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Vor 15 Jahren: Stephan Eberharters Genie-Streif

von Daniela Kulovits Foto: © getty

24. Jänner 2004, kurz vor 12:30 Uhr. 

1,85 Millionen Fernsehzuschauer und rund 50.000 Fans an der Strecke blicken gespannt auf die Streif in Kitzbühel. Im Starthaus steht Stephan Eberharter, Österreichs letzte Chance auf einen Podestplatz bei der legendärsten Abfahrt der Welt. 

Was folgt, ist Ski-Geschichte. Eberharter zertrümmert die Konkurrenz und gewinnt das Rennen mit 1,21 Sekunden Vorsprung vor Daron Rahlves (USA) und Ambrosi Hofmann (SUI). Die Siegesfahrt des Tirolers gilt bis heute als die wohl beste Fahrt, die je einem Athleten auf der Streif gelungen ist. 

15 Jahre danach erinnert sich Stephan Eberharter im LAOLA1-Interview an seine Fahrt zurück. Über ein Gehirn in Alarmstufe Rot, eine "Bombenexplosion" im Ziel und den Umweg über die Parkgarage:

LAOLA1: Deine legendäre Siegesfahrt bei der Abfahrt in Kitzbühel 2004 ist jetzt 15 Jahre her. Wenn du an den Tag zurückdenkst, was fällt dir als erstes ein?

Stephan Eberharter: Dass alles perfekt war – das fällt mir ein! Nicht nur das Wetter, sondern auch die Kulisse. Die Strecke war in einem Top-Zustand und es waren 45.000 Zuschauer da. Was das Rennen so spannend gemacht hat war, dass in gestürzter Reihenfolge gestartet wurde, also der Beste kam zum Schluss mit Nummer 30. Es hat sich dann so aufgeschaukelt. Ich bin als Letzter oben gestanden und es war zu dem Zeitpunkt kein Österreicher unter den besten drei. Ich war sozusagen die letzte Hoffnung für Österreich (lacht) und hab dann so ein beeindruckendes Rennen hingelegt und mit über einer Sekunde Vorsprung gewonnen. Das hat es in Kitzbühel halt lange nicht gegeben. Deshalb – so reime ich mir das zusammen – ist meine Fahrt den Menschen so in Erinnerung geblieben.

LAOLA1: Du hast wenige Monate später deine Karriere beendet. Bist du schon mit dem Bewusstsein gefahren, dass es wohl deine letzte Abfahrt in Kitzbühel sein wird?

"Wenn mir als 20-Jähriger jemand gesagt hätte, dass ich zwei Mal die Abfahrt in Kitzbühel gewinne, hätte ich gesagt, das kann nie und nimmer sein."

Eberharter: Ich bin generell immer mit der Einstellung in ein Rennen gegangen, gewinnen zu wollen, alles andere wäre nicht gut gewesen. Den Druck, unbedingt gewinnen zu müssen, habe ich mir jedoch nie auferlegt. Ich habe damals aber schon geahnt, dass es mein letztes Rennen in Kitzbühel sein wird und deshalb hat es mir sehr, sehr viel bedeutet, noch einmal gewinnen zu können. Aber ich persönlich sehe den Erfolg noch aus einem ganz anderen Aspekt, weil ich ja eigentlich nie ein Abfahrer werden wollte. Ich war immer ein Riesentorläufer und Super-G-Fahrer. Wenn mir als 20-Jähriger jemand gesagt hätte, dass ich zwei Mal die Abfahrt in Kitzbühel gewinne, hätte ich gesagt, das kann nie und nimmer sein. Aber wenn man um den Gesamtweltcup mitfahren wollte, ist man um die Abfahrt nicht herumgekommen. Es war eine Herausforderung für mich, aber wenn sich Chancen auftun, dann nutze ich sie. Ich habe diese Herausforderung angenommen und es war eine gute Entscheidung.

LAOLA1: Du hast damals zwei Tage davor bei der ersten Abfahrt auf der Streif (Ersatz-Abfahrt für Bormio) um eine Hundertstel-Sekunde den Sieg verpasst. War bei deinem Sieg ein bisschen Wut dabei?

Eberharter: Nein, überhaupt nicht. Ich bin kein Typ, der irgendwo auf Rache aus ist. Ja, ich war in der ersten Abfahrt knapp dran am Sieg, vielleicht hatte ich deshalb dann den zusätzlichen Willen. Der Wille, die letzte Chance, die sich mir in Kitzbühel bei traumhaften Bedingungen bietet, zu nutzen und zu gewinnen. Vielleicht war es das, aber sicher nicht, weil ich zwei Tage davor um eine Hundertstel hinten war.

LAOLA1: Hast du während der Fahrt schon gemerkt, dass du sehr schnell unterwegs bist?

Eberharter: Während der Fahrt passiert alles wahnsinnig schnell, innerhalb von zwei Minuten. Das kommt dir vor wie ein Sprint. Alles passiert so schnell, dass man eigentlich keine Zeit hat, darüber zu sinnieren, was jetzt nicht gepasst hat. Man versucht nur, die Schwungansätze richtig zu treffen und die Sprünge zu erwischen. Der Rest sind Automatismen. Aber es gibt schon gewisse Passagen, wo man das Hirn einschalten muss. Es ist besser, man lässt unter der Hausbergkante in der Kompression und in der Traverse ein Zehntel liegen, bevor man im Netz liegt, fährt es klug und holt dafür danach zwei oder drei Zehntel raus. Man hört zwar immer "Augen zu und durch" oder "Man muss das Hirn ausschalten", aber das sind alles Metaphern, die für mich keinen Sinn machen. Die Wahrheit ist, dass das Hirn Alarmstufe Rot hat, wenn du am Start stehst.

VIDEO: Stephan Eberharters legendärer Kitzbühel-Sieg 2004 (ab 08:10 Min.):

LAOLA1: Warst du überrascht, als du im Ziel diesen Riesenvorsprung von 1,21 Sekunden auf der Anzeigetafel gesehen hast?

Eberharter: Meine Reaktion im Ziel war wie eine Bombenexplosion. Das hat es bei mir selten gegeben, dass ich solche Gefühlsregungen gezeigt habe. Aber da ist natürlich schon Vieles abgefallen, trotz des ganzen Adrenalins. Natürlich habe ich sofort realisiert, dass ich Bestzeit hatte, aber auf den Vorsprung habe ich zuerst gar nicht so geschaut. In erster Linie ist wichtig, dass Platz eins aufleuchtet. Das ist dann natürlich ein Glückgefühl.

LAOLA1: Wie wurde der Sieg am Abend gefeiert?

"Ich bin damals über die Parkgarage ins Hotel rein und mit dem Lift direkt in mein Zimmer. Ich habe 400 Leute einfach stehen lassen, weil ich gesagt habe, das kann ich mir jetzt nicht auch noch antun."

Eberharter: Leider nicht so, wie man sich das immer vorstellt. Es ist ein irrsinniger Stress. Zuerst musste ich im Zielraum zu den Journalisten, dann provisorische Siegerehrung, Dopingkontrolle, Pressekonferenz. Um vier, halb fünf bin ich dann einmal ins Hotel gekommen, wo auch schon die Fans davor warteten. Ich bin damals über die Parkgarage ins Hotel rein und mit dem Lift direkt in mein Zimmer. Ich habe 400 Leute einfach stehen lassen, weil ich gesagt habe, das kann ich mir jetzt nicht auch noch antun. Im Zimmer habe ich kurz geduscht, dann musste ich ins Fernsehstudio, zur großen Siegerehrung, danach nochmal zum Fernsehen. Und dann noch ins VIP-Zelt, dort hatte ich um 22 Uhr einen Auftritt. Irgendwann um 23 Uhr war alles vorbei, da bin ich dann in mein Hotelzimmer, hab mir ein Bier bestellt und um 24 Uhr war das Licht aus. Also leider ist es nicht so, dass man die Ski über den Zaun wirft und sagt: Jetzt gehen wir feiern. Auch wenn es so gehen würde, macht es niemand, weil der Fokus schon wieder auf den nächsten Rennen liegt. Sportler haushalten mit ihren Kräften, wo es nur geht.

LAOLA1: Wenn du auf deine Karriere zurückblickst: Wo ordnest du den Kitz-Sieg 2004 für dich persönlich ein?

Eberharter: Schon ganz oben neben Olympia- und WM-Gold. Die Gesamtweltcup-Siege thronen über allem, das muss man ganz ehrlich sagen. Der Gesamtweltcup zeigt, dass du im ganzen Jahr der stärkste Fahrer warst und nicht nur bei einem Rennen. Deshalb zählt das rein vom Sportlichen her am meisten. Aber ein Sieg in Kitzbühel ist etwas sehr emotionales. Vor allem in meinem letzten Rennen dort nochmal so zu triumphieren. Kitzbühel ist nur eine Stunde von mir zuhause entfernt, es waren viele Zillertaler vor Ort. Die haben sich mitgefreut und eine Riesenparty gefeiert – ohne mich (lacht) – das ist schon was ganz besonderes. Kitzbühel ist einfach das Mekka des alpinen Skisports, jeder Abfahrer hat einen Sieg auf der Streif auf seiner To-do-Liste. Dort zu gewinnen, ist wie ein Ritterschlag.

LAOLA1: Für viele ist deine Fahrt zum Sieg 2004 nach wie vor die perfekte Fahrt auf der Streif. Was braucht es für einen Sieg in Kitzbühel?

Eberharter: Man muss ein gewisses Risiko eingehen. Ich habe damals zum Beispiel unter der Hausbergkante ein bisschen eine engere Linie gewählt – gut zwei, drei Meter enger als alle anderen – und das hat dann unten raus auf den letzten 19 Fahrsekunden fünf Zehntel gebracht. Ich habe die Risiken abgewogen, bin sie bewusst eingegangen. Jeder Fahrer muss selbst entscheiden, wie viel Risiko er nehmen will, um zu gewinnen. Die Abfahrt ist immer eine Gratwanderung.

LAOLA1: Wie lautet dein Siegertipp für die Abfahrt am Samstag?

Eberharter: Man muss die üblichen Verdächtigen auf der Rechnung haben, also die Norweger und Dominik Paris, er liebt Kitzbühel und ist ein wilder Hund. Ich hoffe natürlich, dass der eine oder andere Österreicher mitmischen kann. Vincent Kriechmayr muss man nach seinem Sieg in Wengen natürlich auf die Favoritenliste setzen, ich hoffe, der Erfolg hat ihm einen Schub gegeben. Aber auch Max Franz, dem scheint der Markenwechsel gut getan zu haben, oder Matthias Mayer gehören dazu. Hannes Reichelt ist nicht mehr der Jüngste, aber mich hat auch meine eigene Karriere gelehrt, dass man niemals nie sagen sollte. Es geht oft schnell und man ist wieder vorne dabei. Ich wünsche mir nichts mehr, als einen weiteren österreichischen Nachfolger von mir.

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Textquelle: © LAOLA1.at