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"Wie wenn ein Mensch auf eine Vogelspinne trifft"

Mailand ist heiß auf das bedeutendste Derby della Madonnina seit zwei Jahrzehnten. LAOLA1 hat mit den Fanklubvertretern beider Lager gesprochen.

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Es ist kein Spiel, wie jedes andere, das am Mittwoch im Champions-League-Halbfinale auf dem Programm steht. Das "Derby della Madonnina" zwischen Inter Mailand und der AC Milan versprüht unter Fans einen ganz besonderen Esprit und zählt zu den legendärsten Derbys in Europa und auf der ganzen Welt.

Einst 1899 als ein Verein gegründet, spaltete sich Inter zehn Jahre danach ab und die Rivalität war geboren. Aus dem Milan-Rot wurde das Inter-Blau. Doch es trennt sie mehr als eine Farbe. Fan eines der beiden Klubs zu sein, ist eine nicht widerrufbare Grundsatzentscheidung.

Einmal Milan, immer Milan. Einmal Inter, immer Inter. Doch Tifosi der beiden Klubs gibt es schon seit jeher weit über die Landesgrenzen hinaus - so auch in Österreich.

LAOLA1 hat vor dem emotional hoch aufgeladenen Duell mit den Mitgliedern der rot-weiß-roten Fanclubs beider Seiten gesprochen. Da gibt es auf der einen Seite den "Inter Club Austria" und auf der anderen Seite den gerade in Gründung befindlichen "AC Milan Club Vienna".

Jüngstes Duell weckt (un)liebsame Erinnerungen

Erst zum zweiten Mal überhaupt stehen sich die AC Milan und Inter Mailand im Semifinale der Königsklasse gegenüber. Das jüngste Duell im Jahr 2003 ist auf der einen Seite in freudiger, auf der anderen in schmerzvoller Erinnerung.

Das Hinspiel endete 0:0. Im Rückspiel trennten sich beide Teams mit 1:1 und da damals noch die Auswärtstorregel galt und Inter dabei das "Heimteam" war, mussten die "Nerazzurri" die Segel streichen.

Andrey Shevchenko brachte Milan in Führung, Obafemi Martins traf spät zum Ausgleich, am Ende reichte es für Inter aber nicht.

Milan zog ins Finale ein, wo man gegen einen weiteren Ligarivalen die Oberhand behielt. Marcelo Lippis Juventus Turin wurde im Elfmeterschießen besiegt.

Nun, 20 Jahre später, treffen sich die beiden Kultklubs erneut zum Duell um das Finale. Bei den Fans kribbelt es schon seit Wochen und Mailand glich schon Tage vor Anpfiff des Spiels einem Hexenkessel.

Vor 20 Jahren trafen beide Klubs schon einmal im CL-Halbfinale aufeinander.
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Über die sportlich Brisanz des Duells bedarf es keiner umfassenden Ausführung. Doch wie blicken die Fans auf das bedeutendste Mailänder Derby in den letzten zwei Jahrzehnten?

Die Historie der beiden Klubs hier aufzuführen, würde den Rahmen sprengen. Zu viele Erfolge wurden gefeiert, beide Klubs gewannen zusammengezählt zehn Mal die Königsklasse. Bei dem Gedanken daran geraten sowohl Simeon vom "AC Milan Club Vienna", wie auch Lukas vom "Inter Club Austria" ins Schwärmen.

"Saison mit Mourinho war das Größte"

Zweiterer denkt besonders gerne an den bisher letzten Titel 2010 zurück. "Das ist eigentlich nicht zu toppen", so Lukas über den Champions-League-Triumph vor mittlerweile 13 Jahren.

"Diese Saison mit Jose Mourinho als Trainer war das Größte und wird auch das Größte bleiben", meint der Inter-Tifoso. Diego Milito schoss im Finale den großen FC Bayern München per Doppelpack ins Tal der Tränen.

Auch für sein Gegenüber liegt einer der denkwürdigsten Momente noch gar nicht so lange zurück. Für Simeon sei es die "Rückkehr der AC Milan in die Champions League". Diese gelang vor zwei Jahren.

Was international keine ganz so große Beachtung fand, war für viele Fans ein Meilenstein, denn die "Rossoneri" hatten eine Pleiten, Pech und Pannen-Phase hinter sich. Simeon blickt zurück: "Nach der Übernahme durch Li Yonghong (von Silvio Berlusconi 2016, Anm.) herrschte im Verein pures Chaos und niemand unter uns Fans dachte, dass das jemals aufgeräumt werden könnte."

In den Jahren 2016 bis 2020 reichte es nur zu dreimal Rang sechs und einmal Rang fünf.

Es sei "eigentlich kein Ende in Sicht" gewesen, meint der Milanisti - ehe Paolo Maldini das sportliche Zepter übernahm und gemeinsam mit Trainer Stefano Pioli das heutige Erfolgsteam aufbaute.

Paolo Maldini: Fortsetzung einer Cinderella-Story

Damals und heute ein Anführer bei den "Rossoneri": Paolo Maldini.
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Paolo Maldini - ein Held vergangener Tage, Rekordspieler der AC Milan (über 1000 Pflichtspiele) und jener Mann, der die “Rossoneri” als Sportdirektor wie den Phönix aus der Asche auferstehen ließ.

"Er ist ohne Frage die größte Legende bei Milan", schwärmt Simeon. "Ich würde sogar sagen, dass er nicht nur die größte Milan-Legende ist, sondern sogar eine der größten Legenden überhaupt im Sport", fährt er fort. Für ihn ist auch klar: "Wenn mir jemand ankommt mit einer Legenden-Elf ohne Paolo Maldini, dann kann ich die nicht ernst nehmen."

Dass es gerade Maldini ist, der Milan zu alter Stärke führt, sei "ein Märchen", sagt Simeon. "Viel schöner geht es nicht." Unter den Fans ist die Liebe für den heute 54-Jährigen unendlich groß.

Auch seine Bedeutung in seiner aktuellen Funktion werde oftmals unterschätzt. Maldini sei ein enormer Faktor. Bei Transfers und Vertragsgesprächen mache es "einfach einen Unterschied, ob dich ein Paolo Maldini anruft oder ein Luis Campos von PSG", streicht er hervor. "Es ist einfach das größte Glück, jemanden wie ihn zu haben", sagt der Milan-Tifoso.

"Es macht einfach einen Unterschied, ob dich ein Paolo Maldini anruft oder ein Luis Campos von PSG."

Simeon, Mitbegründer des "AC Milan Club Vienna"

Inter-Legende Zanetti "ist immer geblieben"

Und wie sieht es bei Inter-Fan Lukas aus? "Da gibt es viele", meint er und nennt exemplarisch Giuseppe Bergomi, Walter Zenga, Ronaldo und Javier Zanetti.

"Für die Fans ist sicher Javier Zanetti die größte Legende", erklärt er. Der Argentinier kam als 21-Jähriger von Banfield zu den "Nerazzurri" und verbrachte dort fast seine ganze Profikarriere. Knapp 900 Spiele hat er für Inter absolviert.

Abgesehen von seinen Leistungen als Spieler wird er von den Fans für seine ewige Treue geliebt, die bis heute anhält. Mittlerweile ist Zanetti Vize-Präsident des Klubs. "Er hätte oft zu besseren Vereinen wechseln können und ist aber immer geblieben", sagt Lukas.

Javier Zanetti absolvierte fast 900 Spiele für Inter.
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Zanetti erlebte auch die bitterste Derby-Stunde der Geschichte mit. Wie es der Zufall will, ist es am Mittwoch auf den Tag genau 22 Jahre her, dass Inter gegen Milan mit 0:6 unterging und die höchste Derby-Niederlage aller Zeiten bezog.

"Ja, daran kann ich mich noch erinnern", meint Lukas. "Aber natürlich versucht man als Fan das zu verdrängen", sagt er lachend. Denn natürlich sei man von den Milan-Fans danach "lange damit aufgezogen worden".

Viel lieber denkt er an die jüngste Vergangenheit, als sich Inter 2021 unter Antonio Conte den "Scudetto" sichern konnte. "Es war überragend, nach zehn Jahren wieder einmal Meister zu werden", sagt er.

Die "revolutionäre" Ära Berlusconi

Milans ganz große Jahre liegen ebenfalls schon einige Zeit zurück. Ende der 1980er-Jahre übernahm SIlvio Berlusconi die Geschicke der "Rossoneri" und führte sie zu neuen Höhenflügen. Am Ende sollte es die erfolgreichste Ära in der Vereinsgeschichte werden.

"Berlusconi als politische und private Person einmal außen vor gelassen, hat man es damals mit Arrigo Sacchi als Trainer geschafft, den Sport auf eine gewisse Art zu revolutionieren", erinnert sich Simeon. "Plötzlich wurden Dinge wie Viererkette, Pressing und Abseitsfalle implementiert." Milan gewann unter Sacchi, der von 1987 bis 1991 amtierte, zweimal die Königsklasse sowie einen "Scudetto".

Rund 15 Jahre danach setzte man unter Carlo Ancelotti zu einem weiteren Höhenflug an. Wieder sprangen ein "Scudetto" und zwei Champions-League-Titel heraus.

Der Kader habe damals einer "Weltauswahl" geglichen, sagt Simeon. Da kann man ihm kaum widersprechen. Namen wie Maldini, Nesta, Pirlo, Kaka, Rivaldo, Inzaghi, Sevchenko und Vieri tummelten sich damals im Team der “Rossoneri”.

"Zu diesem Zeitpunkt war die Serie A das, was heute die Premier League ist", erklärt Simeon.

Als "Il Fenomeno" die Inter-Tifosi verzückte

Zu jener Zeit verzückte bei Inter ein gewisser Ronaldo Nazario da Lima die Herzen der Inter-Fans. "Durch ihn bin ich damals Inter-Fan geworden, für mich ist er einer der besten Spieler aller Zeiten", schwärmt Lukas von jenem Kicker, den sie in Mailand bis heute “Il Fenomeno” nennen.

Bei Inter wurde Ronaldo zu "Il Fenomeno".
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Verletzungsbedingt absolvierte er "nur" 68 Spiele für Inter, in diesen gelangen ihm aber 49 Volltreffer.

Seither hat sich vieles im Fußball geändert, nur die Liebe der Fans zu ihren Klubs - sie ist bis heute gleich geblieben. "Emotionen, Freude und Leidenschaft", seien die ersten Worte, die ihm einfallen, wenn er an Inter denke, sagt Lukas.

Sein Gegenüber Simeon sieht Milan als "ein Stück Fußballgeschichte. Ein sehr edler und feiner Klub" und immerhin sei man "nach wie vor der Klub mit den zweitmeisten Titel in der Königsklasse", unterstreicht er.

Nach schwierigen Jahren heißt die Gegenwart für beide mittlerweile erneut Champions League, in den jeweiligen Fanlagern wird dem "Derby della Madonnina" im Halbfinale in höchstem Maße entgegengefiebert.

Für beide Seiten gilt: Verlieren verboten! Siemon bringt es auf den Punkt: "Die Schmach des Ausscheidens gegen Inter ist größer, als jede erdenkliche Freude, die ein Finale bringen könnte."

"Die Schmach des Ausscheidens gegen Inter ist größer, als jede erdenkliche Freude, die ein Finale bringen könnte."

Mailänder Derby: Wie "Mensch gegen Vogelspinne"

Lukas zeigt sich glücklich, überhaupt in diese Situation gekommen zu sein. "Zunächst einmal ist es schön, dass Inter überhaupt im Halbfinale ist. Es gab ja in der jüngeren Vergangenheit Jahre, in denen man gar nicht in der Champions League gespielt hat", spricht er die mageren Jahre zwischen 2010 und 2020 an.

Simeon zieht für die Ausgangslage vor dem hochbrisanten Derby einen ganz besonders plastischen Vergleich heran: "Das ist, wie wenn ein Mensch auf eine Vogelspinne trifft. Beide haben voreinander Angst, aber nur einer von beiden kann dem Anderen wirklich schaden. Es ist eben die Frage: Will man der Mensch sein oder die Spinne?"

Die Stimmung in der Stadt gleicht vor dem Spiel einer Hochspannungsleitung. "Natürlich sind alle nervös, die Luft in Mailand wird man schneiden können", meint Simeon. "Ich war schon auf ein paar Derbys, Mailand brennt da natürlich immer", ergänzt Lukas.

Finale gegen City? "Maldini hat mehr CL-Titel als der ganze Verein"

Klar ist für die beiden Fans freilich auch, wer weiterkommt. "2:1 Milan", tippt Simeon für das Hinspiel. "Milan kommt dann natürlich auch weiter." Und Lukas? "Ich tippe auf ein 1:1 und dass Inter Milan im Rückspiel schlägt und so am Ende weiterkommt."

Im Finale träfe man dann auf Manchester City oder Real Madrid. Simeon hofft insgeheim auf einen Finalgegner City und kann sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen: "Sollte es Manchester City ins Finale schaffen, hat bei Milan der Sportdirektor mehr Champions-League-Titel als bei City die ganze Mannschaft." Das trifft übrigens auch auf Javier Zanetti zu. 

Sollte einer der beiden Klubs am Ende tatsächlich die Champions League gewinnen, würden Maldini oder Zanetti dadurch wohl endgültig in den Gottesstatus erhoben.


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