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Kommentar: Sind Erwartungen an Demir zu hoch?

ÖFB-Talent nach U19-EM-Auftakt erneut mit harscher Kritik konfrontiert. Kommentar:

Kommentar: Sind Erwartungen an Demir zu hoch? Foto: © GEPA

Rund 17,86 Quadratmeter misst die Fläche eines Fußballtores. Wären es nur wenige Quadratzentimeter mehr, wären die letzten Monate in der jungen Karriere von Yusuf Demir wohl anders verlaufen.

Knapp sieben Monate ist es mittlerweile her, dass der 19-jährige Wiener sein Champions-League-Startelfdebüt für den großen FC Barcelona gab und dabei beinahe zum Matchwinner avancierte.

Einzig die Unterkante der Querlatte hatte damals etwas dagegen, dass Demir die "Blaugrana" am fünften Spieltag der "Königsklasse" mit einem wunderbaren Schlenzer zu einem Sieg über Benfica Lissabon und damit ins Achtelfinale schoss und sich so selbst für ein fixes Engagement in Barcelona empfahl.

Seither ist viel passiert. Obwohl Demir sich zu diesem Zeitpunkt im Aufwärtstrend in Katalonien befand, wurde er nach dem Benfica-Spiel mit Ausnahme eines Kurzeinsatzes nicht mehr berücksichtigt. Der Grund war, dass Barcelona die ab dem zehnten Einsatz greifende, mit zehn Millionen Euro dotierte Kaufpflicht vermeiden wollte.

Also ging es für Österreichs ersten Barcelona-Kicker seit Hans Krankl im Winter zu seinem Stamm- und Heimatverein SK Rapid zurück, und das – und das kam überraschend – in einer dürftigen körperlichen Verfassung.

In Hütteldorf spielte Demir im Frühjahr nicht die erhoffte Rolle und konnte nur ein Tor beisteuern. Um wieder in die Spur zu kommen, hilft er aktuell erstmals seit zweieinhalb Jahren beim von Martin Scherb trainierten 2003er Jahrgang des ÖFB aus, der sich sensationell für die U19-EM qualifizierte.

Hier schließt sich der tragische Kreis: Demir stand beim Auftaktmatch der EM gegen England in der Startelf und hatte das zwischenzeitliche 1:2 und damit eine spannende Schlussphase auf dem Fuß – doch wieder war das Tor um Zentimeter zu klein und Aluminium im Weg.

Demir ist nicht Messi

Nach seinem Stangenschuss sah sich der Wiener nicht zum ersten Mal mit harscher, teils untergriffiger Kritik in den sozialen Medien und in Fußballforen konfrontiert. Obwohl er bei der 0:2-Pleite noch einer der offensiv auffälligeren ÖFB-U19-Kicker war, wurde er vielerorts hauptverantwortlich für die Niederlage gemacht.

Man kann sich vorstellen, was ständige Missgunst und anonymer Hass aus dem Internet mit einem seit Kurzem 19-Jährigen machen. Interview-Anfragen lehnt der Teenager momentan kategorisch ab. Wohl auch, um sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen.

Aber auch die durchaus berechtigte, sachliche Kritik schießt oftmals über das Ziel hinaus.

Obwohl Demir oft mit Lionel Messi verglichen wird und er auch selbst den argentinischen "Zauberfloh" als großes Idol bezeichnet, kann man nicht erwarten, dass er jedes Spiel im Stile des argentinischen Weltklassefußballers im Alleingang entscheidet - auch nicht im Juniorenbereich.

Vorneweg: Demirs Leistung gegen England in Banska Bystrica war weit weg von der Perfektion. Er verschleppte das Spiel nach österreichischen Ballgewinnen oftmals unnötig, anstatt den schnellen Weg in die Spitze zu suchen, viele Ideen waren zu kompliziert gedacht und gingen ins Leere und ein unnötiger Ferserlpass in der eigenen Hälfte hätte beinahe mit einem Gegentor geendet.

Einer der Stars bei der U19-EM

Aber im Fußball ist eben auch nicht alles schwarz und weiß. Demir war beim EM-Auftakt immer anspielbar, verbuchte neben seinem technisch hochwertigen Stangenschuss auch die zweitgrößte österreichische Möglichkeit und rochierte taktisch variabel immer wieder zwischen dem rechten Flügel und der Zehnerposition hin und her. Seine Spielfreude ließ er sich auch von den großgewachsenen englischen Verteidigern, die ihn speziell zu Beginn ordentlich abklopften, nicht nehmen.

Die öffentliche Erwartungshaltung gegenüber Demir ist freilich eine andere als bei seinen ÖFB-Teamkollegen. Seit Jahren wird der Linksfuß als größtes rot-weiß-rotes Talent angesehen und jeder, der dem kleingewachsenen Dribblanski schon Mal beim Kicken zugesehen hat, versteht warum.

Von allen Spielern bei der U19-Europameisterschaft hat er nach dem aus dem Burgenland stammenden Engländer Carney Chukwuemeka (geteilt) den zweithöchsten Marktwert; neben Demir haben nur ganz wenige EM-Teilnehmer bereits Minuten in der Champions League sammeln dürfen. Ein "Königsklassen"-Startelfeinsatz war außer dem Wiener noch keinem anderen Turnierteilnehmer vergönnt.

Dennoch sollte man bei der Leistungsbeurteilung nicht zweierlei Maß anlegen, Demir war beim Auftakt mit Sicherheit nicht der schwächste Österreicher am Feld. Trotzdem blieb an ihm die meiste Kritik hängen.

In den abschließenden beiden Gruppenspielen gegen Israel und Serbien wird Demir, sofern fit, wieder seine Chance bekommen. Es ist davon auszugehen, dass er dann mehr Raum zur Entfaltung bekommen wird, als gegen ein robustes, mannorientiert verteidigendes England.

Ein Erfolgserlebnis, sei es nur ein entscheidender Assist, würde Demir in der aktuellen Phase gut tun. Sollte dem ÖFB-U19-Team gar der Aufstieg ins Halbfinale und die damit verbundene WM-Qualifikation gelingen, würde das auch beim Wiener den Knoten lösen und wieder etwas mehr Leichtigkeit in sein Spiel zurückkehren.

Erwartungshaltung muss zurückgeschraubt werden

Die U19-Europameisterschaft ist für Demir auch die große Chance, sich wieder in die Auslage zu spielen, nachdem sein Marktwert zuletzt gehörig sank. Viel wichtiger ist aber, dass der hochveranlagte Teenager wieder zu sich selbst und zur Unbeschwertheit der letzten Jahre findet.

Der sommerliche Umbruch beim SK Rapid könnte auch ihm gut tun. Vielleicht nutzt er ihn dazu, um endlich ein unumstrittener Stammspieler in Hütteldorf zu werden. Aber auch ein Transfer zurück ins Ausland ist natürlich weiterhin ein Thema, auch wenn die sonst so heiß brodelnde Gerüchteküche zuletzt ruhig blieb.

Die teils übertriebene Erwartungserhaltung gegenüber dem eher schüchternen Wiener sollte besser langsam aber sicher auf ein angemessenes, gesünderes Niveau herabgesenkt werden. Das gilt sowohl für die Öffentlichkeit als auch für Österreichs Sportmedien - LAOLA1 eingeschlossen.

Natürlich ist es Blödsinn, wenn Demir nach einem schwierigen Halbjahr, in dem er vor allem mit seiner Fitness zu kämpfen hatte, die Bundesligatauglichkeit abgesprochen wird. Genau so hirnrissig ist es allerdings, davon auszugehen, dass der Teenager in jedem Spiel Wunderdinge vollbringt und bei jeder nicht gelungenen Aktion alles in Frage zu stellen.

Demir hat das Zeug dazu, eine sehr gute Karriere zu machen, vielleicht wird er auch an die Weltklasse heranschnuppern. Es ist aber keinem geholfen, die Leistungen des 19-Jährigen an einer unrealistischen Erwartungshaltung zu messen.

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