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Wahnsinn in Haching: Die Geburtsstunde von “Vizekusen”

Ein trister Tag im Mai 2000 sollte ein bis heute währendes Trauma bei der "Werkself" auslösen. Ein Protagonist von damals blickt bei LAOLA1 zurück.

Wahnsinn in Haching: Die Geburtsstunde von “Vizekusen” Foto: © GEPA

Den 20. Mai 2000 werden Fans von gleich drei Vereinen wohl nie vergessen. Es war ein recht kühler Samstag, tristes Wetter erwartete Bayern München, die SpVgg Unterhaching und Bayer 04 Leverkusen beim Saison-Finale der Deutschen Bundesliga.

Ebenso trist sollte der Tag für die "Werkself" werden, der das Kunststück gelang, den bereits sicher geglaubten ersten Meistertitel der Vereinsgeschichte noch zu verspielen. Es sollte ein Trauma werden, das den Klub bis heute verfolgt.

"Samstag, 17:15 Uhr sind wir Meister. Basta!"

Drei Punkte betrug der Vorsprung auf die Bayern vor dem letzten Spiel. Als Gegner wartete Underdog Unterhaching auf das Team von Christoph Daum, die Bayern mussten zeitgleich im Münchner Olympiastadion gegen Werder Bremen ran.

Die Meisterschaft war also mehr oder weniger entschieden. Bayern konnte sich nur noch an den Strohhalm Torverhältnis klammern, welches vor dem Spiel um drei Tore besser war, als jenes von Leverkusen.

"Letztes Spiel Unterhaching, die letzte Hürde und die nehmen wir auch noch. Samstag, 17:15 Uhr, sind wir Meister. Basta!", tönte Daum im Vorfeld. Man sei auf Sieg programmiert und nicht mehr aufzuhalten. Eine Aussage, die in den Folgetagen schlecht altern sollte.

Einen entscheidenden Anteil daran sollte Markus Oberleitner haben. Der 50-Jährige, dessen Sohn seit Sommer 2023 beim GAK kickt, spielte bei den Hachingern damals im offensiven Mittelfeld und später auch zwei Jahre beim FC Kärnten (2001-2003).

"Die Augen von ganz Fußball-Deutschland waren auf uns gerichtet. Wir haben das Spiel herbeigesehnt und uns sehr darauf gefreut", meint er gegenüber LAOLA1.

"Bärendienst" der Hachinger Stadion-Regie an Bayer

Samstag, 20. Mai, 15:30 Uhr. Die Spiele in München sowie im nur 17 Kilometer entfernten Unterhaching werden pünktlich angepfiffen.

Die Bayern agieren gegen Andi Herzogs Bremer staubtrocken, schon nach zwei Minuten köpft Carsten Jancker die Elf von Ottmar Hitzfeld in Führung. Zehn Minuten später wiederholt er das Kunststück - 2:0.

Währenddessen spielen sich nur einen Katzensprung weiter südöstlich unerwartete Szenen ab. Leverkusen beginnt gegen Haching offenkundig verunsichert. Der Druck, den einen noch nötigen Punkt zu holen, lastet sichtlich schwer auf der "Werkself". Auch deswegen, weil die Hachinger Stadion-Regie über die Anzeigetafel die Bayern-Treffer unverhohlen kundtut.

"An einem letzten Spieltag ist die Drucksituation natürlich extrem. Da ist alles möglich. Und wir haben das im Spiel dann schon gemerkt, dass bei Leverkusen nicht alles so leicht von der Hand geht", erzählt Oberleitner.

Unter den Fans war man sich bereits sicher: Die Schale geht nach Leverkusen.
Foto: © GEPA

Dass Leverkusen wackelt, habe sich daran gezeigt, dass "einmal der ein oder andere einfache Fehlpass oder ein technischer Fehler" passiert sei.

Wenige Momente nach Paulo Sergios 3:0 für die Bayern nach nur 16 Spielminuten passiert das Unfassbare: Im Hachinger Sportpark trifft Leverkusen-Star Michael Ballack. Allerdings ins eigene Tor - 1:0 für den Außenseiter, der plötzlich an der Sensation schnuppert. "Tja, was denkt man da? Scheiße, ne", blickt Ballack zum traurigen Jubiläum 2020 darauf zurück. Die Einblendung der Spielstände in München habe man natürlich mitbekommen, was zusätzlich zur Last wurde.

"Hätte das Spiel während der Saison stattgefunden, hätte uns Leverkusen wahrscheinlich aus dem eigenen Stadion geschossen."

Markus Oberleitner

Dass sich diese Gelegenheit für den Underdog überhaupt auftat, lag also vor allem in den besonderen Umständen begründet. So sieht es auch Oberleitner: "Wenn man die Spieler auf ihren Positionen eins zu eins gegenüberstellt, dann war das, wie ihr in Österreich sagt, 'a gmahte Wiesn' für Leverkusen. Hätte das Spiel während der Saison stattgefunden, hätte uns Leverkusen wahrscheinlich aus dem eigenen Stadion geschossen", ist auch ihm klar.

Doch nach dem Ballack-Malheur sei die Verunsicherung bei Leverkusen spürbar geworden. "Wir sind dadurch immer mutiger aufgetreten. Wir hatten ja auch überhaupt nichts zu verlieren, sondern nur zu gewinnen", erinnert sich Oberleitner.

In München nimmt das Spiel indes seinen Lauf. Für Bremen erzielt Marco Bode nach Herzog-Assist fünf Minuten vor der Pause den Anschlusstreffer - es sollte der letzte in diesem Spiel bleiben.

Pause in München, Pause in Haching. "In der Halbzeit war uns eigentlich klar, dass wir das noch schaffen", erinnert der damalige Bayer-Star Ulf Kirsten.

Und tatsächlich: Nach dem Seitenwechsel ist bei Leverkusen dann immerhin der Ansatz von Gefahr zu erkennen, doch diese resultiert hauptsächlich aus Standardsituationen. "Als die Zeit dann immer weniger wurde, schwand auch das Selbstvertrauen immer mehr", gibt Kirsten Einblick ins Innenleben der Bayer-Elf.

Oberleitner schreibt mit und für Haching Geschichte

Während die Partie in München dem Ende entgegenplätschert, trägt sich Markus Oberleitner für immer in die Annalen seiner Hachinger, aber auch in jene der Bayern ein.

Der Jubel bei Oberleitner (r.) kannte nach seinem Treffer keine Grenzen.
Foto: © GEPA

In der 72. Minute bugsiert er eine Flanke von Jochen Seitz per Kopf haargenau ins lange Eck. Oberleitner dreht zum unbändigen Jubel ab, reckt beide Fäuste gen eigenem Anhang, während die Leverkusener Spieler in sich zusammensacken.

Dabei wäre das Tor beinahe gar nicht gefallen, wie der 50-Jährige offenbart. "Jochen Seitz hatte den Ball auf dem linken Fuß. Ich habe kurz überlegt, ob ich den Laufweg überhaupt machen soll", schildert Oberleitner. Der Grund: "Jochen Seitz und sein linker Fuß waren nicht die besten Freunde", meint der Torschütze augenzwinkernd.

Es sei schon die Absicht gewesen, den Ball ins lange Eck zu legen, "aber dass der dann so reingeht, war herausragend", hat sich Oberleitner ein wenig selbst überrascht.

Knapp 20 Minuten später ist die Sensation perfekt, Unterhaching bringt den haushohen Favoriten zu Fall. "Wir haben es in 90 Minuten nicht geschafft, Fußball zu spielen", meinte Michael Ballack später.

Die Szenen nach Schlusspfiff haben sich bis heute ins Gedächtnis der Fans eingebrannt. Ein Michael Ballack, der wie ein Häufchen Elend auf der Leverkusener Bank kauert, getröstet von Teamkollege Carsten Ramelow ("Er denkt vielleicht, das ist seine Schuld, was aber absoluter Schwachsinn ist"). Christoph Daum, dem hemmungslos die Tränen aus den Augen schießen.

"So etwas zerreißt einem die Seele", bringt Ballack nach Spielende seine Emotionen zum Ausdruck, während in München bereits mit Champagner und einer falschen (!) Meister-Trophäe gefeiert wird. Das Original befindet sich da noch in Unterhaching und wird erst später nachgeliefert.

Bayern-Feier mit Haching: Mehr Mythos als Mega-Fete

"Wir haben uns natürlich außerordentlich über den Sieg gefreut. Aber wenn man diese Szenen miterlebt, hat man natürlich auch Mitgefühl mit Leverkusen, weil sie wirklich so knapp dran waren", kann Oberleitner den Schmerz bei Daum & Co. auch heute noch nachempfinden.

"Es war so, dass wir nur auf uns geschaut haben. Dass wir Bayern dadurch zum Meister gemacht haben, war zweitrangig."

Markus Oberleitner

Danach wurde gemeinsam mit den Münchnern, auf Einladung von Uli Hoeneß persönlich, gefeiert. Ein Mythos, dem Oberleitner aber ein wenig den Wind aus den Segeln nimmt.

Man habe sich ja ohnedies gekannt, habe mit dem einen oder anderen Bayern-Kicker zwischendurch immer wieder "einen Kaffee getrunken. Ich hatte eine Bayern-Vergangenheit, andere Spieler hatten eine Bayern-Vergangenheit (wie beispielsweise Andre Breitenreiter und Dennis Grassow, Anm.). Von daher würde ich die Einladung gar nicht überbewerten. Da haben sich auch Freunde getroffen, um den jeweiligen Erfolg mit einem Bierchen abzurunden".

Generell sei es nicht darum gegangen, den Bayern unter die Arme zu greifen. "Es war so, dass wir nur auf uns geschaut haben. Dass wir Bayern dadurch zum Meister gemacht haben, war zweitrangig", betont er.

"Vizekusen" - ein Trauma, das bis heute lastet

Das Bild der feiernden Bayern sowie der am Boden zerstörten Leverkusener blieb aber bei allen Beteiligten hängen. Es sollte die Geburtsstunde "Vizekusens" sein. Ein Begriff, der seither im "Fußball-Duden" seinen festen Platz hat. Auch deswegen, weil die "Werkself" in den Jahren danach viel dafür tat, um dieses Stigma zu festigen.

Unter Xabi Alonso ist Bayer auf einem guten Weg. Oberleitner würde Leverkusen die Meisterschaft gönnen.
Foto: © getty

In der Saison 2001/2002, die wahrscheinlich beste, die der Klub je gespielt hat, verlor man innerhalb kurzer Zeit das Rennen um die Meisterschaft gegen Dortmund, das DFB-Pokal-Finale gegen Schalke und das Champions-League-Finale gegen Real Madrid. Auch 2009/2010 hatte man unter Jupp Heynckes lange eine Hand an der Schale, blieb die ersten 24 Runden ungeschlagen, ehe der Einbruch folgte.

"Es ist jetzt 24 Jahre her, dass das passiert ist. Ich würde Leverkusen einfach auch einmal den Titel wünschen. Sie sind dieses Jahr auf einem sehr, sehr guten Weg. Mit einem überragenden Trainer und einer überragenden Mannschaft. Vielleicht schließt sich in diesem Jahr der Kreis, dass sie in diesem Jahr die Meisterschaft feiern können", hofft Oberleitner.

Auf dem Weg, "Vizekusen" auszuradieren

Obwohl die Ereignisse nun fast ein Vierteljahrhundert zurückliegen, ist das Spiel auch heute noch allgegenwärtig. Speziell in diesen Tagen, steht doch das direkte Duell zwischen den Bayern und Leverkusen bevor (Samstag ab 18:30 Uhr im LIVE-Ticker>>>).

Auch Markus Oberleitner wird heute noch auf die damaligen Ereignisse angesprochen. "Die jungen Leute waren damals ja teilweise noch gar nicht geboren, die kennen mich natürlich nicht mehr in diesem Ausmaß. Aber wenn ich Leute aus meinem Semester treffe und die fußballbegeistert sind, wissen sie mit dem Namen Oberleitner schon ein bisschen was anzufangen", schildert er.

Seinen Platz in den Geschichtsbüchern hat er sicher. Ebenso wie "Vizekusen" - das unter Xabi Alonso aber auf dem besten Weg ist, das "Tattoo" vom ewigen Zweiten mit der Meisterschale zu überzeichnen. Das Saisonfinale am 18. Mai bestreitet Leverkusen übrigens wieder gegen einen Klub aus Bayern: den FC Augsburg. Diesmal aber vor heimischer Kulisse. Es wäre also wieder einmal alles angerichtet für die "Werkself".


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