wohler fühlen und um mehr Spieler in die Strafraum-Schlacht schicken zu können. Vor- und Nachteile haben beide Varianten oder wie Tatar zusammenfasst: „Es gibt kein Patentrezept.“

Am Ende des Tages sind aber auch Eckbälle kein Allheilmittel. Die Statistik eines reddit-Users bescheinigt Cornern nämlich eine überschaubare Erfolgsquote. Von 115.199 untersuchten Eckbällen in 11.234 analysierten Spielen mündeten 1.459 in einem Tor.

Vielleicht wird aber in diesen 1,27 Prozent der Fälle zukünftig der eine oder Fan die Frage stellen: „Warum stand da niemand an der Stange?“

Schoissengeyr traf im Herbst doppelt gegen SKN St. Pölten. Das erste Tor im Video wäre mit SKN-Mann an der Stange wohl nicht gefallen. (Text geht drunter nicht mehr weiter)

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