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NEWBORN: Der lange Weg des Kosovo

NEWBORN: Der lange Weg des Kosovo

Auf einem zentralen Platz in Pristina, der Hauptstadt des Kosovo, stehen sieben riesige Buchstaben stellvertretend für das ganze Land.

Das Monument ist von einer Mixtur von westlicher Modernität und Erinnerungen an die gewaltsame Vergangenheit des Landes umgeben. Es steht vor einem Einkaufszentrum, unterhalb der amerikanischen Schule, vor deren Eingang unzählige albanische Flaggen wehen. Ein gigantisches Porträt des früheren Militärkommandanten Adem Jashari ist in Sichtweite.

Es ist ein sehr kosovarischer Ort.

Die Buchstaben beschreiben NEWBORN – neugeboren. Seit ihrer Enthüllung am 17. Februar 2008, als der Kosovo einseitig seine Unabhängigkeit von Serbien erklärte, wurden sie besprayt, frisch bemalt und wieder besprayt. Wieder und wieder.

Am 12. Juni wurde in Baku ein weiterer Teil des Kosovo neugeboren.

Der Sport.

Nach einem jahrzehntelangen Ringen um olympische Anerkennung durfte der Staat vom Balkan mit den Europaspielen an seinem ersten olympischen Event teilnehmen.

Dies ist die Geschichte seines Weges.

Jugoslawien

Das olympische Komitee des Kosovo wurde schon 1992 etabliert, lange vor der Unabhängigkeit des Landes, als der Kosovo noch eine Provinz von Jugoslawien war. Nachdem Tausende von ethnischen Kosovo-Albanern aus Bereichen wie Bildung, Verwaltung, Medien oder Sport gedrängt wurden, bauten sie ihre eigenen Parallel-Institutionen auf.

„Es war damals sehr gefährlich. Die serbische Regierung erlaubte uns nicht, Staatsmeisterschaften zu organisieren. Wenn sie uns an einem Ort stoppten, zogen wir zu einem anderen weiter und organisierten uns neu“, erinnert sich Besim Hasani. Sein Name steht stellvertretend für die kosovarischen Bemühungen um eine Aufnahme in die olympische Bewegung. Seit seiner Wahl zum Präsidenten des olympischen Komitee des Kosovo 1996 bekleidet er das Amt ohne Unterbrechung.

Besim Hasani ist seit 1996 Präsident des NOC des Kosovo

Besim Hasani hat das Auftreten eines Politikers. Er weiß, welche Teile der kosovarischen Geschichte er erzählt. Er spricht von serbischen Vergewaltigungen, von der Unterdrückung der Kosovo-Albaner. Er verliert keine Worte über die Kriegstaten seiner Seite. Er ist ein Politiker.

Dies ist auch seine Geschichte.

Krieg

1998 brach im Kosovo die Hölle los. 480 Tage Krieg. Auf der einen Seite die "Befreiungsarmee des Kosovo" (UÇK), im späteren Verlauf unterstützt durch NATO-Bombardements. Auf der anderen Seite serbisch-jugoslawische Polizei- und Armeekräfte.

Tausende verloren ihr Leben, Hunderttausende mussten fliehen, nach Beendigung des Krieges 1999 wurde die Provinz unter UN-Regierung gestellt. Noch heute sind NATO-Einheiten im Kosovo stationiert.

„Wir hatten die IOC-Anerkennung sehr viel schneller erwartet, nachdem Serbien das Land verlassen hatte“, gesteht Hasani.

Welch ein Irrtum.

Ein erster Brief war dem IOC 2000 gar keine Antwort wert, dennoch konnte Hasani den Kontakt zu einem für seine Bemühungen enorm wichtigen Mann herstellen: Pere Miro, zuständig für die IOC-Beziehungen zu den nationalen olympischen Komitees.

Dies ist auch seine Geschichte.

Unabhängigkeit

Miro riet Hasani, dass der Kosovo die olympische Bewegung bewerben solle. Dieser klammerte sich an jeden Strohhalm, den er finden konnte. Nachdem er über ein deutsches Schulquiz zum Thema olympische Werte las, organisierte er eine ähnliche Veranstaltung im Kosovo – mit 130.000 teilnehmenden Kindern.

Hasani durfte die drei besten Schüler auf ihrem Trip zu den Olympischen Spielen in Sydney begleiten – sein Ticket ins Lobbying-Paradies.

In Australien erklärte Miro Hasani, welche Kriterien ein Land gemäß der Olympischen Charta für eine Anerkennung erfüllen müsse. Erstens mussten fünf nationale Verbände olympischer Sportarten von ihren jeweiligen internationalen Verbänden anerkannt werden, zweitens musste das Land von der „internationalen Gemeinschaft anerkannt sein“. Eine vage Definition.

Einzug mit Flagge: 2000 noch undenkbar

Klar war jedoch: Zuerst musste der Kosovo unabhängig werden. So rückte eine baldige IOC-Anerkennung in weite Ferne. Erst am 17. Februar 2008 spaltete sich die einstige Provinz schließlich von Serbien ab – von Ländern wie Russland, China oder Serbien wird die Unabhängigkeitserklärung bis heute nicht anerkannt.

2000 bis 2008, acht lange Jahre des Wartens ohne messbaren Fortschritt. Wie 1999 erwarteten sich die Menschen, dass es nach der Unabhängigkeit schneller gehen würde. Wie 1999 wurden sie enttäuscht.

Die Welt der Diplomatie ist eine langsame.

Dies ist auch ihre Geschichte.

Anerkennung

Vom zweiten Tag seiner Unabhängigkeit an begannen verschiedenste Staaten, den Kosovo offiziell anzuerkennen. „Unser Ziel war, von mehr als 50 Prozent der UN-Staaten anerkannt zu werden“, berichtet Hasani. Dieses Ziel wurde 2012 erreicht, aber die Frage blieb bestehen: Wann würde man vor den Augen des IOC als „von der internationalen Gemeinschaft anerkannt“ gelten?

„Thomas Bach mahnte mich wieder und wieder zu Geduld“, erzählt Hasani. Miro empfahl ihm, sich erst zu bewerben, wenn er „Signale erhielt“.

Mehr Warten.

Am 1. September 2014 hatte es ein Ende. Hasani besuchte Miro im IOC-Hauptquartier in Lausanne. Dort gab ihm der Spanier eine simple Anweisung: „Bereite die Bewerbung vor.“

Nachdem das Executive Board des IOC für eine provisorische Anerkennung des Nationalen Olympischen Komitees des Kosovo stimmte und der 127. IOC-Session eine endgültige Anerkennung empfahl, war Letzteres nur mehr Formsache.

Dennoch war es ein besonderer Tag. Am 9. Dezember 2014 wurde der Kosovo Teil des IOC. „Das war der schönste Tag meines Lebens“, lächelt Hasani.

Den Traum leben

Von da an durfte der Kosovo in sämtlichen Events unter IOC-Patronanz teilnehmen. Am Abend des 12. Juni marschierte Judoka Majlinda Kelmendi mit der kosovarischen Flagge in der Hand in das Olympiastadion von Baku ein und schrieb Geschichte für ihr Land.

„Erstmals konnten unsere Athleten auf diesem Level mit ihrer Flagge auftreten“, erzählt Hasani. Er ist ein bedächtiger Mann. Emotionen sind auf seinem Gesicht schwer zu finden, aber für einen kurzen Moment öffnet er sich.

„Es war fabelhaft. Es war fabelhaft.“

Wenn Besim Hasani jemals weinen würde, wäre das der Moment dafür.

Er tut es nicht.

Kelmendi war die logische Wahl zur Flaggenträgerin. Die Weltranglistenerste ist zweifache Weltmeisterin – 2013 gewann sie für den Kosovo, 2014 unter der Flagge des Judo-Weltverbandes. Ihr zweiter WM-Triumph fand in Russland statt, einem Land, das die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkannt hat und der Judoka deshalb Landesfarben und Nationalhymne verweigerte. Wie zum Trotz holte Kelmendi vor den Augen von Wladimir Putin Gold. Bei den Olympischen Spielen 2012 trat sie mangels Anerkennung des Kosovo noch für Albanien an.

Flagge ja, Edelmetall nein

Kelmendi wäre auch die logische erste Medaillengewinnerin ihres Landes gewesen, eine Trainingsverletzung zerstörte diese Hoffnungen aber vor dem Start des Bewerbs.

Gjakova (r.) schrieb für ihr Land Geschichte

Trotzdem war eine Judoka zur Stelle. Just an dem Tag, als Kelmendi um Edelmetall kämpfen sollte, bezwang Nora Gjakova die Niederländerin Sanne Verhagen im Kampf um Bronze in der Kategorie -57kg und sicherte dem Kosovo seinen ersten Platz auf dem Podium einer olympischen Veranstaltung.

„Ich bin enorm stolz, diese Medaille ist so besonders für mich und mein Land“, jubelte die 22-Jährige.

Ob Medaille oder nicht – die anderen Athleten profitieren gleichermaßen von ihren Erfahrungen. Nirgends trifft das geflügelte Wort „Dabeisein ist alles“ besser zu als auf den Kosovo.

19 großteils junge Kosovaren haben diese Chance in Baku bekommen.

Dies ist auch ihre Geschichte.

Building Bridges

„An einem olympischen Event teilzunehmen, war früher nur ein Traum. Jetzt, wo dieser Traum wahr geworden ist, ist es nicht nur ein Vergnügen sondern auch meine Pflicht“, sagt der Bogenschütze Hazir Asllani.

Der Radfahrer Qendrim Guri führt einen weiteren Vorteil an: „Ich werde die Erfahrungen, die ich hier mache, zu anderen Radfahrern mit nach Hause bringen und sie inspirieren. Ich lerne hier neue Dinge, die ich ihnen zu Hause lehren kann.“

Nach Jahrzehnten des Konflikts stehen sich viele Serben und (Kosovo-)Albaner nach wie vor ablehnend gegenüber.

Dafür interessiert sich in Baku niemand.

LAOLA1-Redakteur Schauhuber im Gespräch mit Hazir Asllani und Qendrim Guri

„Wir verstehen uns mit allen. Das ist Sport, wir machen hier keine Politik“, sagt Asllani bestimmt.

Die Bronzemedaillen-Gewinnerin Gjakova stimmt zu: „Politik und Sport sollte nicht vermischt werden. Wir haben nie Probleme mit unseren Gegnern, egal woher sie kommen.“

Sport zur Vorurteils-Bekämpfung

Laut Asllani können Auftritte im internationalen Sport auch Vorurteile niederreißen: „Manche Länder denken, wir wären anders. Wenn sie uns sehen, sehen sie, dass wir genau so sind wie sie. Sport kann helfen, Sichtweisen zu verändern.“

Für einige junge Kosovaren kann Sport mehr als nur die persönliche Sichtweise verändern. „Da wir keine Visa-Liberalisierung haben, ist der Sport der einzige Weg für die Jugend, ein Fenster außerhalb des Kosovos zu öffnen“, sagt Ardem Lila, der Chef de Mission in Baku.

Dieses Fenster kann nun die Form der olympischen Ringe annehmen.

Die Judoka Kelmendi und Gjakova streben in Rio 2016 Edelmetall an. „Ich arbeite hart dafür und glaube fest daran, dass ich eine Medaille holen werde“, deklariert sich Kelmendi.

Und dann wird dies auch ihre Geschichte sein.

 

Aus Baku berichtet Martin Schauhuber