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"Wir haben in der Bundesliga nichts zu suchen"

Der Sprung in die Bundesliga ist das große Ziel von RasenBallsport Leipzig. Am liebsten hätte der deutsche Ableger des Red-Bull-Fußballunternehmens diesen schon in der laufenden Saison perfekt gemacht, es reichte aber nur zu Platz fünf in der Abschlusstabelle. 

Hätte man einen direkten Durchmarsch des budgetär auf Rosen gebetteten RB durchaus auf dem Zettel gehabt, hat dieses Kunststück ein anderer Aufsteiger vollbracht. Und zwar mit Billig-Kader und unprofessioneller Infrastruktur – quasi als Antithese zu RB.

Die Lilien blühen auf

Der SV Darmstadt 98 ist so ganz und gar nicht zu vergleichen mit RB Leipzig. Das fängt mit der Tradition der „Lilien“ an, die mit Gründungsjahr 1898 zu den ältesten deutschen Fußballvereinen zählen und hört damit auf, dass Darmstadt im Gegensatz zu Red Bull nicht wirklich für Erfolg steht. Bislang.

Als der Klub aus der Rhein-Main-Region 1978 erstmals in die Bundesliga aufstieg, waren selbst die eigenen Spieler skeptisch, wie lange man sich in der Beletage würde halten können und weigerten sich, ihre Jobs aufzugeben. Trainiert wurde nach getaner Arbeit, die Vorbereitungcamps fanden in der Urlaubszeit statt und die Presse feierte die "Feierabendfußballer vom Böllenfalltor". Wenig überraschend musste das Team um Bum-Kun Cha nach einem Jahr wieder runter. 1981 kämpfte man sich, diesmal mit Vollprofis, zurück in die Erstklassigkeit, doch auch das zweite und bislang letzte Bundesliga-Abenteuer der Darmstädter währte nur eine Saison.

Zwei Abstiegen in die Viertklassigkeit um die Jahrtausendwende folgte eine Beinahe-Insolvenz, nur zahlreiche Spenden konnten den Super-GAU verhindern. Ein Aufschwung unter Kosta Runjaic führte die Lilien 2011 in die 3. Liga und damit zurück in den Profi-Fußball. Der wundersame Aufstieg des SV Darmstadt nahm aber vor allem unter dem jetzigen Trainer Dirk Schuster seinen Lauf.

Immer wieder auf den letzten Drücker

Der ehemalige Admira-Legionär übernahm das Team im Dezember 2012 und stieg mit ihm im darauffolgenden Sommer sportlich ab, doch ausgerechnet der Lizenzentzug bei Erz-Rivale Kickers Offenbach rettete den Klassenerhalt. Umso erstaunlicher, dass die Lilien in der Saison 2013/14 zum Höhenflug ansetzten und hinter Heidenheim und RB Leipzig Rang drei holten.

2000 kickte Schuster in der Südstadt

Legendär verlief die fällige Relegation um den Aufstieg in die 2. Bundesliga gegen Arminia Bielefeld. Nur die kühnsten Optimisten glaubten nach einer 1:3-Heim-Niederlage im Hinspiel noch an eine realistische Chance, doch die Lilien egalisierten den Rückstand auf der Alm und lieferten sich in der Verlängerung einen dramatischen Krimi, in dem Przybylko für die Hausherren vorlegte (110.), Elton da Costa Darmstadt aber mit dem 4:2 in Minute 122 in die 2. Liga schoss.

Gerade so nach oben gerutscht, musste erst einmal notdürftig in die Infrastruktur investiert werden. Für die Mannschaft blieb kein Geld übrig, einige ablösefreie Spieler mussten reichen, um den Kader zu füllen. Mit einem Gesamtmarktwert von rund 12,5 Millionen Euro führt Darmstadt in der 2. Bundesliga das hintere Drittel an. Zum Vergleich: Der Kader von Primus RB ist 30 Mio. schwer. An Ablöse bezahlten die Bullen in dieser Saison über 11 Mio. (exkl. Massimo Bruno/5 Mio. und Marcel Sabitzer/2 Mio.), während Darmstadt nur für Herthas Fabian Holland 25.000 Euro Leihgebühr ausgab.

Aus einer Ansammlung von No Names und Gescheiterten formte Schuster eine eingeschworene Truppe, die durch die Erlebnisse der letzten Jahre noch fester zusammengeschweißt wurde. Der Fußball der Truppe ist auf das Notwendigste beschränkt, schnörkellos, aber wahnsinnig effektiv. Die gesamte Saison über konnten die Gegner keinen Plan entwickeln, um den simplen Darmstädter Rezepten entgegen zu wirken. Große Spektakel, wie man es sich in Leipzig wünscht und das der Marke Red Bull entspricht, ist bei den Lilien nicht drinnen. Das weiß man, damit kann man aber auch gut leben.

Für Altach abolvierte Sulu 17 Spiele

Einfach und effektiv

Herzstück und Grundlage für den Erfolg war die beste Defensive der Liga (26 Gegentore, gleichauf mit KSC), perfekt organisiert von Romain Bregerie, der im vergangenen Sommer mit Dynamo Dresden aus der 2. Bundesliga abstieg, und Ex-Altacher Aytac Sulu. Vorne half Torjäger Dominik Stroh-Engel, der in der Rückrunde allerdings an Ladehemmung litt, oder eine der gefürchteten Standardsituationen: 17 Treffer erzielten die Lilien nach ruhenden Bällen, zwölf davon nach Eckbällen. Bezeichnenderweise finden sich Bregerie (6 Tore/2.) und Sulu (4 Tore/5.) auch unter den Top-5-Torschützen des Aufsteigers.

Erstklassig ist bei den Darmstädtern eigentlich nichts. Weder das Budget, noch die Mannschaft und schon gar nicht das Stadion. Während RB Leipzig etwa in der modernen Leipziger WM-Arena von 2006 spielt, ist das Stadion am Böllenfalltor ein Relikt aus längst vergangenen Tagen. Seit 1912 steht es dort, wo sich einst das namensgebende Stadttor befand und sich noch heute die ebenfalls namensgebenden Pappeln, hier Böllen genannt, dem Sonnenlicht entgegenrecken.

Bereits für den ersten Bundesliga-Aufstieg musste die Heimstätte erneuert werden, wofür sich der Klub verschuldete. Die einstige 30.000er-Arena ist heute nur noch für 16.500 Zuschauer zugelassen und wird stetig modernisiert. Der überwiegende Teil der Fans steht unter freiem Himmel, in der Pufferzone zum Auswärtssektor macht sich auf den Steinstufen Unkraut breit. Der Kabinentrakt ist nicht nur gelinde gesagt spartanisch, sondern auch renovierungsbedürftig. Laute Ansprachen sollte man sich ob der dünnen Wände eher sparen.

"Guardiola, Robben und Neuer werden sich wundern"

Das einzig Neue ist die Sauna - sie ist 20 Jahre alt, so lautete ein Running-Gag. Angeblich soll Schuster jeden Neuzugang vor der Unterschrift am Böllenfalltor herumführen und die Besichtigung mit den Worten beschließen: „Willst du das wirklich?“ Wer diese Frage mit ja beantwortet, hat das Zeug für den bodenständigen Darmstädter Fußball in Reinkultur, den Charakter, sich gegen alle Widrigkeiten durchzusetzen und den Kampf anzunehmen.

"Guardiola, Robben und Neuer werden sich wundern, wenn sie in unsere Gästekabine kommen“, weiß auch Mittelfeldspieler Marco Sailer, dass die Bundesliga-Stars so etwas wahrscheinlich seit ihrer frühesten Jugend nicht mehr gesehen haben. Klub-Boss Rüdiger Fritsch versicherte aber immerhin schmunzelnd: „Wenn der Pep kommt, werden wir hier schon nochmal durchwischen."

 Dirk Schuster in bester Hannibal-Smith-Manier

Dem Trainingszentrum von RBL, das sechs Plätze und insgesamt sechs Hektar umfasst, halten die Lilien einen einzigen Trainingsplatz entgegen. Ist dieser unbespielbar, weicht man zu einem benachbarten Kreisligisten aus. Dessen Grün sei besser, erzählt man sich.

Die Zahl der Mitarbeiter ist überschaubar, nur die rund 120 ehrenamtlichen Helfer halten den Profibetrieb in Darmstadt am Leben. Bezeichnend die „Scouting-Abteilung“ des Klubs, bestehend aus den Vätern von Coach Schuster und Co-Trainer Sascha Franz.

Kein Wunder, dass sogar Schuster mehrmals meinte: „Realistisch betrachtet haben wir in der Bundesliga nichts zu suchen.“

Erklären kann es sich niemand, wie man sich bei solchen Voraussetzungen gegen alle Großklubs der 2. Bundesliga und Mit-Aufsteiger RasenBallsport Leipzig durchsetzen konnte.

Der Weg von Darmstadt ist eigen, ungewöhnlich - ein Märchen. Vielleicht können die gescheiterten Konkurrenten aber doch etwas von den Lilien lernen, denn der Underdog hat gezeigt: Mentalität schlägt Qualität.

 

Christoph Kristandl