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Morgenstern: "Größter Triumph über mich selbst"

Morgenstern:

"Es gibt so unendlich viel Angst in meinem Leben. Ich habe Angst vor einem Sprung. Dennoch kann ich springen, weil ich es liebe, zu springen", schreibt Ex-Skisprung-Ass Thomas Morgenstern in seinem frisch erschienenen Buch.

In "Über meinen Schatten. Ein Reise zu mir selbst" erzählt der Kärntner auf 158 Seiten offen von seinen Stürzen, Erfolgen und dem Karriereende. Dabei spart er ein unter Skispringern eher unpopuläres Thema, die Angst, nicht aus.

"Jeder darf, ja muss sogar Angst haben. Aktive Skispringer reden aber niemals über Angst, weil Angst hemmt und klein macht."

Schmerzen

Das Buch beginnt mit dem Moment, in dem der 28-Jährige nach seinem schweren Sturz am Kulm im Jänner 2014 in der Klinik aufwacht. Er erinnert sich an seinen ersten, schweren Sturz 2003 in Kuusamo, aber nicht an das, was am Kulm geschehen ist.

"Langsam richte ich mich auf. Die Haut brennt da, wo sie sich in Falten legt. Der Schmerz in der Brust ist einmal stechend, dann wieder stumpf. Der Schädel brummt. Ich stehe. Vorsichtig setze ich das eine Bein vor das andere. Mir wird schlecht. Schwindlig. Der Schmerz in meinem Kopf nimmt rasant zu", beschreibt er bildhaft, wie schlecht es ihm wirklich ging.

Der Weg zurück auf die Schanze ist hart, doch schließlich gelingt ihm der erste Sprung nach dem Unfall: "Dann gibt er mir das Freizeichen und das bedeutet: Springen! Drei Wochen lang bin ich diesen steinigen Weg gegangen, der mich hierher geführt hat".

"Wollte nie ein Buch schreiben"

Es geht also um Angst-Bewältigung, um Konflikte mit Trainern und Teamkollegen, um Menschen, die ihm wichtig sind, um seine Tochter und den schwierigen Weg vom Krankenbett zurück auf die Olympiaschanze.

Immer wieder gibt es Rückblicke auf wichtige Ereignisse in seiner Karriere, von den Anfängen bis hin zu seinem Doppel-Olympiasieg in Turin, es endet schließlich mit der Entscheidung, seine Karriere zu beenden.

"Ich wollte nie ein Buch schreiben", gibt Morgenstern zu. Er habe nie das Klischee eines Sportlers erfüllen wollen, der seine Karriere beendet und eine Autobiographie schreibt.

Keine klassische Autobiographie

Aus diesem Grund "ist es auch keine klassische Autobiographie über meine super Erfolge" geworden, sondern eine Beschreibung seiner Entwicklung - als Sportler und als Mensch. Er habe nach dem Sturz etwa zuallererst lernen müssen, sein Trauma zu akzeptieren, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die für einen Skispringer gefährlich sind: Unsicherheit, Zögern, Nervosität, Angst.

"Ich will Menschen etwas mitgeben, die Ähnliches erlebt haben, Dinge klarstellen und Gedanken aufarbeiten", lauten seine Beweggründe dafür, ein Buch herauszubringen. Zudem habe er die letzten Erlebnisse als Aktiver Revue passieren lassen und verarbeiten wollen.

Beim Lesen bekommt man den Eindruck, Morgenstern halte einen langen Monolog - das Buch wurde aus der Ich-Perspektive geschrieben, die Sprache ist leicht verständlich.

No risk, no fun

"Mir war es wichtig, das Buch in meiner Sprache zu verfassen. Es ist echt schön geworden, war sehr emotional und hat Spaß gemacht", erklärt "Morgi".

"Ich war selbst nie jemand, der Angst hatte. Ich musste immer über meine Grenzen hinausgehen, um Erfolg zu haben. Mein Leitsatz lautete immer: ‚No risk, no fun.‘ Der Sturz hat mich auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht und nachdenken lassen."

Gute Ausrede

Der "Skisprung-Rentner" reflektiert: "Ich habe mich über die Zeit entwickelt. Ich starte das Buch ja mit einem Bericht von einem Sturz als ich 17 Jahre alt war. Das war eine Phase, in der ich mich unverwundbar gefühlt habe. Man denkt, einem kann nichts passieren, egal was man tut".

"Ich bin gespannt, wie das Buch ankommt und hoffe, dass es den Lesern gefällt", freut er sich auf das Feedback. Probleme, seine Gedanken und Gefühle zu ordnen und über sie zu reden, hatte er nicht. "In gewisser Weise ist man es als Sportler gewohnt, über seine Emotionen zu reden. Nach meinem Sturz habe ich viel psychologische Aufbauarbeit gemacht, aber auch sonst arbeitet man viel mit Psychologen zusammen".

Nachwirkungen seiner schlimmen Unfälle verspürt Morgenstern keine mehr. "Das Gute ist, wenn ich Sachen vergesse, kann ich sagen, ich bin auf den Kopf gefallen. Das ist eine gute Ausrede", lacht er. "Aber körperlich habe ich keine Probleme. Ein Schädel-MRT werde ich bald wieder zur Kontrolle machen, um sicher zu gehen, dass sich nichts verändert hat."

Auf Tour

"Je mehr man erlebt, desto mehr Gedanken macht man sich. Irgendwann ist man in einem Alter, in dem man Entscheidungen treffen muss, wie es weiter geht. Meine Tochter wurde geboren, meine Beziehung ging auseinander. Das habe ich mir auch nie so vorgestellt und auch nicht gewollt, aber es gibt Dinge, die kann man nicht planen."

"Wichtig ist, dass man sich selbst treu bleibt und seinen eigenen Weg weiter geht, nicht immer das macht, was andere von einem erwarten", spielt der ehemalige ÖSV-Adler, der im Herbst auf "Tour" geht und in vielen Städten der Republik Ausschnitte aus seinem Buch vorlesen wird, auf seinen Rücktritt an.

Größter Sieg über sich selbst

"Leichter wäre es gewesen, weiterzuspringen. Ich bin stolz auf meine Entscheidung", fühlt sich das Karriereende für ihn richtig an. "Es war mein letzter Sieg im Skispringen und mein größter Triumph über mich selbst, weil ich einfach Entscheidungen treffen musste, die nicht jeder von mir erwartet hat. Nicht einmal ich selbst."

Angesichts seiner vielen Erfolge - von WM-Titeln, über den Sieg bei der Vierschanzentournee bis hin zum Doppel-Olympia-Gold und zweimaligen Gewinnens der Weltcup-Gesamtwertung - ist dies eine Aussage, die zumindest einer weiteren Erklärung bedarf.

"Diese Entscheidung zu treffen, sich vom leichteren Weg des Weitermachens zu lösen und aufzuhören, zu sagen, es ist vorbei – das ist ein mutiger Schritt. Und menschlich gesehen mein größer Erfolg. Im Sport muss man im Training immer Vollgas geben und das ist eher eine weichere Stelle."

Morgenstern kann nicht vom Fliegen lassen

Schlusspunkt

"Es war eine schöne und lehrreiche Zeit und ich freue mich darauf, in ein paar Jahren mal wieder in das Buch reinzulesen und dass es meine Tochter lesen kann. Es schließt einen Lebensabschnitt ab", setzt der Kärntner mit Hilfe des Buches auch eine Art Schlussstrich unter seine Karriere als aktiver Skispringer.

"Meine Karriere geht weiter, nur auf einem anderen Weg, in eine andere Richtung", erklärt Österreichs Sportler des Jahres 2008 und 2011, der doch nicht ganz vom Fliegen lassen kann.

"Mein Fokus liegt definitiv weiter auf dem Fliegen, das hat mich immer schon gereizt und ist einfach meine Leidenschaft", grinst er.

Er fliegt und fliegt

Der Unterschied: Inzwischen stürzt sich Morgenstern nicht mehr von den Schanzen dieser Welt, sondern steuert einen Hubschrauber. Und dies - wie könnte es anders sein - sehr erfolgreich. Im August gewann er bei den 15. Helikopter-Weltmeisterschaften in Polen auf Anhieb den Rookie-Titel (bis 240 Flugstunden), im Dezember ist er bei an den World Air Games, an denen alle Luftsportarten wie Air Race, Ballon, Sky Diving etc. teilnehmen, in Dubai dabei.

"Es ist natürlich cool, dass ich an Bewerben teilnehmen kann und den Wettkampfcharakter nicht verliere. Ich will ein besserer Pilot werden, zudem bleibe ich im Training", zieht Morgenstern, der einen eigenen Helikopter namens "Helina" besitzt (siehe Tweet), gleich mehrere Nutzen aus seiner neuen Sportart, für die er circa 20 Stunden die Woche trainiert.

Skispringen weiter Teil seines Lebens

So ganz kann und will er sich dennoch nicht lösen vom Skisprung-Zirkus. "Ich habe noch Kontakt mit den anderen Springern. Ich war sogar bei einem Trainingskurs mit der Mannschaft dabei. Und der Heinz (Kuttin) wohnt ja gleich über den Hügel, mit ihm treffe ich mich auch oft zum Golfen oder Updaten."

Auch im Fernsehen sieht er sich oftmals Bewerbe an: "Klar, schaue ich mir es noch an. Es ist aber nicht so, dass ich mir den Wecker stelle und mir jeden Wettkampf reinziehen muss. Mich interessiert es noch, ist ja klar, ich habe das jahrelang gemacht und will das auch nicht verdrängen."

"Ich beschäftige mich noch mit Skispringen, zwar nicht mehr so intensiv, weil ich auch Abstand gewinnen möchte. Aber bei der Vierschanzen-Tournee und am Kulm bin ich definitiv vor Ort. Und in Planica", ist er bei den Springen in seiner Gegend gerne dabei.

Nie wieder

Auf die Frage, ob er den Skisprung-Zirkus vermisst, gibt er nach kurzem Nachdenken zu: "Ich vermisse gewisse positive Dinge. Wie etwa in Bischofshofen vor 30.000 Leuten zu springen, um den Tournee-Sieg zu kämpfen und unten mit allen Zuschauern die Bundeshymne zu singen. So etwas kannst du mit keinem Geld der Welt kaufen. Das muss man einfach erlebt haben und dieses Privileg in der Heimat zu haben, das ist Gänsehaut pur", schwelgt er in Erinnerungen.

"Und das vermisse ich natürlich, weil ich auch weiß, dass ich das nie wieder erleben werde."

 

Henriette Werner

 

"Über meinen Schatten. Ein Reise zu mir selbst." von Thomas Morgenstern ist am 26.9. im Ecowin Verlag erschienen.