Die Vertragsposse zwischen Jorge Martin und Aprilia hat am vergangenen Wochenende eine neue Eskalationsstufe erreicht.
Im Rahmen des Grand Prix der Niederlande in Assen bekräftigte Martins Manager Albert Valera in Vertretung seines Klienten erneut den Standpunkt, dass der Spanier ab 2026 frei sei und sich einem neuen Hersteller anschließen dürfe.
Die Antwort von Aprilia folgte prompt, das italienische Werksteam beharrt weiterhin auf den bis Ende 2026 laufenden Vertrag und weicht keinen Zentimeter vom eigenen Standpunkt ab. Die Fronten sind verhärtet, es droht ein Rechtsstreit.
Und Martin könnte sogar eine Sperre für die Saison 2026 riskieren. LAOLA1 beleuchtet, wie es zu dieser brisanten Situation kam.
Worum geht es überhaupt?
Mitte Mai berichteten erste Medien, dass Martin seinen Ausstieg bei Aprilia plane.
Demnach informierte er das Team am Rande des Grand Prix von Frankreich in Le Mans über seine Entscheidung.
Der Spanier hatte nach seinem Abschied von Ducati ursprünglich einen Zweijahresvertrag unterschrieben, sieht sich aber durch eine Klausel berechtigt, das zweite Jahr zu annullieren.
Auf welche Klausel beruft sich Martin?
Der amtierende Weltmeister ließ sich eine leistungsbasierte Klausel in sein Arbeitspapier schreiben.
Diese besagt: Wenn Martin nach dem Grand Prix von Frankreich nicht mehr zu den Titelanwärtern zählt, darf er nach einem Jahr wieder gehen.

Nach mehreren schweren Stürzen und Verletzungen hat der 27-Jährige bisher nur das Auftaktrennen (Katar) bestritten und steht nach 10 von 22 Wochenenden ohne WM-Punkte da.
Marc Márquez führt die Gesamtwertung mit 307 Zählern an.
Warum ist Aprilia anderer Meinung?
Das italienische Team erkennt die Klausel grundsätzlich an, ist jedoch der Ansicht, dass sie bei einer solch langen Verletzungspause ihre Gültigkeit verliert.
Außerdem beweist Aprilia in den letzten Wochen einen starken Aufwärtstrend. Marco Bezzecchi, Martins Teamkollege, gewann Ende Mai in Silverstone - nur knapp zwei Wochen, nachdem die Berichte um Martin aufgekommen waren.
Zuvor war Aprilia zugegebenermaßen im Niemandsland und der schlechteste Konstrukteur. Mittlerweile hat sich das Bild gewandelt, Aprilia ist hinter Ducati die zweite Kraft und Bezzecchi liegt nach einem zweiten Platz in Assen in der WM auf Rang sechs.
Was sagt Martin selbst?
Am 29. Mai bezog der Spanier auf Instagram selbst Stellung zur Thematik.
"Ich habe den Vertrag zu keinem Zeitpunkt verletzt. Beim Abschluss war ich mir mit Aprilia einig, dass ich mir das Recht vorbehalte, meine Zukunft für 2026 selbst zu bestimmen, falls bestimmte Bedingungen nicht erfüllt werden."
"Angesichts der im Vertrag festgelegten Frist habe ich mich entschieden, mein Recht auf Vertragsauflösung für 2026 auszuüben."
"Als ich mich zum Wechsel entschloss, war eine meiner zentralen Bedingungen, das Motorrad unter realen Bedingungen zu testen und die Arbeitsweise des Teams kennenzulernen. So konnte ich mit Vertrauen für zwei Jahre unterschreiben, statt nur für ein Jahr - deshalb wurde diese Bedingung aufgenommen."
"Angesichts der im Vertrag festgelegten Frist habe ich mich entschieden, mein Recht auf Vertragsauflösung für 2026 auszuüben. Ich habe das stets mit Respekt, Transparenz und mit dem Ziel getan, meine Zukunft als Sportler selbst in die Hand zu nehmen."
"Leider haben die durch die Unfälle bedingten Umstände - auch wenn sie die Vereinbarung nicht verändern - diese Phase beeinflusst. Deshalb war ich immer offen für einen Dialog mit Aprilia, um diese Evaluierungsphase auf eine bestimmte Anzahl an Rennen ab meiner Rückkehr zu verlängern."
Allerdings scheint das Tischtuch inzwischen zerschnitten.
Gab es ähnliche Fälle?
Ja, und Martin war sogar selbst beteiligt.
2020 war er bei KTM in der Moto2 unter Vertrag. Der Kontrakt sah auch einen Aufstieg in die MotoGP im folgenden Jahr vor. KTM wollte ihn schon für 2020 hochziehen, doch Martin wollte zunächst den Moto2-Titel gewinnen.
KTM stimmte zu, doch eine Klausel wurde ihnen zum Verhängnis. Sollte bis 30. Juni 2020 kein KTM-Pilot unter den Top 10 der MotoGP-Wertung liegen, könnte er zu einem anderen Hersteller wechseln.
Wegen der coronabedingten Verschiebung des WM-Starts war bis zu diesem Datum kein Rennen gefahren worden. Martin nutzte die Lücke, unterschrieb bei Pramac-Ducati und wurde 2024 Weltmeister. KTM schaute dagegen durch die Finger und verlor widerwillig eines seiner größten Talente der jüngeren Vergangenheit.
Wie lautet der aktuelle Stand?
Martins Rehabilitation hält an, die MotoGP-Ärzte haben ihm am Montag nach einer Untersuchung das Comeback in zwei Wochen am Sachsenring verboten.
Aus dem Auge, aus dem Sinn ist der Spanier deshalb aber nicht. In Assen gab sein Manager Albert Valera ein - wohl bewusst platziertes - Update, das für neue Aufregung sorgte.
Man sieht sich weiterhin im Recht: "Ich kann sagen, dass Jorge für 2026 frei ist. Für uns ist das ziemlich klar. Wir halten uns an den Vertrag und dieser beinhaltet eine Klausel, die Jorge genützt hat. Das ist sein Recht. Er ist damit verfügbar und offen, für einen anderen Hersteller zu schreiben", betonte Valera.
Aprilia hingegen veröffentlichte noch am Samstag eine Mitteilung: Man halte unverändert am Ende 2026 auslaufenden Vertrag fest, Angebote anderer Teams an einen vertraglich gebundenen Fahrer seien zudem rechtlich nicht zulässig.
Wie sehen die MotoGP-Bosse die Lage?
Natürlich nicht positiv, soll der Fokus doch auf dem Sportlichen liegen.
Deshalb sah sich Dorna-Geschäftsführer Carmelo Ezpeleta auch zu einem Machtwort gezwungen. "Verträge müssen erfüllt oder in beiderseitigem Einvernehmen aufgelöst werden. Wenn es zu einem Rechtsstreit kommt, muss ein Richter entscheiden, welche Partei im Recht ist", sagte er.
Der Spanier ist seit 1991 bei der Dorna und als CEO für den Rechteinhaber der MotoGP tätig. Sein Wort hat Gewicht. Der 79-Jährige forderte, dass Martin die Vertragssituation mit Aprilia einwandfrei kläre. Ansonsten droht ihm der Ausschluss von der kommenden MotoGP-Saison.
"Weder die Dorna noch die MSMA oder die IRTA werden die Einschreibung eines Fahrers in die Weltmeisterschaft akzeptieren, der nicht vertragsfrei ist - sei es durch richterliche Entscheidung oder durch eine Einigung mit der anderen Partei."
Ezpeleta machte unmissverständlich klar: "Weder die Dorna noch die MSMA (Herstellerbund, Anm.) oder die IRTA (Teamvereinigung, Anm.) werden die Einschreibung eines Fahrers in die Weltmeisterschaft akzeptieren, der nicht vertragsfrei ist - sei es durch richterliche Entscheidung oder durch eine Einigung mit der anderen Partei."
"Aprilia sagt, es existiert ein gültiger Vertrag mit Martin, während sein Manager Valera erklärt, er sei frei. Damit wir die Anmeldung akzeptieren, müssen sich beide Parteien einigen oder ein Richter muss über den Fall entscheiden."
Hat sich Aprilia nochmal geäußert?
Ja. Aprilia bekräftigte in Assen erneut die eigene Position.
Motorsportchef Massimo Rivola erklärte: "Wenn der Fahrer gehen möchte, muss jemand klären, dass er frei ist - das werden nicht wir sein, sondern gegebenenfalls ein Richter."
Man sei jederzeit bereit, sich an einen Tisch zu setzen. Doch bis dahin bleibe die Position eindeutig: "Wenn der Fahrer und sein Manager gehen wollen, weil sie anderswo Super-Millionen-Angebote haben, interessiert mich das wenig - er bleibt bei uns", so Rivola.
Wie geht es weiter?
Es läuft alles auf einen Rechtsstreit hinaus.
Rivola betonte: "Ich werde selbstverständlich alles tun, um das Unternehmen zu schützen, für das ich arbeite. Wenn dieser Schritt unumgänglich ist, dann werden wir ihn auch gehen."
Man sieht sich in einer guten Position. "Ich kenne den Vertrag, ich kenne die Fakten, und ich weiß, wie die italienische Rechtsprechung aussieht - die vielleicht nicht mit der englischen vergleichbar ist. Insofern bin ich absolut gelassen", so Rivola.
Wo könnte Martin überhaupt hingehen?
Die wahrscheinlichste Option lautet Honda.
Das Werksteam sucht seit Marquez’ Abgang dringend einen Topfahrer. Weder Ex-Weltmeister Joan Mir noch Luca Marini konnten bislang überzeugen, selbst Routinier Johann Zarco stiehlt ihnen im Satellitenteam LCR die Show.

Die Japaner versuchten ihr Glück bereits bei KTM-Youngster Pedro Acosta, die Mühe hätte man sich jedoch sparen können. Der Spanier sagte ab, weil Honda aktuell nicht in der Lage ist, um die WM mitzufahren. Außerdem wäre für Acosta eine enorm hohe Strafzahlung gegenüber KTM fällig geworden.
Danach kam Martin ins Spiel, der genauso wie Acosta von Valera gemanagt wird. Aus seiner Sicht spricht vor allem das Finanzielle für Honda und gegen Aprilia. Rund zehn Millionen Euro pro Jahr werden kolportiert. Sogar Rivola war sich sicher, dass Martin ein lukratives Angebot von Honda vorliege.
Wie steht Honda dazu?
Teammanager Alberto Puig bekräftigte erst am Sonntag in Assen, dass man keine Verträge mit Fahrern unterzeichnen werde, die bei einem anderen Team ein laufendes Arbeitspapier besitzen.
"Das ist eine Angelegenheit zwischen Aprilia und Jorge. Das muss klar sein", so Puig gegenüber MotoGP.com. "Wenn er aus dem Vertrag herauskommt, dann werden wir das zur Kenntnis nehmen."
Honda müsse sich sicher sein, was man macht. Deshalb gebe es keine Frist, wann Martins Situation aus eigener Sicht geklärt sein muss. "Wir können warten. Um es offen zu sagen: Wir stehen nicht unter extremem Zeitdruck. Wir werden sehen, was letztlich dabei herauskommt. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen."
Was bedeutet der Streit für Martin?
Sein Image hat bereits stark gelitten.
In den Sozialen Medien mehren sich kritische Stimmen, die Sympathien für den Spanier scheinen verflogen. Seine märchenhafte Story aus dem Vorjahr - erster MotoGP-Weltmeister in einem Satellitenteam - ist längst in Vergessenheit geraten.
Stattdessen regieren Kopfschütteln und Unverständnis über eine Vertragsposse, die ihr Ende noch längst nicht gefunden hat.
Martin hätte das neue Aushängeschild des Motorrad-Sports werden können. Nun droht er, vom gefeierten Champion zum Protagonisten eines der größten Skandale der MotoGP-Geschichte zu werden.