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Was ist los mit Usain Bolt?

Was ist los mit Usain Bolt?

Es ist sieben Jahre her, dass Usain Bolt seinen Thron bestiegen hat.

Offenes Schuhband, Jubelpose vor der Ziellinie, 9,69 Sekunden – beim 100-Meter-Finale der Olympischen Spiele in Peking 2008 hinterließ der Jamaikaner die Welt mit offenen Mündern und ungläubigen Blicken.

In den Tagen darauf folgten über 200 Meter und 4x100 Meter zwei weitere Goldmedaillen. „Lightning Bolt“ war geboren. Die Leichtathletik hatte einen neuen Mega-Star. Und die Konkurrenz praktisch die Gewissheit, für lange Zeit nur hinterherlaufen zu können.

Die Frage nach dem Sieger der Sprint-Bewerbe bei Großveranstaltungen stellte sich nicht mehr. Fortan hieß es nur noch: „In welcher Zeit wird Bolt gewinnen?“ Der Superstar hielt, was er versprach – 2009 in Berlin, 2011 in Daegu, 2012 in London und 2013 in Moskau.

In neue Sphären

Der Mann aus Sherwood Content sammelte Goldmedaille um Goldmedaille. Nur ein einziges Mal klappte es nicht – 2011 musste er nach einem Fehlstart über die 100 Meter seinem Landsmann Yohan Blake den Titel überlassen.

9,58 Sekunden über 100 Meter, 19,19 Sekunden über 200 Meter – Bolt hat die Weltrekorde in diesen beiden Disziplinen in neue Sphären katapultiert.

In rund sechs Wochen könnte die Ära Bolt enden. Ausgerechnet dort, wo sie begonnen hat – im Vogelnest von Peking. Die Leichtathletik-WM 2015 steht vor der Tür. Und für Bolt wird es auf dem Thron mehr als ungemütlich.

De facto hat der 28-Jährige seit der WM 2013 in Moskau nämlich nichts Außergewöhnliches mehr geleistet. Sein Gesundheitszustand ist ein Rätsel, seine jüngsten Vorstellungen unwürdig und seine Motivation zumindest ein wenig fragwürdig. Was ist los mit Usain Bolt?

Eine traurige Figur

Das Jahr 2014 war geprägt von einer Operation am Fuß, seine Saison dauerte nur wenige Wochen. 9,98 über 100 Meter im August in Warschau stehen zu Buche. Ein Jahr zum Vergessen. 2015 sollte alles anders werden.

Doch bisher ist es so gar nicht nach Wunsch gelaufen. Der Jamaikaner gab bei seinen Auftritten größtenteils eine traurige Figur ab. Im April stieg Bolt in Kingston in die Saison ein, lief mit 20,20 Sekunden über 200 Meter eine schwache Zeit. Doch es wurde noch viel schlimmer.

Ausgelaugt und vehältnismäßig langsam

Einige Tage später trat der Superstar in Rio de Janeiro zu seinem bisher einzigen 100-Meter-Rennen in dieser Saison an. 10,12 Sekunden später überquerte er die Ziellinie. Für Bolts Verhältnisse ist das unterirdisch. 59 Läufer waren in dieser Saison schon schneller.

"Ich kann es nicht erklären"

Die 20,13 über die 200 Meter von Ostrava waren nicht unbedingt ein Lichtblick und die 20,29 im 200-Meter-Rennen von New York ein weiterer Tiefschlag, wenngleich der Gegenwind von 2,8m pro Sekunde zumindest als kleine Entschuldigung gelten kann.

„Das war eines der schlechtesten Rennen meiner Karriere, die Kurve war definitiv die schlechteste. Ich habe mich eigentlich gut gefühlt. Ich war glücklich, mein Trainer war glücklich - ich weiß einfach nicht, was los war. Ich würde es wirklich gerne erklären, aber ich kann es nicht“, wirkte Bolt nach seinem Auftritt in den USA ratlos.

Das Becken macht Probleme

Sein Trainer Glen Mills kündigte daraufhin an, dass der Weltrekordler in den kommenden Monaten viele Rennen bestreiten werde. Doch es kam anders. Die geplanten Auftritte in Paris (4. Juli) und Lausanne (9. Juli) wurden kurzfristig abgesagt. Stattdessen machte sich Bolt auf den Weg nach München.

Dort soll Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt dafür sorgen, dass der Sprinter wieder in die Spur kommt. Ein blockiertes Iliosakralgelenk, das im Becken das Kreuzbein mit dem Darmbein verbindet, soll als Problem festgestellt worden sein – es schränke seine Mobilität ein und strahle auf sein linkes Bein aus.

Das Ziel bleibe, seine Titel in Peking zu verteidigen. Dort steigt am 23. August das Finale über 100 Meter und am 27. August jenes über 200 Meter. Doch die Zeit drängt. Und Berichte über eine Party-Nacht im Münchner P1 machen die ehrgeizigen Aussagen Bolts nicht unbedingt glaubwürdiger.

Konkurrent Gatlin in Hochform

Allzuviele Chancen, vor der WM Selbstvertrauen zu sammeln, sind nicht mehr gegeben. Am 24. Juli will Bolt in London seine Form über die 100 Meter überprüfen. Das Feld, mit dem er es zu tun bekommt, ist aber überschaubar spannend. Sollte dieser Test fehlschalgen, stellt sich endgültig die Frage: Wird Bolt in Peking überhaupt auftauchen?

Während hinter dem Titelverteidiger nämlich ein großes, dickes Fragezeichen steht, setzt die Konkurrenz ein Ausrufezeichen nach dem anderen. Allen voran Justin Gatlin.

Justin Gatlin ist derzeit das heißeste Eisen

Der 33-Jährige, der schon zwei Dopingsperren abgesessen hat, liefert in dieser Saison. Mit 9,74 Sekunden lief er im Mai in Doha die neuntschnellste jemals auf die Bahn getrommelte Zeit. Die 9,75 Sekunden in Rom und Lausanne bestätigen seine Hochform.

Über 200 Meter lief Gatlin gar die vier schnellsten Zeiten dieser Saison – 19,57 Sekunden sind eine beachtlich starke Jahresweltbestleistung und der Konkurrenz derzeit nur schwer zuzutrauen. „Bolt ist nicht auf Augenhöhe“, tönt der Mann aus Brooklyn. „Er redet eine Menge“, erwidert Bolt.

"Mein Vermächtnis ist in Gefahr"

Und noch ein Altmeister ist dieser Tage ganz stark unterwegs – Asafa Powell. Auch er ist von einer Dopingsperre zurück und mittlerweile 32 Jahre alt. 9,81 Sekunden in Paris und zwei Mal 9,84 Sekunden in Kingston sind nicht von schlechten Eltern.

Hinzu kommen Tyson Gay und das US-Talent Trayvon Bromell – der 19-Jährige aus Florida hat bei den US-Trials mit seinem 100-Meter-Lauf in 9,84 Sekunden nicht nur einen Junioren-Weltrekord aufgestellt, sondern bewiesen, dass er mit den ganz großen Jungs mitspielen kann (Bromell im LAOLA1-Portrait).

Es ist also nicht nur ein Konkurrent, der Bolt derzeit Probleme bereiten kann. Ob sich der Jamaikaner angesichts dieser Herausforderer eine WM-Teilnahme im nicht topfitten Zustand überhaupt antut? „Mit diesem Tempo ist mein Vermächtnis in Gefahr“, bemerkte er nach seinem enttäuschenden Rennen in New York.

2016 will Bolt bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro noch einmal für die ganz große Show sorgen, ehe er seine Karriere beendet. Es sieht derzeit gar nicht danach aus, als ob er als König der Sprinter nach Brasilien reisen würde.

Harald Prantl