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"Natürlich wird uns die EM-Quali gelingen"

Ein gellendes Pfeifkonzert nach Schlusspfiff eines Fußballspiels ist üblicherweise ein schlechtes Zeichen für das jeweilige Heimteam.

Ein noch schlechteres Zeichen ist nur, wenn das Publikum auf diese Unmutsbekundung verzichtet, weil das enttäuschende Ergebnis jeglichen Überraschungseffekt verloren hat.

Die niederländische Nationalmannschaft ist an diesem (Tief-)Punkt angelangt. Am vergangenen Freitag gab Oranje im Freundschaftsspiel gegen die USA innerhalb der letzten fünf Minuten eine 3:2-Führung aus der Hand und verlor noch 3:4. Nach enttäuschenden Monaten hat die Lethargie die Amsterdam-ArenA erreicht.

Genau jener Gemütszustand wird dem in der Öffentlichkeit erkorenen Hauptschuldigen an der Misere, Bondscoach Guus Hiddink, vorgeworfen.

Dem 68-Jährigen scheint seine zweite Oranje-Amtszeit aus den Händen zu gleiten. Der Druck vor dem EM-Qualifikationsspiel in Lettland (Freitag, 20:45 Uhr) ist groß, dem Dritten der Gruppe A droht sogar das Verpassen der Endrunde 2016 in Frankreich.

Unglückliche Bestellung wirft Schatten

Bereits die Umstände seiner Bestellung im März 2014 wirkten unglücklich. Bondscoach Louis van Gaal gab bekannt, nach seinem „Lebensziel, einmal eine WM zu erleben“ das Amt an den Nagel hängen zu wollen.

Der KNVB reagierte daraufhin mit einem Doppelschlag und verpflichtete gleich zwei Trainer. Guus Hiddink sollte die EM-Kampagne übernehmen, danach Ajax-Legende Danny Blind jene der WM.

Hiddink war also schon im Vorhinein als Übergangslösung manifestiert. Trotz vergangener Erfolge - er führte die Niederlande in seiner ersten Amtszeit 1994-1998 zu WM-Platz vier, ebenso Südkorea 2002 – zweifelten die Medien angesichts des fortgeschrittenen Alters an seiner Motivation, den nötigen Umbruch im Team weiter voranzutreiben.

Schweres Van-Gaal-Erbe

Dieser Umbruch war nach der verpatzten EM 2012 (Gruppenaus) auf offensichtlichste Weise nötig geworden.

Die Erwartungshaltung für die WM in der Todesgruppe B mit Spanien und Chile war dementsprechend gering – insbesondere, als sich mit Kevin Strootman einer der wenigen Schlüsselspieler mit einem Kreuzbandriss verabschieden musste.

Van Gaals Geniestreich wirkt nach

Erst einen Monat vor der WM stellte van Gaal auf das für niederländische Verhältnisse komplett atypische 5-3-2-System um. „Reactie voetbal“ wurde zur Devise. Die nahezu nur aus heimischen Ehrendivisionspielern bestehende und damit unerfahrene Abwehrkette sollte durch mannschaftliche Geschlossenheit verstärkt werden. Im Angriff wurde auf Fehler der Gegner, Blitzgegenstöße und Arjen Robben vertraut.

Der Tulpengeneral wurde in der dem 4-3-3 verfallenen Öffentlichkeit zerrissen, zwei Monate später für Platz drei gefeiert.

Der Schatten van Gaals sollte seinen Nachfolger verfolgen.

Im Zwiespalt zwischen Holländischer Schule und Abkehr

Hiddink lobte seinen Vorgänger zwar bei seinem offiziellen Amtsantritt im August 2014, betonte aber gleichzeitig, zukünftig wieder „mehr Initiative zeigen zu wollen.“

Im Testspiel gegen Italien (0:2) folgte somit die Rückkehr zum 4-3-3. Umso überraschender erwies sich die Aufstellung im ersten EM-Quali-Spiel in Tschechien als 5-3-2-System. 90 Minuten, teils 70 Prozent Ballbesitz und kaum Torchancen später besiegelte ein katastrophaler Janmaat-Fehler in der Schlussminute die 1:2-Niederlage. Noch in der ersten Halbzeit hatte Hiddink auf das offensivere 4-3-3 umgestellt.

Oranje ist zu sehr von Robben abhängig

Die Abhängigkeit von Superstar Arjen Robben wurde zudem offensichtlich.

Fehlte er verletzungsbedingt wie in Prag oder erwischte einen schlechten Tag wie in Reykjavik fand das niederländische Offensivspiel nicht mehr statt.

Hiddink musste zum Rapport vor den KNVB, das Spiel gegen Lettland wurde zum „Schicksalsspiel“ erklärt: Siegen oder fliegen.

Van Persie versus Huntelaar

Mittendrin entfachte die bereits traditionelle Frage nach dem richtigen Mittelstürmer zusätzliche Unruhe: Robin van Persie oder Klaas-Jan Huntelaar.

Gegen Kasachstan loderte der ewige Konflikt endgültig wieder auf. Van Persie verzichtete in einer aussichtsreichen Position auf das Abspiel auf seinen Sturmpartner. Dessen Beschwerde darüber quittierte der Kapitän mit einer abfälligen Geste. In einer Umfrage auf "ad.nl" sprachen sich daraufhin 82 Prozent gegen den Manchester-United-Stürmer aus, der anders als früher auch nicht mehr im Verein glänzte.

Angesichts der Abkupferung des Van-Gaal-Systems fiel die Kritik in den wenig zimperlichen niederländischen Medien hart aus. Von einem „Auslaufmodell“ war die Rede. "Algemeen Dagblad" titelte: „Guus Hiddink hat einen Teil seiner Glaubwürdigkeit bereits verloren.“

Island-Alptraum

Diese galt es im Oktober wiederzugewinnen, doch weitere Rückschläge folgten.

Hiddink hatte im Spiel gegen Kasachstan endgültig wieder das 4-3-3 installiert, bis zur 62. Minute lag jedoch der Fußballzwerg vorne. Erst der Ausschluss eines Spielers der Zentralasiaten leitete den Umschwung und 3:1-Heimsieg ein.

Das Experiment mit Afellay, dem bei Olympiakos Piräus nur zu Kurzeinsätzen kommenden Außenstürmer, im offensiven Mittelfeld schlug fehl. Mit Lens auf dem linken Flügel wurde der PSV-Legende zudem eine Bevorzugung der Eindhoven-Fraktion vorgeworfen.

Drei Tage später stellte dies das geringste Problem dar, brannte der orangene Hut nach der 0:2-Pleite auf Island lichterloh.

Robben-Abhängigkeit

Nach drei Spielen hatte Oranje ein Loch von sechs Punkten Rückstand auf die Co-Leader Island und Tschechien aufgerissen. Ex-Nationalspieler Ronald de Boer attackierte den Bondscoach hart: „Seine Zeit ist vorbei.“

Streithähne unter sich

Hiddink löste das Problem auf seine Weise: Beim bisher überzeugendsten Spiel seiner zweiten Ära gegen Lettland (6:0) standen beide Akteure in der Startelf, van Persie zurückversetzt im offensiven Mittelfeld, und trafen jeweils doppelt.

Zu Jahresende war also zumindest vorläufig für ruhige Gemüter gesorgt.

KNVB-Spielraum begrenzt

Das Jahr 2015 entwickelte sich aber seither ebenso wenig vielversprechend.

Im Heimspiel gegen die Türkei wurde erneut gepatzt. Ein abgefälschter Sneijder-Weitschuss in der Nachspielzeit rettete das 1:1-Remis. Die Partie gegen die USA wurde trotz scheinbar komfortabler 3:1-Führung aus der Hand gegeben.

Hiddinks Stuhl wackelt somit konstant weiter, der KNVB steckt aber in einer Zwickmühle. Mit Danny Blind steht bereits der Bondscoach ab 2016 fest, was jede langfristige Lösung zunichtemacht. Diesen früher übernehmen zu lassen, würde ihn angesichts der prekären Lage verbrennen, sein Kredit für die WM-Kampagne wäre im Falle einer verpassten EM-Quali überschaubar.

Durchaus Hoffnungsschimmer

Der Bondscoach wird also aller Voraussicht nach in den Länderspiel-Herbst gehen dürfen. Und es gibt durchaus Hoffnungsschimmer für diesen.

Vor allem die überzeugende Leistung im März gegen Spanien (2:0), ohne Robben, bewies, dass Oranje noch Offensiv-Feuerwerke zünden kann. In diesem Testspiel brachte Hiddink mit Davy Klaassen im offensiven Mittelfeld auch den länger geforderten Umbruch voran, dieser dankte ihm den Einsatz prompt per Tor.

Der aufgrund einer Wadenverletzung Dauerverletzte Ron Vlaar wird der öfters wackelnden Defensive mehr Standfestigkeit verleihen können.

Und wenn man bedenkt, dass Tore in Tschechien und Island durch einen Tausend-Gulden-Schuss sowie einen ungerechtfertigten Elfmeter fielen, wird möglicherweise demnächst das Spielglück auf Seiten der Elftal wiederzufinden sein.

Hiddink in seiner ersten Amtszeit

Beruhigender Quali-Modus

Mit einem Auswärtssieg in Lettland soll aber zunächst der erste Schritt in eine doch noch erfolgreiche EM-Qualifikation geschafft werden.

Zur Halbzeit fehlen Oranje fünf bzw. sechs Punkte auf die Leader Tschechien und Island, wobei schlussendlich nicht einmal einer der beiden vorderen Plätze eingenommen werden muss. Selbst der beste Gruppendritte bekommt noch ein Fixticket für Frankreich, die übrigen nehmen die Playoff-Chance wahr.

Der neu eingeführte Qualifikations-Modus wurde für Oranje zur scheinbar genau richtigen Zeit eingeführt.

Ein Umstand, der auch Hiddink – mehr oder weniger – Mut macht: „Natürlich wird uns die EM-Qualifikation gelingen, auch wenn ich noch nicht weiß, auf welche Art."

 

Andreas Gstaltmeyr