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"Fußball geht stiefmütterlich mit diesem Thema um"

Vergangenen Samstag sah Marcel Koller beim TV-Studium des Nord-Derbys zwischen dem Hamburger SV und Werder Bremen nicht nur einen Treffer von Marko Arnautovic.

Eine andere Szene war dem ÖFB-Teamchef möglicherweise genauso wichtig – und zwar die Reaktion des Werder-Legionärs auf eine Provokation.

„Da hätte er auf die eine oder auf die andere Seite reagieren können – und er hat auf die richtige Seite reagiert. Meine erste Reaktion vor dem Bildschirm war: Wow, er ist einen Schritt weitergekommen. Das gilt es natürlich zu bestätigen. Auf die Zunge zu beißen, ruhig zu bleiben, sich nicht provozieren zu lassen – das ist der richtige Weg.“

Der Schweizer führt den Reifeprozess des 22-Jährigen mit dem Ruf des Problemboys auf die gute Arbeit von Werder Bremen zurück: „Thomas Schaaf und sein Team machen das wirklich sehr intensiv und gut.“

Graw neuer Mentaltrainer des ÖFB-Teams

Wie groß der Anteil von sportpsychologischem Coaching an diesen Fortschritten ist, lässt sich aus der Ferne freilich nur schwer beurteilen. Fakt ist jedoch, dass Mentaltrainer aus der Welt des Sports nicht mehr wegzudenken sind.

Wehrte sich Koller-Vorgänger Didi Constantini noch vehement gegen die Bestellung eines solchen, ergänzte Koller nun sein Trainerteam mit einem Sportpsychologen.

Der Deutsche Thomas Graw wird im Zuge des freundschaftlichen Länderspiels am kommenden Mittwoch gegen Finnland erstmals mit den ÖFB-Kickern arbeiten. Der 46-Jährige gehörte bereits beim VfL Bochum Kollers Betreuerstab an.

Kein Hokuspokus

„Wenn ich dreieinhalb Jahre mit jemandem zusammenarbeite, muss man schon gute Erfahrungen gemacht haben“, lobt der 51-Jährige, will aber in der Öffentlichkeit erst gar nicht den Irrglauben aufkommen lassen, dass ein Mentaltrainer binnen kürzester Zeit Wunder bewirken könne:

„Es ist natürlich auch bei Sportpsychologen nicht so, dass sie einfach kommen, Hokuspokus machen, und nach einer Besprechung wissen die Spieler alles und setzen es auch um. Wie bei einem Fußball-Trainer braucht es Zeit, bis es greift. Das wird nicht von heute auf morgen gehen.“

Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Maßnahme mittel- bis langfristig Vorteile mit sich bringt, ist jedoch hoch. Koller blickt diesbezüglich über den Tellerrand zu anderen Sportarten:

„Vieles beginnt im Kopf. Unsere Bewegungen, alles was wir tun, ist ein Impuls vom Kopf her. Ich denke, dass man im Fußball noch ein bisschen stiefmütterlich mit dem Ganzen umgeht. In den vergangenen Jahren ist es ein bisschen besser geworden, aber wenn man Einzelsportler hernimmt, hat fast jeder einen eigenen Sportpsychologen dabei, um auch seine mentale Stärke zu trainieren.“

Ansprechperson für die Spieler

Neben der herkömmlichen sportpsychologischen Arbeit soll Graw im ÖFB-Team auch als Ansprechperson für die Spieler bezüglich jener Probleme dienen, mit denen sie nicht zum Trainer gehen wollen.

„Alle Spieler wollen spielen. Wenn einer irgendein Problem hat, wird er nicht zum Trainer gehen und dem das sagen, weil der Trainer dann normalerweise denkt: ‚Der hat Probleme, der ist im Kopf nicht frei, den kannst du nicht spielen lassen.‘  Wenn sie das ein bisschen abseits mit einem Spezialisten, der das richtig beurteilen kann, besprechen können, kann man das ein bisschen abschwächen“, erklärt Koller offen.

Außerdem würde er als Teamchef gerade bei einem dreitägigen Kurzlehrgang nicht die Zeit finden, um sich persönlich mit allen Anliegen seiner Schützlinge auseinanderzusetzen.

„Das Trainerteam coachen“

Mit Graw ist das völlig neu formierte Betreuerteam nun komplett und nach Einschätzung von Koller „top aufgestellt.“

Für den Schweizer ist sein letzter Neuzugang übrigens nicht nur dazu da, um mit den Spielern zu arbeiten. Vielmehr möchte er auch für persönliches Feedback offen sein:

„Er hat natürlich auch die Möglichkeit, zusätzlich das Trainerteam zu coachen und uns ein bisschen zu beobachten.“

Peter Altmann