news

Turnunterricht im Lokalaugenschein

Turnunterricht im Lokalaugenschein

Eine Mischung aus Schweiß, Socken und jugendlichem Übermut.

Diese „Duft“-Mischung löst unweigerlich nostalgische Gefühle in mir aus. Es ist kurz vor zehn Uhr. 15 Burschen der 2. Klasse der HTL Wien 10 in der Ettenreichgasse warten in der Umkleidekabine auf den Beginn der Turnstunde.

Professor Peter Brazdovics trudelt ein, trägt die Fehlenden ein und stellt ganz demokratisch das Stunden-Programm zur Auswahl. Ein Großteil ist für Fußball. Und was macht der Rest? „Krafttraining?“, fragt Brazdovics in die Runde. Die Schüler nicken.

Los geht’s! Der erste Eindruck des Turnunterrichts fällt zwiespältig aus. Zum einen ist die Stimmung hervorragend, doch andererseits scheint das Programm die allerorts bekannte Kritik, der Turnunterricht sei zu monothematisch bzw. zu fußballlastig, zu bestätigen.

„Es ist mir wichtig, dass der Unterricht an meiner Schule polysportiv ausgerichtet ist. Wir müssen versuchen, den Schülern möglichst viele verschiedene Bewegungsformen nahe zu bringen“, fordert auch Stefan Wenka, Direktor der HTL Ettenreichgasse.

Sein Lehrer kommt der Forderung des Chefs nach. „Vergangene Woche haben wir Ausdauerläufe gemacht. Das dient zur Vorbereitung für den Cooper-Test in der nächsten Woche. Heute ist als Ausgleich deshalb Wunschkonzert“, erklärt mir Brazdovics. Mein erster Eindruck hat also getäuscht.

Mit Hang zur Frischluft

Brazdovics verfolgt über das Schuljahr gesehen eine Art Rahmen-Trainingsplan.

Konkret heißt das, dass im Herbst der Schwerpunkt auf Ausdauer liegt, im Winter folgen Kraft und Koordination und im Frühjahr steht schließlich Leichtathletik im Fokus.

„Das ist an den Jahreszeiten angepasst. Ich möchte mit meinen Klassen so viel wie möglich draußen machen, wofür sich Ausdauer und Leichtathletik nun mal gut eignen.“

Eine Stilfrage

Egal ob beim Fußball oder im Kraftraum nebenan – die Schüler sind mit hohem Einsatz bei der Sache. Vor allem überrascht mich die Selbständigkeit der großteils 15-Jährigen. Die Anwesenheit des Professors scheint nicht notwendig zu sein. Das Wählen der Teams sowie das Einhalten der Regeln funktioniert reibungslos.

 „Ich habe sie ja schon das zweite Jahr. Wenn sie in der Ersten sind, müssen sie sich erst an meinen Unterrichtsstil gewöhnen, danach klappt das eigentlich ganz gut“, erklärt mir Brazdovics im Kraftraum, wo er ein Auge auf die Übungen der kleineren Gruppe wirft.

Viel auszusetzen sei aber ohnehin nicht. „In der ersten Klasse bekommen sie eine Einschulung in das Krafttraining.“ Dies dient dazu, technische Fehler zu verhindern.

Kaum Spielraum

Ist der Einsatz bei allen Klassen so hoch? „Im Prinzip ja. Aber wen wundert das, für viele ist es die einzige Möglichkeit, ihre Energie auszuleben“, erlaubt sich Brazdovics einen Seitenhieb auf den Lehrplan. Dieser sieht für HTL-Schüler lediglich ein bis zwei Turnstunden pro Woche vor. „Das ist viel zu wenig“, ist Direktor Wenka mit seinem Lehrer einer Meinung.

Ändern kann er daran nur wenig. Der Gesetzgeber gibt die Anzahl der Turnstunden in den jeweiligen Schul-Typen vor. „Jede HTL hat allerdings die Möglichkeit, bis zu zwei Stunden als unverbindliche Übung anzubieten“, ergänzt Wenka.

In der Ettenreichgasse wird dies in die Tat umgesetzt. Mit Erfolg: „Obwohl diese freiwilligen Übungen am späten Nachmittag sind, haben wir tolle Anmeldezahlen.“

Dick da

Von der vielerorts geforderten täglichen Turnstunde ist man damit aber noch weit entfernt. „Es ist zwar ein alter Hut, aber man kann es nicht oft genug sagen: Regelmäßige Bewegung mindert das Risiko schwerwiegender Erkrankungen wie Diabetes und kommt dem natürlichen Bewegungsdrang der Kinder entgegen“, predigt Walter Dorner, Präsident der Ärztekammer.

Dorner sieht akuten Handlungsbedarf. Denn Zahlen belegen, dass bereits jedes vierte Kind in unserem Land übergewichtig ist.

Eine Studie, die auf die 2. Klasse der HTL Ettenreichgasse bestens umlegbar ist. Auch hier ist rund ein Viertel etwas zu gut genährt, zu deren Ehrenrettung allerdings gesagt sei, dass sie in Sachen Einsatz und auch Leistung ihren Klassenkollegen um nichts nachstehen.

Ungesund und teuer

Experten sprechen von einer immer dicker und unsportlicher werdenden Jugend. „Die kranken Kinder von heute sind die kranken Erwachsenen von morgen“, postuliert die Ärztekammer.

Schultyp
  1. Stufe
  1. Stufe
  1. Stufe
  1. Stufe
Volksschule 3 3 2 2
Hauptschule 4 3 3 3
AHS 4 4 3 3
Berufsbildende Schule 2 2 2 1

Privilegiert: Nicht jede Schule hat einen eigenen Kraftraum

Der dadurch entstehende Schaden für die österreichische Volkswirtschaft geht in die Milliardenhöhe.

Bereits 2030 sollen die Krankheitskosten um rund 7,3 Mrd. Euro höher sein als 2007. Hält dieser Trend an, ist 2050 ein Kostenzuwachs von 15,3 Mrd. zu erwarten.

Kampf gegen Windmühlen

Dorner fordert ein Umdenken vor allem von politischer Seite, erntet bislang aber nur „leere Lippenbekenntnisse“. Die Reduktion der Turnstunden des Sportunterrichts in den letzten beiden Altersstufen der Volksschule stuft er schlichtweg als Skandal ein.

„Neben vier Sportstunden pro Woche sollten alle Schulen verbindlich zusätzliche sportliche Aktivitäten in Form von Freifächern – z.B. Basketball, Handball oder Schwimmen – anbieten“, erklärt Dorner seine Zukunftsvision, die momentan aber nur ein Traum ist.

Große Anforderungen

Zurück in den Kraftraum der Ettenreichgasse. Ein Radio in der Ecke trällert uns den „Lazy Song“ von Bruno Mars. Eine Handvoll Schüler steht bei den Geräten, aktuell bei der Klimmzugstange.

Das Klima ist entspannt. Sich immer wieder aufs Neue auf die Stange hinaufzuwuchten hat für die Jugendlichen aber nicht nur sportliche Motive. „In ein paar Monaten haben wir die Klimmzugprüfung“, verrät ein Schüler, der gerade knapp zehn Wiederholungen gemacht hat.

Der Notenschlüssel zwingt mir Respekt ab: Um überhaupt positiv zu sein, sind sechs Stück (!) notwendig. Für einen Einser sind deren 15 fällig. „Aber wir machen die Klimmzüge nur bis zu einer Armstellung von 90 Grad runter“, schwächt Brazdovics, dem mein verwunderter Gesichtsausdruck nicht entgangen ist, ab.

Die Pfeife kam kein einzige Mal zum Einsatz

Die tatsächliche „Schreckensprüfung“ schlechthin ist aber eine andere. „Der Schwebestütz im Langsitz auf dem Barren“, meint ein anderer Schüler mit einem gequälten Lächeln.

Kein gemeinsamer Turnunterricht

Das Notenblatt ist in der Ettenreichgasse ein viel bemühtes Turn-Utensil. Ist das zielführend? „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich die Schüler messen wollen. Von daher schon“, meint Brazdovics.

Die Grundmotivation ist in seiner Klasse offenbar ohnehin ausgezeichnet. Einen Mitgrund sieht der Lehrer auch in der praktizierten Geschlechtertrennung im Unterricht.

„Die Burschen sind immer mit viel Feuer dabei, die brauchst du nicht anzuspornen. Von meiner Kollegin, die die Mädchen unterrichtet, habe hingegen gehört, dass es dort oft nicht so leicht ist.“

Das Hallen-Problem macht Schule

Mit zwei Turnsälen, besagtem Kraftraum (Brazdovics: „Die Geräte haben wir von einem Fitness-Center, das aufgelöst wurde.“), einem Hartplatz und dem benachbarten Laaer Berg ist die HTL Wien 10 mit ausreichend Sportanlagen gesegnet. Etwas, wovon vergleichbare Schulen oft nur träumen können.

Professor Brazdovics und der ständige Begleiter: das Notenblatt

„In einer Wiener Berufsschule habe ich in einem Turnsaal unterrichtet, der kleiner als ein Volleyball-Spielfeld ist“, erinnert sich Brazdovics.

Andere Schulen müssen gleich in eine benachbarte Halle ausweichen. „In einer anderen HTL mussten die Außenanlagen einem Parkplatz weichen“, weiß der Wiener. Wohl ein weiteres Indiz dafür, welches Standing Sport in der Bildungspolitik genießt.

In sinnvolle Bahnen geleitet

Der Bewegungsdrang bei den Schülern der Ettenreichgasse ist groß. „Oft Spielen sie in der Pause in den Gängen. Das können wir natürlich nicht zulassen“, schildert Wenka. Um diesen Drang sinnvoll auszunützen, gibt es verschiedene Ansätze.

Zum einen können sich die Schüler auf eigene Faust Sportvereine suchen. In der 2. Klasse der HTL ist dies aber eine eher unpopuläre Variante. Gerade einmal zwei Burschen geben an, einem Klub anzugehören.

Wenka hält einen Ausbau des unverbindlichen Angebots für sinnvoll. „Allerdings müssen dazu die notwendigen Ressourcen bereitgestellt werden, denn schließlich muss das auch jemand bezahlen.“

 

Reinhold Pühringer