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Sündenbock Southgate

England bleibt seit 55 Jahren titellos! EM-Finale vercoacht, Kritik geerntet.

Sündenbock Southgate Foto: © getty

Ein sehenswertes Schauspiel bis zum Finale, eine Tragödie zum Schluss.

England hat es wieder nicht geschafft, wieder einmal wurde den Briten ein Elfmeterschießen zum Verhängnis. 55 Jahre des Wartens sind noch nicht genug, die Titellosigkeit gehört weiterhin zum Image der Three Lions. Die eher wie kleine Kätzchen mit verheulten Augen vom Platz schlichen, die man tröstend zu gerne in den Arm genommen hätte.

(Fast) alles richtig gemacht hatte das Mutterland des Fußballs, sechs Spiele lang entfachte das junge Team eine Euphorie, verstärkt durch den Londoner Heimvorteil im Großteil der Spiele. 120 Minuten war auch im Finale alles eitel Wonne, zumindest beinahe.

Doch am Ende muss ein Sündenbock dafür den Kopf hinhalten, der wieder einmal bei einer EURO versagt hat: Gareth Southgate. Der englische Teamchef verballerte 1996 im EM-Semifinale gegen Deutschland selbst einen Elfmeter im Wembley-Stadion und ließ den Traum vom EM-Finale daheim zerplatzen. Diesmal traf er in allerletzter Sekunde die falschen Entscheidungen.

"It's coming home" bleibt ein Wunschtraum

Die Entwicklung, der Umschwung, der Umbruch - die vergangenen Jahre verdeutlichten, dass England zurück zu altem oder noch besser neuem Ruhm will und alles dafür unternimmt (So hat es England zurück an die Weltspitze geschafft >>>).

Dieser Aufschwung rückte auch Spieler wie Marcus Rashford, Jadon Sancho oder Bukayo Saka in den Blickpunkt - sie sollten als goldene Generation das schaffen, was zuletzt 1966 gelang, nämlich einen Titel auf die Insel zu holen.

"It's coming home" blieb auch diesmal ein Wunschtraum, da sich Southgate vercoachte. Anstatt als Held der fußballverrückten Engländer in die Geschichte einzugehen, wird seine Finalniederlage noch lange als Schmach in Erinnerung bleiben.


(Text wird unter dem Video fortgesetzt)

Weil England so nah dran war. Führung durch Shaw nach nur zwei Minuten, doch schon dann schaltete man einen Gang zurück, ging kein Risiko mehr ein und ließ so die Italiener besser zurück ins Spiel kommen. Die logische Konsequenz: Ausgleich, Glück in einigen Momenten, um nach 120 Minuten den eigentlichen Albtraum eines jedes Engländers zu erreichen: Das Elfmeterschießen!

"Oh no! Not again" - Southgate verzockte sich

Der englische "Mirror" titelte: "Oh no! Not again." The Yorkshire Post schrieb: "England's Euros dream is dashed in penalty shootout." Zerschmettert also der Traum, auf den man so lange erfolgreich hingearbeitet hatte.

Der "Daily Express" meinte: "Es schmerzt...aber wir sind so stolz auf euch." Die "Daily Mail" merkte pointiert an: "Alles endet in Tränen." Da Southgate die falschen Entscheidungen traf und im Elfmeterschießen auf die falschen Schützen setzte.

Am Roulettetisch heißt es: "Rien ne va plus - nichts geht mehr." Southgate hat sich verzockt und die betroffenen Spieler müssen nun mit dem Ruf leben, ihren Beitrag dazu geleistet zu haben, dass England nicht Europameister wurde.

Der Teammanager war überzeugt von seiner Idee, wechselte extra in der letzten Minute der Verlängerung sowohl Rashford als auch Sancho ein - sie sollten beim Penalty die Kohlen aus dem Feuer holen. Saka war auch erst ab der 70. Minute im Spiel. Vor Selbstvertrauen strotzte keiner aus diesem Trio. Die ersten zwei schmorten die EM lang großteils auf der Bank, Saka durfte öfters ran, nahm aber im Finale vorerst nur auf der Bank Platz.

Rashford, Sancho und Saka - (diesmal) nicht die richtige Wahl

Während die Routiniers Harry Kane und Harry Maguire verwandelten, versagten den Youngsters die Nerven. Bis Minuten vor ihrer Einwechslung hätten sie möglicherweise auch gar nicht mehr damit gerechnet, dass Southgate doch noch einen Plan mit ihnen hatte.

"Das war nicht besonders glücklich. Mich stört so ein bisschen die Balance zwischen Erfahrung und Jugendlichkeit", wunderte sich etwa Michael Ballack bei "MagentaTV".

Auch Hertha-Sportdirektor Fredi Bobic war perplex, als Arsenal-Rohdiamant Saka ran musste: "Dass als Letzter ein 19-Jähriger schießen muss, als fünfter Schütze. Das hat mich schon erstaunt. Puh, da hat er sich auch ein bisschen verpokert bei den Einwechslungen am Ende."

Dabei muss angemerkt werden, dass Rashford und Sancho normalerweise als sehr sichere Elferschützen gelten - nur nicht diesmal, nicht nach so einer aus ihrer Sicht verkorksten EM, nicht in diesem Moment.

Und Southgate so: "Wir wussten, dass sie die besten Schützen waren, die noch auf dem Platz standen. Das wird ihnen das Herz zerreißen, aber sie trifft keine Schuld daran, es war meine Entscheidung als Trainer."

Keane und Mourinho kritisieren Southgate

Dafür muss er auch Kritik einstecken, dafür sind England, die Presse und vor allem ehemalige Größen bekannt. Ex-Man-United-Star Roy Keane kann Southgates-Entscheidungen nicht nachvollziehen.

"Wenn du Sterling oder Grealish bist, kannst du nicht dort sitzen und ein junges Kind wie Saka vor dir zum Elfmeter schicken. Das geht nicht", ärgerte sich der Ex-Profi bei "ITV". "Du kannst nicht einen schüchternen 19-Jährigen vorschicken. Die anderen hätten viel mehr Erfahrung, Sterling hat Trophäen gewonnen, die müssen vorne weg gehen vor dem jungen Kind und aufstehen."

Auch der Neo-As-Roma-Coach Jose Mourinho war bei "talkSPORT" überrascht: "Bei der Entscheidung der Elfmeterschützen: Ich denke, es ist hart, Saka als Letzten schießen zu lassen. Es ist hart für ein Kind, alles auf seinen Schultern zu haben in diesem Moment. Es tut mir leid für ihn." Auch Mou fragte: "Wo waren Sterling, John Stones oder Luke Shaw in dieser Situation?"

Hoch anrechnen will Mourinho seinem Trainerkollegen Southgate jedoch, dass dieser ein Gentleman sei, der sich immer vor seine Spieler stellen wird. Dass einer nicht bereit für das Elferschießen gewesen wäre, wird man von ihm nicht hören. Dafür muss sich Southgate umso mehr anhören.

Southgate: "Es war ein Glücksspiel"

Wäre die Wahl der Schützen aufgegangen, wäre Southgate der gefeierte Held gewesen, nun muss er sich verantworten und evaluiert werden, ob er weiterhin der richtige Mann für diesen schlagkräftigen Kader ist, dessen (Offensiv-)Potenzial nur zum Teil ausgeschöpft wurde - das muss er sich trotz Ergebnisfußballs mit solider Defensive und Zielspielern in der Offensive ebenso ankreiden lassen.

"Es war ein Glücksspiel", sieht Southgate selbst keine großen Fehler an seiner fatalen Entscheidung. "Wenn wir früher im Spiel gezockt hätten, hätten wir das Spiel vielleicht in der Verlängerung verloren. Ich habe mich für die Jungs entschieden, die die Schüsse ausführen."

Das große Drama und das Ende der englischen Party binnen weniger Sekunden war die Folge. "Es ist die verheerendste Art zu verlieren", weiß auch Ex-Stürmer Alan Shearer.

Was Rashford, Sancho und Saka jetzt ausbaden müssen, weiß Southgate selbst aber am besten. Vor der EURO verdeutlichte der Teamchef, welche Folgen sein Fehlschuss von 1996 für ihn persönlich hatte: "Ich habe ihn mehr als 20 Jahre mit mir herumgetragen. Ich habe damals unter Druck versagt. Und die Jungs, wie auch alle anderen, haben darunter gelitten."

Mit der falschen Entscheidung dürfen dies die Unglücksraben nun ausbaden, wohl ähnlich lange wie Soutgate damals - oder noch länger. Denn damals war es "nur" ein Semifinale im eigenen Land, diesmal ein Finale.


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