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"Langsam verstehe ich die Sportart nicht mehr"

Aggressiver und gefährlicher

Punkto Technik erklärt der Stubaier, die Entwicklung fördere wieder einen sehr extrem Sprungstil, der schon zu Zeiten eines Kazuyoshi Funaki zum Erfolg führte. „Die Leute, die extrem Richtung machen und ein gutes Sprunggelenk haben, sind vorne.“ Das sei ein „wunder Punkt“, und mache Skispringen aggressiver und auch gefährlicher, „das hat man wieder bei Morgi gesehen“.

Doch auch, was das Material betrifft, habe man im Lager der Österreicher Aufholbedarf. Man müsse hierfür etwas ausholen, so Schlierenzauer, der Zeitpunkt sei aber genau der richtige hierfür.

Volles Risiko

Vier Jahre seien nunmehr vergangen, seit Simon Ammann mit der Stab-Bindung in Vancouver für eine kleine Revolution sorgte, weil man durch die flachere Skiführung prompt mehr Druck und Auftrieb hatte.

Wie schon in der Funaki-Ära sei es nun wieder der Fall, dass die Athleten am Schanzentisch „rausspringen, was geht“, ohne dabei am Schanzentisch jenen Druck nach oben zu machen, wie es in der jüngeren Vergangenheit der Fall war.

„Die Leute, die ein extrem gutes Sprunggelenk haben, nach vorne Bolzen und dabei ein sehr schnelles Ski-Körper-System haben, sind vorne.“

Wozu der Aufwand?

Darunter leidet die Motivation beim zweifachen Gesamtweltcupsieger: „Was ich mich hinterfrage, ist, warum ich eigentlich so viel trainiere.“ Er mache sich permanent Gedanken, wo noch Verbesserungspotenzial sei „und dann hat man solche Wettkämpfe, die sicher nicht einwandfrei sind.“ Spreche er das dann in aller Offenheit an, werde er allerdings stets als „schlechter Verlierer“ hingestellt. „Ich glaube aber, es ist höchste Zeit, dass mehrere etwas sagen.“

Der Traum ist geplatzt.

Gregor Schlierenzauer landete im Skisprung-Bewerb auf der Großschanze auf Platz sieben und hat damit sein großes Ziel, die Goldmedaille in einem Einzelwettkampf zu gewinnen, verfehlt.

Vier Jahre hatte er hart dafür gekämpft, nachdem er sich in Vancouver mit zweimal Bronze sowie Team-Gold dekoriere.

Die Enttäuschung war beim 24-Jährigen entsprechend groß.

„Ich habe schon viel gewonnen, aber schön langsam verstehe ich die Sportart nicht mehr“, erklärte er nach dem Bewerb. „Im ersten Durchgang hat eh jeder gesehen, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht.“

Top-Stars nicht im Finale

Zahlreiche Top-Athleten verpassten den Sprung in den zweiten Durchgang, darunter die Saisonsieger Thomas Morgenstern, Thomas Diethart und Andreas Wellinger. Der Wind wechselte binnen weniger Minuten, sodass einige Athleten Windpunkte gutgeschrieben bekamen, andere wieder abgezogen.

Kleines Beispiel: Der Pole Maciej Kot bekam mit Nummer 33 10,6 Zähler gutgeschrieben, dem Japaner Daiki Ito (38) hingegen 10,9 wieder abgeknöpft.

Spiegelbild der Saison

Am Ende standen mit dem Polen Kamil Stoch, Altmeister Noriaki Kasai aus Japan und dem Slowenen Peter Prevc dennoch drei der dominierenden Springer dieser Saison ganz oben. Schlierenzauer erklärt das wie folgt:

„Skispringen entwickelt sich leider dahin, dass a) eine gewisse Technik greift, es b) eine Materialschlacht ist und c) du das nötige Glück brauchst. Wenn du diese Komponenten hast, kannst du etwas gewinnen.“

Im umgekehrten Fall würde sämtlicher Aufwand verpuffen und man sei als Athlet „ein bisschen erschossen. Das zeigt nicht nur der Wettkampf, sondern generell die Saison.“

Der Tiroler fackelt daher nicht lange und spricht Klartext: Es fehle nicht nur die nötige Technik, sondern auch das absolute Top-Material.

„Schlieri“ zeigt beispielsweise kein Verständnis dafür, dass die Jury vor ihm um eine Luke verkürzte, nachdem der Japaner Shimizu 134 Meter weit segelte. Das mache man, „damit der Windkorridor wieder passt und man das Springen schnell durchziehen kann. Das sind Dinge, die meiner Meinung nach gesteuert sind.“ Trotzdem betont er mit Nachdruck, dass er die Leistung der Medaillengewinner nicht schmälern wolle. Diese seien „am besten gehüpft“ und haben daher verdient die Medaillen abgeräumt.

Vettel in einem "scheiß Auto"

All diese Komponenten würden Schlierenzauer allerdings ermüden und Substanz kosten. „Das ist ungefähr so, als würde Vettel alles geben und ein scheiß Auto haben.“ Der ÖSV sei, was Technik und Material betrifft, „sicher nicht ganz up to date“, die Konkurrenz aus dem Ausland einen Schritt voraus.

Ob der Verband sich nach all den Erfolgen der letzten Jahr auf den Lorbeeren ausruhte, wolle er nicht beurteilen, weil es nicht seine Aufgabe sei. „Ich habe meine Hausaufgaben, hart zu trainieren und zu versuchen, mich weiterzuentwickeln, gemacht. Alles andere ist meistens ein Leitbild des Trainers oder der Trainer der gesamten Mannschaft. Da muss man sicherlich den Hebel ansetzen, weil sich Skispringen in die andere Richtung entwickelt hat.“

Alles drin im Teambewerb

Er selbst habe im Vorjahr noch von den engeren Anzügen profitiert, gibt er unumwunden zu, und sei dadurch viele anderen wohl einen Schritt voraus gewesen. Inzwischen hätten ihn die anderen allerdings längst überholt.

Über seine Zukunft wollte er nicht nachdenken, da am Montag noch der Teambewerb auf dem Programm steht, in dem es für Österreichs Adler ein letztes Mal darum geht, Edelmetall sicherzustellen. Dabei sieht er für sich und seine Teamkollegen durchaus Chancen: „Es ist nach wie vor alles offen.“


Aus Sotschi berichtet Christoph Nister