news

Die "Reißnagel-Affäre" und ein Akt der Solidarität

Die

Spitzensportler streben nach Siegen. Sie sind permanent auf Erfolg getrimmt. Haben den Ruhm im Visier. Den Rummel. Das Geld.

Wer etwas erreichen will, muss ans Limit gehen, manchmal sogar darüber hinaus. Rücksichtnahme auf den Konkurrenten ist zumeist fehl am Platz. Respekt ja, mehr aber auch nicht.

Dass es auch anders ging, wurde bei der Tour de France eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Was sich auf der 14. Etappe des bedeutendsten Radrennens der Welt ereignete, war mehr als nur Respekt gegenüber einer großen Sportpersönlichkeit.

Es war ein Akt der Solidarität. Ein Beweis des Zusammenhalts. Ein Symbol für Sportsgeist.

Keinen Nutzen aus dem Pech anderer Fahrer gezogen

Nachdem unbekannte Idioten Reißnägel auf die Straße warfen, wurden rund 30 Athleten von einem Defekt gestoppt. Cadel Evans, kein Geringerer als der Titelverteidiger, hatte gleich „Platten“ und verlor dadurch kostbare Zeit.

In der Gruppe der Favoriten sprach es sich rasch rum, dass zahlreiche Fahrer den Anschluss verloren. Dass ein Sabotage-Akt diesen Umstand begründete, war den Fahrern zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst.

Entschlossen, aus dem Pech der Kollegen keinen Nutzen zu ziehen, drosselte das Team Sky um den Mann in Gelb, Bradley Wiggins, das Tempo. Bummeln war angesagt, um auf die Konkurrenz zu warten.

Team Sky befolgte ein „ungeschriebenes Gesetz“

„Wir haben es als ungeschriebenes Gesetz erachtet, diese Situation nicht auszunutzen“, erklärte Sky-Sportdirektor Sean Yates.

Wiggins präzisierte: „Niemand will, dass so etwas einen Einfluss auf das Rennen nimmt.“ Außerdem war der Etappensieg längst außer Reichweite, der Berg war bezwungen, weitere Herausforderungen standen nicht auf dem Tagesprogramm.

„Wenn du in den Bergen keine Zeit rausfahren kannst, dann darfst du es auch nicht, wenn jemand einen Defekt hat.“

Rolland attackierte – und wird dafür kritisiert

Diese Einstellung teilten auch alle anderen Fahrer, die mit Wiggins unterwegs waren. Nun ja, alle – bis auf einen. Pierre Rolland, in La Toussuire gefeierter Etappensieger, nutzte die vermeintliche Gunst der Stunde und attackierte, während der Rest die Beine hochnahm.

Ein Vorgang, der bei seinen Arbeitskameraden auf wenig Gegenliebe stoß. „Ich habe nichts gesehen und daher nur gehört, was passiert ist. ‚Wiggo‘ und viele andere warteten, aber es wurde auch angegriffen. Gerade an diesen Tagen lernt man viel über seine Kollegen“, übte Evans leise Kritik.

Bei den Fahrern machte sich Zorn breit

Zu all den schweren Verletzungen, die sich im Rahmen der 99. Frankreich-Rundfahrt bereits zutrugen, gesellte sich eine weitere hinzu. Diese wäre jedoch zu vermeiden gewesen, wenn nicht feige Unbekannte mit dem Leben der Radprofis gespielt hätten.

„Ich hoffe, sie erwischen die Wichser, die die Nägel auf der Straße verteilt haben“, machte die vor wenigen Wochen zurückgetretene Sprinter-Legende seinem Zorn Luft.

Sein australischer Landsmann Adam Hansen blies ins selbe Horn. „Diese Idioten haben die Nägel überall verstreut. Kiserlovski brach sich das Schlüsselbein. Leute sind gestürzt. Es ist Spaß, bis sich jemand verletzt. Ihr verdammten Idioten!!!“

Auch der selten um eine Wortspende verlegene Weltmeister Mark Cavendish fand drastische Worte: „Welcher Drecksack wirft Reißzwecke auf die Straße beim größten Radrennen der Welt?“

Ein Dank an das Team Sky und Bradley Wiggins

Nach all dem Ärger über den Sabotage-Akt herrschte nach der Etappe, die der Spanier Luis-Leon Sanchez für sich entschied, auch Erleichterung.

„Sky war wirklich fair und hat nicht attackiert. Ich habe Sean Yates im Ziel gesagt, dass wir das wirklich geschätzt haben“, meinte etwa BMC-Sportdirektor John Lelangue, der zwischenzeitlich wohl bereits die Felle seines Kapitäns Evans davonschwimmen sah.

Und auch Tour-Veteran George Hincapie, der mit seiner 17. Teilnahme den Allzeit-Rekord von Joop Zoetemelk (16) auslöschte, wusste, an wen er sich richten musste: „Danke Sky und ‚Wiggo‘, keinen Vorteil aus der Situation gemacht zu haben.“

Es geht um viel bei der Tour. Um den Sieg. Um Ruhm. Um Geld.

Wiggins und das Team Sky haben jedoch gezeigt: Es geht auch um die Menschlichkeit.

 

Christoph Nister

Jens Voigt wurde da schon etwas deutlicher. Der mit 40 Jahren älteste Tour-Starter twitterte: „‘Wiggo‘ versuchte im Feld das Tempo rauszunehmen, aber dann griff dieser Fahrer im grünen Trikot an, um vom Pech anderer zu profitieren. So eine Aktion, Zeit rauszuholen, während andere Defekte und Stürze erleiden … (das ist) mangelnde Klasse! Genug dazu gesagt.“

Rückendeckung vom eigenen Sportdirektor

Der Übeltäter selbst war sich indes keine Schuld bewusst und mimte den Ahnungslosen. „Ich wusste über nichts bescheid. Ich habe attackierte, um Positionen wettzumachen.

Rolland habe mehrfach versucht, Kontakt zu seinem Sportdirektor aufzunehmen, doch dieser habe nicht geantwortet. „Ich respektiere die Codes und Regeln innerhalb des Pelotons. Alle, die mich kennen, wissen, dass so etwas nicht meine Art ist. „

Dominique Arnold, sein Betreuer im Begleitfahrzeug, bestätigte Rollands Aussagen bezüglich der fehlenden Kommunikation. „Die Kontroversen machen keinen Sinn. Beschuldigt doch nicht Pierre. Er wusste nichts über Evans‘ Platten. Ich hatte erst wieder Kontakt zu ihm, als er schon wieder vom Feld gestellt war. Der Funk hat nicht funktioniert.“

Kiserlovski mit Schlüsselbeinbruch ausgeschieden

So groß der Ärger mancher Beteiligter wegen Rollands Aktion auch war, jener über die unverantwortliche Aktion mit den Reißnägeln war noch deutlich signifikanter. Und das mit Recht, denn neben vielen Defekten kam es auch zu Stürzen.

Einer davon ging leider nicht glimpflich aus. Robert Kiserlovski sah seinen Kapitän Janez Brajkovic am Straßenrand, der Opfer der Nagel-Sabotage wurde, und wollte ihm sein Rad zur Verfügung stellen.

Der Kroate bremste just in jenem Moment, als Levi Leipheimer vorbei rauschte und nicht mehr rechtzeitig zu stehen kam. Die beiden kollidierten, Kiserlovski erlitt einen Schlüsselbeinbruch und musste ins Krankenhaus transportiert werden.