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„Wenn du so weitermachst, bist du mit 30 tot“

„Wenn du so weitermachst, bist du mit 30 tot“

„Quäl deinen Körper, sonst quält er dich!“

Dieses markante Lebensmotto trägt Extremläufer Christian Schiester mit sich. Auf Wettrennen durch Gegenden wie die Sahara, den Dschungel oder die Antarktis musste er sein Credo wahrhaftig leben und unter Beweis stellen.

Seit dem 16. Juni 1989 verging kein Tag, an dem der 48-Jährige nicht laufen war.

Der geborene Athlet? Mitnichten, wie der Rückblick auf sein Leben beweist.

„Mein Körper konnte nichts“

„Die Ausgangsposition war nicht wirklich gut für mich“. Derart nüchtern beschreibt der Steirer gegenüber LAOLA1 seine körperliche Verfassung als 22-Jähriger im Frühjahr 1989.

(Mindestens) 40 Zigaretten pro Tag standen damals an der Tagesordnung. Dem Alkohol war er ebenfalls nicht abgeneigt, mit seinen Freunden vernichtete er desöfteren das eine oder andere Bier. Das Resultat dieses Lebensstils bekam er wortwörtlich am eigenen Leib zu spüren: Stolze 100,7 kg zeigte die Waage an. Eine Phase in seinem Leben, die Schiester rückblickend als Lebenskrise identifiziert.

„Mein Körper konnte nichts. Mich hat kein Mädel angeschaut, ich war völlig uninteressant! Das wirkt sich natürlich auf das eigene Selbstwertgefühl aus. Irgendwann resigniert man und sucht die Schuld bei allen anderen, nur nicht bei sich selbst. Bis der Moment kommt, wo es darauf ankommt, ob du aufstehst oder nicht.“

Schock-Diagnose führt zu Umdenken

Für den Österreicher kam dieser Moment am Aschermittwoch 1989. Nach einer Gesundenuntersuchung konfrontierte ihn ein Arzt mit der knallharten Diagnose: „Wenn du so weitermachst, bist du mit 30 tot.“ Ein Satz, der ein Umdenken beim jungen Schiester bewirkte.

„Der entscheidende Punkt war, dass ich in meinem damaligen, noch jungen, Leben Bilanz gezogen habe, wie das jede ordentliche Firma auch macht. Jetzt bist du 22 Jahre, was hast du bisher erlebt? Was willst du noch machen? Wenn du nur in den Tag hineinlebst und dir nie Gedanken machst, wer du bist und wo du hinwillst, wirst du in deinem Leben niemals etwas verändern. Und aus dieser Bilanz heraus kannst du neue Aktivitäten setzen.“

Schiester wurde in der Tat aktiv. Einer Ernährungsumstellung folgte der Kauf der ersten Laufschuhe. Fortan begann er, regelmäßig Bewegung auszuüben. Anfangs noch mit mehr Gehpausen als Laufschritten, doch rasch waren Fortschritte erkennbar. Schließlich folgte die Teilnahme an seinem ersten 8-km-Lauf. „Ich habe den Lauf geschafft. Doch im Zielsprint musste ich mich einem 72-Jährigen geschlagen geben und bin Drittletzter geworden.“

Von New York in die Sahara

Der Steirer ließ sich nicht entmutigen und steckte sich neue Ziele. Eineinhalb Jahre nach dem denkwürdigen Aschermittwoch absolvierte er bereits seinen ersten Marathon. Beim weltberühmten Lauf in New York gelang ihm eine Top-Zeit von knapp über drei Stunden.

Ein halbes Jahr später gewann er in Graz seinen ersten Titel und wurde Halbmarathon-Meister 1991. In den folgenden zehn Jahren fuhr Schiester regelmäßige Erfolge ein. Er darf sich u.a. 26-facher Steirischer Meister in diversen Disziplinen (Cross, Berg, Halbmarathon, Marathon) nennen.

Doch der graue Laufalltag war ihm mit der Zeit nicht mehr genug. Eine neue Herausforderung musste her.

„Das steigert sich, ähnlich wie bei einem Bäcker, der mit Semmeln anfängt und später Kuchen macht. Zu Beginn bin ich in diese Volksläufe reingestolpert. In diesen Wahn, zu glauben, jedes Wochenende eine Schlacht gegen meine Nachbarn schlagen zu müssen. Da hatte ich viele tolle Erlebnisse und feierte große persönliche Erfolge, weil ich ja vorher ein absoluter Loser war und plötzlich zum Sieger wurde. Aber nach dreihundert Rennen dachte ich mir: Willst du jetzt bis zu deinem Lebensende bei einem Stadtlauf rennen? Dann ist mir dieser Marathon des Sables in Marokko ins Auge gesprungen…“

Wüstenabenteuer macht Lust auf mehr

Ein herkömmlicher Marathon geht über die bekannten 42,195 km. Hart, jedoch für den Marathon des Sables noch nicht hart genug. Bei diesem sogenannten Ultramarathon müssen die Teilnehmer in sechs Etappen über sieben Tage 243 km bewältigen.

Als wäre die Distanz alleine nicht bereits extrem genug, führt das Rennen als Sahnehäubchen noch durch keine geringere Gegend als die größte Wüste der Welt, die Sahara. Schiester beendete seinen ersten Extremlauf bei 677 Teilnehmern auf dem sensationellen zwölften Platz. Die Momente, als er die Ziellinie passierte, sind noch heute unvergessen:

„Ich habe geweint, wie ein kleiner Junge. Ich hatte mir ja vorgenommen: Ich mache dieses Rennen, das mich wahrscheinlich fast umbringt und danach lasse ich das Laufen. Nur haben mich diese Kasteiungen dermaßen fasziniert und mir bewusster gemacht, dass dich dieser absolute Verzicht stärkt und vor allem frei denken lässt. Ich habe dort gesehen, dass das Laufen noch viel mehr bietet als sich „nur“ mit anderen Leuten zu messen.“

Der Startschuss einer Lauf-Karriere auf extremen Pfaden war gelegt. „Ich habe mir verschiedenste Dinge rausgesucht, von denen ich mir gedacht habe, da muss ich unbedingt hin!“

Erfolge in der Höhe und in der Kälte

Zahlreiche Abenteuer sollten in den Jahren darauf folgen. Eines davon führte ihn im Jahr 2004 zum höchsten Gebirge der Welt. Das Himalaya-Stage-Race ist das härteste Berg-Etappenrennen der Welt.

„Das war natürlich das andere Extrem, es war bitterkalt. Aber ich wollte das ausprobieren. Wie geht’s mir dort in der Kälte?“

Augenscheinlich gut, ging der Österreicher doch nach 162 km und 14.000 Höhenmetern als Sieger hervor. Ebenso wie drei Jahre später beim Antarktis Race ("Einer meiner intensivsten Momente, als ich in dieser Natur unterwegs war. Diese absolute Einsamkeit. Kein Tier, gar nix. Gewaltig!“).

Welcher der beiden Triumphe höher einzuschätzen ist? Darüber hat Schiester eine klare Meinung: „Ich habe meinen größten Sieg am 16. Juni 1989 gefeiert. Das kann nichts toppen.“

Jahr Wettbewerb Distanz Zeit Rang
2003 Marathon des Sables/Marokko 243km 24 Std. 47 Min. 35 Sek. 12
2004 Himalaya Stage Race/Indien 162km 14 Std. 43 Min. 1
2006 Jungle Marathon/Brasilien 202km 39 Std. 51 Min. 17 Sek. 3
2007 Antarktis Ultra Race 100km 19 Std. 58 Min. 1
2009 Atacama Crossing/Chile 250 35 Std. 48  Min. 14 Sek. 6
2009 Sahara Race/Ägypten 250 29 Std.28 Min. 02 Sek. 2
2010 Outback Race/Australien 250 - Aufgabe
2010 Gobi March/China 250 25 Std. 32 Min. 49 Sek. 2
2012 Route of Fire/Costa Rica 225 28 Std. 03 Min. 39 Sek. 8
2014 Ocean Floor Race/Sahara 250 48 Std. 44 Min. 2

Nichtsdestotrotz steht der sportliche Erfolg ebenfalls im Mittelpunkt: „Sonst müsste ich keine Wettkämpfe machen. Ich brauche Startnummer und Gegner, die aber niemals meine Feinde sind. Und dann probiere ich, um mein Leben zu laufen. Der Wettkampf ist eine außergewöhnliche Situation, in der du viel tiefer in die Belastung eintauchen kannst.“

Kampf gegen Kopf und Natur

Rennen durch die Sahara, den Himalaya oder die Antarktis. Man muss kein Laufexperte zu sein, um zu ahnen, dass dabei die Konkurrenz teilweise in den Hintergrund gerät: „Die Natur ist angesichts dieser richtig unangenehmen Plätze der härteste Gegner. Das macht den Reiz aus. Seit der Antarktis war mir nie mehr kalt.“

Um dermaßen extremen Bedingungen zu trotzen, müssen sowohl Kopf als auch Körper gewappnet sein. Der Steirer hält beide Komponenten für gleichermaßen wichtig: „Laufen musst du schon können. Aber wenn du es im Kopf nicht drauf hast, nutzt dir der beste Körper nichts. Umgekehrt, wenn der Körper nicht trainiert ist, kannst du genauso brausen gehen.“

Für Extremläufe muss folglich als Grundvoraussetzung eine extrem lange und gewissenhafte Vorbereitung eingeplant werden. Diese nimmt für die größeren Läufe ein gutes Jahr in Anspruch. Dabei simuliert der 48-Jährige den Ernstfall: „Vor ein paar Monaten habe ich zwölf Tage überhaupt nichts gegessen und nur Wasser getrunken, um draufzukommen: Wie lange kann ich das aushalten? Da ist es bitter, wenn du dich in eine Raststation auf die Autobahn reinsetzt, wo jeder isst und ich trinke ein Glas Wasser.“

Scheitern und Schmerzen gehören zum Leben dazu

Doch trotz bester Vorbereitung bleiben Rennverlauf und Natur letztlich unberechenbar. Der Erfolg kann nicht gepachtet werden: „Scheitern gehört zum Leben dazu.“

Beim Outback Race 2010 kam Schiester im unwegsamen Gelände zu Sturz. Zum ersten Mal musste der Steirer aufgeben. Eine Vernunftsentscheidung: „Ich habe mich am ersten Tag verletzt und hatte noch 220 km ins Ziel. Wenn ich mit einem angeschlagenen Knie weiterrenne, ist die Chance richtig groß, dass das mein letztes Rennen war. Dann ist entscheidend, ob man etwas in der Birne drinnen hat oder nicht. Ich bin nicht bereit, mich für ein Rennen umzubringen.“

Schmerzen sind aber „part of the game“: „Wenn du keinen Schmerz fühlst, empfindest du das nicht dermaßen intensiv. Wenn du zum Zahnarzt gehst und nichts spürst, sagst du zu ihm: Bohr herum, soviel du willst - und alles ist hin. Das Schmerzempfinden als Alarmsignal sagt dir, wenn etwas nicht passt und hilft dir, mit einer gewissen Sensibilität damit umzugehen. Wenn man so etwas wie ich macht, muss man eben mit dem Schmerz umgehen können. Dann kommst du in eine geistige Phase - das ist jetzt schwer zu erklären - die mich mein Leben ordnen lässt. Da gehört der Schmerz absolut dazu, sonst geht das nicht.“

So geschehen beim Dschungel Marathon 2006 in Brasilien, als er rund 50 Prozent der eigenen Haut an beiden Füßen verlor. „Das war bei allen der Fall. Deshalb gibt’s keinen, der das Rennen zweimal macht, denn wenn du weißt, was dort auf dich zukommt, verzichtest du auf eine Wiederholung. Das ist kein Spaziergang, das ist die Hölle. Als Lohn habe ich den Dschungel wie sonst nur Tarzan gesehen.“

Der Steirer wandelt also auf einem schmalen Grat. Eine Eigenart, die er bereits länger mit sich rumträgt: „Für mich gibt’s keine Grauzone, für mich gibt’s nur schwarz oder weiß. Entweder saufe, rauche und fresse ich oder ich bin Profisportler. Was ich angehe, mache ich mit voller Begeisterung.“

Vorbilder und Kritik am Schulsystem

Diese völlige Hingabe in Kombination mit den Abenteuern brachte dem Steirer eine Vorbildrolle ein. „Ich bekomme viele Mails und handgeschriebene Briefe von Schülern. Mich freut, dass ich anscheinend die Jugend gut anspreche. Mir ist bewusst, dass dies eine riesige Verantwortung ist. Alles, was ich mache, multipliziert sich in alle möglichen Richtungen.“

Schiester hat ebenfalls ein Idol: „Reinhold Messner hat einmal gesagt: Komm drauf, was dein Talent ist und mach das! - Es gibt viele Leute, die wollen mit aller Gewalt Tennisspieler werden, haben jedoch überhaupt kein Ballgefühl, werden aber zum Beispiel geniale Tischler. Du musst draufkommen, welche Fähigkeiten du hast!"

Ein Motto, das in der Schule viel zu kurz käme: „Unser Schulsystem ist dahingehend völlig falsch, weil den Kindern alles reingedrückt wird, was sie zum Teil gar nicht brauchen. Ihre Talente werden nicht gefördert, sondern es wird nur daran gefeilt, was sie nicht können.“

Süchtig nach dem Kick und Appell an jedermann

Schiester gibt jedoch durchaus zu, süchtig nach diesem gewissen Kick geworden zu sein: „Da müsste ich jetzt lügen, wenn ich nein sagen würde. Aber dieses Wort ist immer negativ behaftet. Natürlich bin ich süchtig. Das Wort Sucht sagt ja, dass wir suchen und ich glaube, dass es keinen Menschen auf der ganzen Welt gibt, der nicht nach seiner Zufriedenheit sucht. Ich bekomme diese eben durch die Erlebnisse bei den Extremläufen. Mich hat das Laufen auf Plätze dieser Welt geführt, wo ich nie hingekommen wäre.“

„Das Wichtigste ist, ein Ziel vor Augen zu haben“, dann könne jeder den nötigen Willen aufbringen: „Du darfst dir nicht in die Hosen scheißen. Die meisten scheitern an ihren eigenen Zweifeln, bevor sie dran denken, was sie machen können. Wenn ich wissen will, wie Boxen ist, muss ich in den Ring. Dort bekomme ein paar auf die Nuss und sage: Gut, danke, da gehe ich nicht mehr rein, das taugt mir nicht.“

Die individuellen Voraussetzungen spielen eine Nebenrolle: „Ich glaube, dass nicht immer eine gute Ausgangsposition wichtig ist, sondern, dass man eine Vision hat und diese verfolgt. Da entstehen unglaubliche Kräfte. Gerade diese Lebenskrisen, die jeder von uns in irgendeiner Form durchlebt, sind riesige Entwicklungschancen, wenn man sie als solche erkennt.“

 

Andreas Gstaltmeyr