In unserem Format "Ansichtssache" versuchen wir, Meinungen, Stimmungen, Überreaktionen oder sonstige Ansichten jeglicher Art in eine These zu packen und zu analysieren.
Das kann mal provokant sein, mal eine oft gehörte Meinung. Mal sehr strittig, mal weniger. Mal eine Prognose, mal eine simple Einordnung.
Vor dem Start in die Eishockey-Weltmeisterschaft 2025 befassen sich Eishockey-Experte Maximilian Girschele und LAOLA1-Scout Bernd Freimüller mit vier Thesen, die von der Redaktion aufgestellt wurden:
1) Die starke WM 2024 macht eine Wiederholung unwahrscheinlich: Halbgas gibt es von den Top-Nationen gegen Österreich nicht mehr.

Maximilian Girschele:
Die Erinnerungen an den Tag nach der historischen Aufholjagd gegen Kanada sind noch frisch. Ich weiß noch genau, wie Finnlands Mikael Granlund meinte, Österreich sei zwar nicht zu unterschätzen, aber so etwas wie den Kanadiern werde den "Suomi" nicht passieren - tja.
Österreich ist längst kein Kanonenfutter der "Großen" mehr, sondern ein wirklich ernstzunehmender Gegner mit dem Potenzial, an guten Tagen jede Top-Nation fordern zu können. Alleine deshalb wird "Halbgas" für Kanada und Co. nicht mehr reichen, was wiederum der Beweis ist, dass etwas richtig gemacht wird.
Das ist einerseits ein Verdienst von Teamchef Roger Bader und seinem Staff, der seit Jahren auf ein klares System setzt. Andererseits wächst das individuelle Niveau - besonders jene Spieler, die im Ausland reifen, heben das Nationalteam mit.
Dennoch sollte niemand erwarten, dass solche historischen Ereignisse zur neuen Normalität werden. Österreich fährt am besten, wenn es auf seine Stärken vertraut und dabei demütig bleibt. Das vorrangige Ziel ist der Klassenerhalt, alles darüber hinaus ist und bleibt ein Bonus.
Bernd Freimüller:
59:59 Tor gegen Finnland, 59:11 gegen Kanada, allerdings auch der Verlusttreffer bei 59:09 gegen die Schweiz – so heroisch die Leistungen in der letzten Saison auch waren, war der (notwendige) Glücksfaktor auch größer als der Pechfaktor, wohl zum ersten Mal in der A-Geschichte Österreichs.
Das muss auch so sein, natürlich sind die Top-Nationen weiter weit höher gereiht, auch wenn die Kluft in den letzten Jahren kleiner geworden ist. Wohlgemerkt, wenn Österreich einigermaßen mit der stärksten Truppe antritt, mit den B-Teams stehen während der Saison selbst gegen schwächere Teams (höhere) Niederlagen an der Tagesordnung.
Diesmal fehlen doch eine Reihe von Stammspielern, das Aufgebot dünnt sich nach hinten etwas aus. Punkte gegen Top-Teams wären daher noch mehr eine Überraschung bzw. Zugabe als sonst. Es wäre schön, wenn ein Ausrutscher wie letztes Jahr gegen Großbritannien keine Auswirkung auf den Abstieg hätte, aber realistisch werden die Spiele gegen Frankreich und Slowenien, eventuell auch das Abschlussspiel gegen Lettland, entscheidend sein.
2) Halbe Heim-WM für ihn: Marco Kasper liefert mehr Scorerpunkte, als es Marco Rossi 2024 tat.

Bernd Freimüller:
Eine jener Denksportaufgaben, die sich nur Fans stellen – kein Mensch in der Branche käme auf solche Quervergleiche: "Spieler A hat 2023 mehr Punkte gemacht als Spieler B 2025, daher ist er besser."
Klar, Marco Kasper muss eine Schlüsselrolle einnehmen, noch dazu, wo mit Rossi und Benjamin Nissner zwei Spitzencenter nicht zur Verfügung stehen. Er ist auch – bei allem Respekt vor Nissner – der bessere Spieler, aber harmoniert Peter Schneider mit ihm ebenso gut wie mit seinem langjährigen Linienpartner?
Bei Teams mit mehreren NHL-Cracks im WM-Aufgebot werden diese nicht so forensisch verfolgt wie in Österreich, wo sie immer noch die Ausnahme sind. Kasper sollte ein gutes Turnier abliefern, wie sehr sich das in Scorerpunkten (vor allem gegen die Top-Teams) abbildet, traue ich mich nicht vorauszusagen. Aber der Quervergleich mit Rossi (musste erst nachschauen: 1 Tor & 6 Assists in 7 Spielen) ergibt sicher keinen Sinn...
Maximilian Girschele:
Da gehe ich mit - vor allem deshalb, weil es die Erwartungshaltung nur unnötig steigen lässt.
Rossi hatte in Prag einen schwierigen Start in die WM, wollte das Spiel, mit dem Wissen, die Fähigkeiten dafür zu besitzen, förmlich zerreißen. Die Folge war eine unübersehbare Verkrampftheit, bis der 6:6-Treffer gegen Kanada seinen Knoten löste.
Was hinzu kommt: Sie sind konträre Spielertypen. Rossi ist eher der Spielmacher als Kasper, was vor allem im Powerplay ersichtlich werden könnte. Der Kärntner hat dafür eine "Scheiß-mir-Nix"-Mentalität, die seine Teamkollegen mitreißen und gerade auf A-Niveau gewinnbringend sein könnte.
Außerdem wird Kasper für seine Linemates Schneider und Dominic Zwerger Räume schaffen, das war bereits gegen Kanada ersichtlich. Dann geht es darum, dass diese Lücken auch für Tore genutzt werden. Es wäre jedenfalls kein Wunder, wenn Kasper weniger Punkte als Rossi sammelt, doch mindestens genauso wertvoll sein wird.
3) Tolvanen überzeugt gegen Finnland, muss dann abreisen - und der ÖEHV steht mit einem gewaltigen Tormann-Problem da.

Maximilian Girschele:
Ich mache mir wenig Sorgen um unsere Tormänner.
Natürlich kann es jederzeit passieren, dass seine hochschwangere Frau das gemeinsame Kind zur Welt bringt. In diesem Fall ist klar geregelt: Tolvanen darf nach Helsinki reisen und den Moment mit seiner Familie verbringen. Ob er nach ein, zwei oder drei Tagen zurückkehrt, entscheidet er selbst - und das ist auch gut so.
Doch selbst wenn Tolvanen nicht zurückkommen sollte, steht das ÖEHV-Team im Tor keineswegs blank da. David Kickert hat international mehrfach bewiesen, dass er verlässlich ist. Und Florian Vorauer hat mit starken Auftritten gegen Tschechien und Ungarn gezeigt, dass man auch ihm vertrauen kann.
Schon im Vorjahr hat es ohne Tolvanen funktioniert. Notfalls gelingt das auch diesmal.
Bernd Freimüller:
Das wäre ohnehin noch die Optimalversion, wenn Tolvanen am Beginn des Turniers Vater wird und nicht zu den Schlüsselspielen abreisen muss. Das Negativ-Szenario: Die Geburt lässt lange auf sich warten, Tolvanen greift in jeder Drittelpause als erstes zum Handy, um die News aus der Heimat zu checken und ist dementsprechend abgelenkt.
Klar, David Kickert ist jederzeit da, aber die letzte WM war auch die erste, wo er überzeugte. Egal, ob er oder Tolvanen (dessen Beinarbeit so gut ist wie die von Kickert und Vorauer kombiniert) – gegen Frankreich und Slowenien sollten sich eher keine "soft goals" einschleichen.
Zu sagen, dass Vorauer – den ÖEHV-Assistant Coach Kirk Furey in Klagenfurt nur alle heiligen Zeiten in den Kasten stellt – bei einer A-WM spielen kann, ist für mich eine mehr als nur verwegene Aussage. Aber dritte Goalies kommen bei Österreich nur ganz selten und dann meist mit eher fragwürdigen Leistungen (Lukas Herzog) zum Einsatz.
Hoffen wir, dass Frau Tolvanen Eile an den Tag legt und Bader bzw. Goalie-Coach Reinhard Divis die Entscheidung zwischen Tolvanen und Kickert vor jedem Spiel nicht aus der Hand genommen wird.
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4) Der Heimvorteil half Finnland und Tschechien, nun beendet Schweden die fünfjährige Gold-Wartezeit.
Bernd Freimüller:
Ich möchte in keinem Wettbüro arbeiten, wo jetzt schon die WM-Quoten gelegt werden müssen, da die Endkader bei einigen Teams nicht einmal annähernd vorausgesagt werden können. Lottozahlen sind nur ungleich schwerer auszuwählen als der Namen des zukünftigen Weltmeisters – wer hätte wirklich in der letzten Saison auf Tschechien gesetzt?
Selbst wenn der Heimvorteil ein solcher wäre (und keine Belastung) – Viertel-, Halb- und Finale werden in einem Spiel entschieden, da kann selbst ein starkes Team schnell ausscheiden.
Schweden wird sicher ein gutes Team zusammenstoppeln, dafür stehen schon Leute wie Mika Zibanejad, Leo Carlsson oder Rasmus Dahlin. Sie als Gold-Favoriten auszurufen, wäre für mich verwegen, egal ob das Turnier in Stockholm oder Tahiti stattfindet.
Maximilian Girschele:
Ich würde mich absolut nicht darauf festlegen wollen. Klar, der Kader liest sich gut, doch letztes Jahr waren auch 19 NHL-Spieler dabei - trotzdem reichte es nur zu Bronze.
Eine Heim-WM bringt zudem die Frage der Nerven auf. Manch eine Nation kann die grenzenlose Unterstützung beflügeln, Tschechien ist das beste Beispiel dafür. Vielleicht findet ja auch noch ein Plausch mit den Gold-Helden von Stockholm 2013 statt.
Doch der Druck, der ohne jeden Zweifel auf den Spielern lasten wird, kann schnell zum unabziehbaren Hemmpflaster werden. Der Favoritenkreis umfasst wieder fünf bis sechs Teams, darunter Kanada mit Sidney Crsby, der wohl nicht nur für einen schönen Urlaub nach Stockholm kommen wird.
Fest steht: Diese WM bringt alles mit, um wieder zum echten Highlight zu werden.