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Wer soll die Olympischen Spiele 2022 ausrichten?

Wer soll die Olympischen Spiele 2022 ausrichten?

Peking und Almaty. Wintersport-Bastionen sehen anders aus.

Und dennoch werden die Olympischen Winterspiele 2022 in Chinas Hauptstadt oder in Kasachstan stattfinden.

Ursprünglich waren auch traditionsreichere Wintersport-Zentren interessiert, zahlreiche europäische Standorte brachen die Bewerbung nach negativen Volksabstimmungen ab. So waren die Bürger von München, Graubünden (St. Moritz und Davos), Stockholm oder Krakau gegen Olympische Spiele vor ihrer Haustüre, Lviv zog seine Bewerbung wegen der Krise in der Ukraine vorzeitig zurück.

Auch in Österreich gab es Bewerbungsgedanken, ein gemeinsamer Antrag von Tirol, Südtirol und Trentino scheiterte aber schon in den Kinderschuhen am Veto des Trentino. Außer in Lviv war bei allen Rückziehern die Angst vor ausufernden Kosten entscheidend – kein Wunder, nachdem die Spiele in Sotschi 2014 knapp 51 Milliarden Dollar verschlungen haben sollen.

So gingen mit Peking, Almaty und Oslo drei finale Bewerbungen ins Rennen – bis das norwegische Parlament eine Finanzierungsgarantie ablehnte und die Bewerbung damit zurückzog. 2013 waren noch 55% der Bürger Oslos für eine Bewerbung, nach und nach kippte die öffentliche Meinung aber. Beispielsweise stieß ein 7.000-seitiger Forderungskatalog des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) bei Bevölkerung wie Parlament auf wenig Verständnis. Darin forderte das IOC unter anderem eine Cocktailparty mit dem norwegischen König – selbstverständlich auf dessen Rechnung.

Eine Gemeinsamkeit

Freitagvormittag zwischen 10 und 12 Uhr mitteleuropäischer Zeit vergibt das IOC im Rahmen seiner 128. Session in Kuala Lumpur nun das Großereignis 2022. Die Bewerbungen von Peking und Almaty haben durchaus Unterschiede, aber auch eine verheerende Gemeinsamkeit: Beide Länder verletzen routinemäßig Menschenrechte, Presse- oder Versammlungsfreiheit gibt es laut der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ nicht.

Chinas Regierung zensiert das Internet und verhaftet immer wieder Aktivisten von Nichtregierungs-Organisationen. „Die Botschaft ist: ‚Wenn du Kritik übst, werden wir dich im Interesse der Gesellschaft aufhalten, ins Gefängnis werfen, vom Internet trennen und deine Organisation schließen‘“, analysiert der Menschenrechts-Forscher Joshua Rosenzweig.

Auch Kasachstans Weste ist mehr rot als weiß. Das Land ist nur auf dem Papier eine Demokratie, Präsident Nursultan Nasarbajew regiert seit 1990, gewann bei der letzten „Wahl“ 98 Prozent der Stimmen. 2011 beendete die Polizei Streiks gewaltsam, zwölf Menschen starben. Dieser Vorfall läutete eine Phase des harten Durchgreifens gegen Regierungskritiker und unabhängige Medien ein. Ein Oppositionsführer musste nach einem offensichtlich unfairen Prozess siebeneinhalb Jahre ins Gefängnis, auch eine simple Teilnahme an friedlichen Protesten kann hinter Gittern enden.

Homophobie an der Tagesordnung

Im Mai 2015 segnete das Parlament ein Gesetz ab, das die „Propaganda von nicht-traditioneller sexueller Orientierung“ verboten – also wie in Russland Homo, Bi- und Transsexuelle diskriminiert hätte. Der Verfassungsrat legte sein Veto ein und verhinderte das Gesetz. Wohlgemerkt nicht wegen des Inhalts, sondern wegen seiner zu vagen Formulierung. Eine Neuauflage ist offiziell nicht vom Tisch.

Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch beklagen, dass das Klima für die LGBT-Gemeinschaft unerträglich sei. Bei Überfällen vor Schwulenbars sei mit Hilfe der Polizei nicht zu rechnen, zu Homosexualität zu stehen ist ein Risiko.

Das und vieles mehr kollidiert mit der Agenda 2020, dem Paradeprojekt des IOC-Präsidenten Thomas Bach. Ein Reformpaket über 40 Empfehlungen, die vergangenen Dezember beschlossen wurden – einstimmig, wie Bach gebetsmühlenartig betont. Die Agenda verbietet Ausrichtern der Spiele unter anderem, nach sexueller Orientierung zu diskriminieren – eine Durchsetzung des angestrebten Gesetzes wäre damit freilich völlig inkompatibel.

Viele Unterschiede

Ausgerechnet die Agenda 2020 ist aber auch die größte Chance von Almatys Bewerbung. Die ersten vier Empfehlungen des Papiers (Hier zum Download) widmen sich unter anderem den zentralen Punkten Kostenreduktion und Nachhaltigkeit – zwei Angelegenheiten, in denen Almaty dem Kontrahenten aus Peking um Meilen voraus ist.

Acht der vorgesehenen Sportstätten in der kasachischen Millionenstadt gibt es bereits, drei werden Olympia-unabhängig für die Winter-Universiade 2017 gebaut. So würde ein Zuschlag nur für drei Neubauten in und um Almaty sorgen, im Fall von Peking wären es doppelt so viele. Soweit die offizielle Version. Der für lokale Medien und die New York Times tätige kasachische Journalist Ruslan Medelbek zweifelt diese im Gespräch mit LAOLA1 an: „Wir haben viele Sportstätten für die Asien-Spiele 2011 gebaut, aber nicht nach olympischen Standards. Ich denke, dass wir sie um- oder neu bauen müssten. Unsere Regierung sagt, dass wir die für die Universiade 2017 gebauten Anlagen wiederverwenden würden, aber ich glaube das nicht.“

Kurze Strecken, lange Strecken

Ein weiterer Fokuspunkt der kasachischen Bewerbung sind die für Olympische Spiele ungewöhnlich kurzen Distanzen. Sämtliche Sportstätten befinden sich in einem Radius von 30 Kilometern um das olympische Dorf, ein krasser Gegensatz zum chinesischen Plan. Der am weitesten entfernte Event-Cluster Zhangjiakou (Snowboard und Nordische Bewerbe) liegt 193 Kilometer von Peking entfernt, auch zu den Ski-Hängen und Bob-Bahnen von Yanqing sind es aus der Hauptstadt rund 90 Kilometer.

Abhilfe soll eine Hochgeschwindigkeitsbahn schaffen, die die Reisezeit von drei Stunden auf 50 Minuten bzw. von 90 auf 20 Minuten drücken soll. Bei den Baukosten trickst das Bewerbungskomitee: Die Bahn würde ohnehin gebaut, damit müssen die inoffiziell kursierenden fünf Milliarden Dollar nicht offengelegt werden und ins Olympia-Budget einfließen.

Während sich dieses bei beiden Bewerbungen zwischen drei und vier Milliarden Dollar bewegt, stehen Kostenexplosionen nach der Vergabe der Spiele an der Tagesordnung – für Vancouver 2010 musste die kanadische Regierung ungeplant Geld nachschießen, Sotschis Endabrechnung spottete jeder Planung.

Angesichts dessen enthüllte Kasachstan im Juni einen 75 Milliarden Dollar schweren Staatsfonds, um etwaige Finanzierungssorgen des IOC zu beschwichtigen. Dieses hatte zuvor die Abhängigkeit des zentralasiatischen Staates vom Ölpreis bemängelt.

„Ich fürchte, es könnte sehr teuer werden“, berichtet der in Almaty lebende Medelbek. Und was halten die Menschen davon? „Der Staat und der Präsident wollen diese Spiele. Sehr viele Menschen wissen gar nichts über Olympia, deshalb ist es schwer, ihre Meinung herauszufinden.“

Ein echtes Gebirge

Bonuspunkt drei der Almaty-Bewerbung sind die natürlichen Gegebenheiten. Die Stadt liegt am Fuß des Tian Shan-Gebirges und hat noch aus Sowjet-Zeiten etwas Wintersport-Tradition. Einige Sportstätten wie das mitten in den Bergen gelegene Eisschnelllauf-Outdoor-Oval Medeo oder die in Sichtweite zur Innenstadt aufragenden Skisprungtürme sind Augenweiden.

Die Einwohner interessiert das dennoch nur mäßig. „Wintersport ist in Kasachstan nicht populär, da wir keine guten Resultate einfahren“, erklärt Medelbek. Die letzte Winter-Goldmedaille Kasachstans holte Vladimir Smirnow 1994 in Lillehammer, nach 1998 durfte das junge Land überhaupt nur mehr zwei Mal über Edelmetall jubeln.

China ist da mit neun Medaillen in Sotschi 2014 wesentlich erfolgreicher, dennoch wird der Schnee in Peking nicht vom Himmel fallen. Die Berge im Norden der Stadt sehen im Dezember und Januar etwa drei Zentimeter Niederschlag, der Untergrund für Skifahrer und Co. müsste also praktisch komplett aus Schneekanonen kommen. Hier melden Umweltaktivisten aufgrund des hohen Wasserverbrauchs Bedenken an, so sagt Hu Kanping von „Friends of Nature“: „Natürlich sollten sie [in den Bergen nördlich von Peking, Anm.] keine Skiresorts haben.“

Vieles spricht für Peking…

Trotz Almatys mustergültig an die Agenda 2020 angepasste Bewerbung gilt Peking als Favorit. Und das hat simple Gründe: Die aufstrebende Volkswirtschaft China ist ein wesentlich größerer Markt, das Land hat weitaus mehr Lobbying-Power. Entscheidend könnte aber etwas anderes sein: Die Sommerspiele 2008. Diese galten als voller Erfolg, das IOC war mit der Organisation zufrieden. Eine harte Währung in Zeiten von zu spät fertiggestellten Sportstätten und verspäteten Budget-Diskussionen wie derzeit in Tokio, wo die Konzeption des Olympiastadions angesichts der hohen Baukosten neu ausgeschrieben wird. 2008 gut angekommene Arenen wie das „Vogelnest“ würden 2022 wiederverwendet werden, falls Peking als erste Stadt der Geschichte Sommer- und Winterspiele austragen dürfte.

Ein weiterer Vorteil der olympischen Vergangenheit: Die hundert stimmberechtigten IOC-Mitglieder waren bereits in Peking – Almaty dürften sie kaum je in Person gesehen haben. Das liegt auch an einem Passus im IOC-Recht: Seit sich Salt Lake City die Gunst der Stimmberechtigten in der Bewerbungsphase für die Winterspiele 2002 mit übertriebenen Geschenken sicherte, dürfen die IOC-Mitglieder vor der Vergabe nicht mehr in die betroffenen Städte reisen. Einzig eine kleine Abordnung von Nicht-Stimmberechtigten sah sich die potenziellen Austragungsorte im Februar und März persönlich an und erstattete danach Bericht.

…aber Almaty holt auf

Dabei konnten die Kasachen gleichermaßen wie bei einer Präsentation im Juni offenbar punkten. Ein namentlich nicht genanntes IOC-Mitglied sagte der Nachrichtenagentur „AFP“, dass China „Favorit, aber schlagbar“ wäre. FIS-Präsident Gian-Franco Kasper kündigte ein knappes Rennen an. Stabhochsprung-Legende Sergey Bubka, wie Kasper stimmberechtigtes IOC-Mitglied, hielt fest, dass Almaty aufholte.

Ob das nur ein Sturm im Wasserglas ist oder ob Almaty wirklich Chancen hat, wird sich am Freitag weisen. Es ist eine richtungsweisende Entscheidung - das IOC kann zeigen, dass es die Reformbemühungen mit der Agenda 2020 ernst meint. Doch das müsste nicht zwingend die richtige Wahl sein.

„Es gibt so viele soziale und wirtschaftliche Probleme in Kasachstan, die wir erst lösen müssen. Die Olympischen Spiele kommen zu früh für uns. Wir können sie organisieren – aber nicht 2022. Es käme dem Land zu teuer. Ich wünsche mir, dass Peking gewinnt“, gesteht Medelbek.

Das IOC kann wohl gar keine gute Wahl treffen. Peking und Almaty haben gleichermaßen ein massives Smog-Problem, das im Winter am schlimmsten ist. Menschenrechte werden mit Füßen getreten, die sportlichen Großereignisse von der politischen Elite zur Selbstdarstellung missbraucht, auf Kosten der am Land oft bitterarmen Bevölkerung.

Echte Wintersport-Bewerbungen aus funktionierenden Rechtsstaaten schieden zu früh aus freien Stücken aus dem Rennen aus. So werden 2022 nach Pyeongchang (Südkorea) 2018 und Tokio 2020 definitiv die dritten Olympischen Spiele in Folge in Asien stattfinden.

Fragt sich nur mehr, wo.

 

Martin Schauhuber