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"Pirlo hat den Pass hinter die Kette perfektioniert"

Wirklich genehm dürfte ihm das nicht sein. Jeder will mit ihm sprechen, alle seine Meinung hören.

Dabei schweigt er doch viel lieber. „Er ist unser stiller Anführer. Er lässt seine Füße an seiner Stelle sprechen“, sagte Marcello Lippi bereits vor sechs Jahren.

Doch spätestens seit seinem phänomenalen Elfmeter gegen England ist Andrea Pirlo in aller Munde, muss sich zu Pressekonferenzen setzen und Fragen beantworten. Wenngleich er das eher widerwillig, wortkarg und schmallippig tut.

„In Italien ist es für gewöhnlich wichtig, groß in den Medien zu sein. Er war aber immer derjenige, der versucht hat, Ruhe zu bewahren und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren“, weiß Markus Schopp, der den 33-jährigen Italiener während seiner Zeit bei Brescia persönlich kennengelernt hat.

Als der Grazer im Sommer 2001 zum Serie-A-Klub kam, hatte Pirlo diesen soeben in Richtung AC Milan verlassen. „Der Kontakt zwischen ihm und meinen Kollegen war aber permanent vorhanden. Er war auch oft beim Training“, erinnert sich Schopp.

„Erfinder“ Mazzone

Brescia, der Heimatverein des Lombarden. Jener Klub, bei dem er sich die ersten Sporen verdiente. „Als er 1995 mit gerade einmal 16 Jahren sein Serie-A-Debüt gab, war uns allen klar, dass ein Star geboren wurde“, blickt sein damaliger Mitspieler Eugenio Corini zurück.

Brescia. Jener Klub, bei dem er während seines zweiten Engagements zu dem wurde, der er heute ist – ein Ballverteiler wie er im Buche steht.

Denn ursprünglich agierte der Kicker als offensiver Mittelfeldspieler und hängende Spitze. Doch dort war bei Inter, wo er von 1998 bis 2001 unter Vertrag stand, kein Platz für ihn. Leihzeiten bei Reggina und Brescia waren die logische Folge.

Bei Brescia hatte Trainer Carlo Mazzone schließlich die geniale Idee: Pirlo sollte hinter Stürmer Dario Hübner und Spielmacher Roberto Baggio agieren. Der Plan ging auf, der Stern des U21-Europameisters von 2000 ebenso. Nach nur einem halben Jahr unter Mazzones Fittichen war er dem AC Milan 18 Millionen Euro wert.

Guardiola: Vorbild und Nachfolger

Als Pirlo dann im Trikot der „Rossoneri“ auflief, bekam es auch Schopp zum ersten Mal auf dem Feld mit ihm zu tun. „Er war im Passspiel immer genial. Im Alter hat er die absolute Ruhe am Ball dazugewonnen. Auch unter Druck verliert er die Nerven nicht. Als jüngerer Spieler hat er da noch eher zu Fehlern geneigt. Diese Fehleranfälligkeit ist schwer zurückgegangen. Zudem hat er sein Passspiel noch verfeinert.“

Guardiola ist Pirlos Vorbild und Nachfolger

Der 33-Jährige aber sei ein solcher: „Er ist flexibel, funktioniert in unterschiedlichen Systemen sehr gut. Das hat er bei dieser EURO bisher auf eindrucksvolle Art und Weise bewiesen.“

"Die Verpflichtung des Jahrhunderts"

Beim AC Milan sahen sie das im vergangenen Sommer nicht so. Man legte keinen Wert mehr auf seine Dienste. Juventus griff zu.

„Ein Spieler auf seinem Niveau mit diesen Fähigkeiten, ganz zu schweigen davon, dass er ablösefrei war… Ich denke, er war die Verpflichtung des Jahrhunderts“, sagt Gianluigi Buffon, Goalie der Turiner. Was passierte, ist bekannt: Pirlo führte die „alte Dame“ ungeschlagen zum Meistertitel.

„Mit Antonio Conte hat er einen Trainer gefunden, der ihn in all seinen Stärken erkannt hat. Das System bei Juventus wurde auf ihn maßgeschneidert und er hat es mit seiner Leistung zurückgezahlt“, findet Schopp.

Der Pass in Perfektion

Und auch Teamchef Cesare Prandelli weiß den Routinier perfekt einzusetzen. Schopp: „Das Zusammenspiel der zentralen Spieler ist entscheidend. Claudio  Marchisio passt sehr gut zu Pirlo, aber auch Daniele de Rossi ist in seiner Funktion neben ihm ein interessantes Element. Es ist eine sehr tiefe Linie mit irrsinnig viel Kreativität und Qualität.“

Pirlos großes Vorbild auf seiner neuen Position war kurioserweise jener Mann, mit dem ihn Brescia ersetzt hatte: Pep Guardiola. „Er war DAS Vorbild: Seine Sicht auf das Spiel, seine Ruhe und seine Pässe“, sagte der Weltmeister von 2006 einmal.

Auch Schopp sieht Parallelen zwischen den beiden: „Sie waren idente Spielertypen: Physisch nicht schnell, dafür aber im mentalen Bereich. Sie haben oft geschalten, wenn die Gegner nicht einmal noch wussten, was zu tun ist. Sie hatten stets einen Gedankenvorsprung.“

Die Renaissance des Ballverteilers

Als der ehemalige Barcelona-Coach seine Spielerkarriere in Katar ausklingen ließ, sagte er in einem Interview: „Spieler wie ich sterben aus. Vor 20 Jahren hatten viele Klubs solche Charaktere, heute ist Pirlo der einzige, den ich noch sehe.“ Diese Aussage ist rund acht Jahre her. Dennoch mischt Pirlo gerade bei der EURO 2012 wesentlich jüngere Kicker auf.

Schopp hat eine Erklärung dafür: „Zwischendurch ist man von dieser Position in der Definition ein klein wenig weggekommen. Sie wurde eher zerstörerisch definiert. Claude Makelele hat zum Beispiel auf der Sechs eine ganz andere Rolle ausgefüllt.“

Aber: „Geschichte kann sich in abgeänderter Form oft wiederholen. Es gibt für die Position des Sechsers ganz unterschiedliche Ansätze. In Wahrheit müssen diese Spieler im modernen Fußball aber alle Funktionen erfüllen können – den Zehner spielen, den Achter, den Sechser und den Vierer. Das ist aber Wunschdenken, weil es solche Spieler ganz selten gibt.“

Der Trainer der Sturm-Amateure weiter: „De Rossi und Pirlo verfügen über eine unheimlich hohe Passqualität. Damit meine ich nicht nur den flachen Pass, sondern vor allem den Pass hinter die Abwehrkette. Pirlo hat ihn perfektioniert. Er kommt ansatzlos und völlig überraschend. Davon profitieren Spieler wie Mario Balotelli und Antonio Cassano.“

Zbigniew Boniek, die polnische Juve-Legende, drückt die Sicherheit in Pirlos Pässen plakativ aus: „Wenn man den Ball zu ihm spielt, ist es, als würde man ihn in einem Safe verstecken.“

Wertschätzung der Privilegien

Kein Experte würde ihm aktuell nicht das Attribut weltklasse zuschreiben. So auch Schopp: „Einfach und genial. Was er macht, ist sehr simpel, aber trotzdem sauschwer.“

Den Boden unter den Füßen verliert der Italiener deswegen aber nicht. Auch das zeichnet ihn aus.

„Die wahre Intelligenz, die er mitbringt, ist das Wissen, welch unglaubliches Geschenk er erhalten hat, dass er erfolgreich Fußballspielen darf. Das schätzt und ehrt er jeden Tag. In Gesprächen hatte ich immer das Gefühl, dass er die privilegierte Situation, in der er sich befindet, absolut wertschätzt“, betont Schopp.

Und deswegen ist es auch in Ordnung, sich hin und wieder doch der Journalisten-Meute zu stellen. Auch wenn dem brillanten Mittelfeld-Strategen viel lieber ist, mit den Füßen zu sprechen.


Harald Prantl