news

Le Tour: Vom "Rettungsprojekt" zum Mega-Event

Le Tour: Vom

Henri Desgrange war Anfang des 20. Jahrhunderts wahrlich nicht um seinen Job zu beneiden.

Der Chefredakteur der Zeitung „L’Auto-Vélo“ hatte sein Blatt gerade in „L’Auto“ umbenennen müssen, da die Ähnlichkeit zu „Le Vélo“ zu groß war. Zu allem Überfluss geriet der Nummer-1-Status seiner Gazette heftig ins Wanken.

Die Konkurrenz schickte sich an, die Führungsposition zu übernehmen. Desgrange stand mit dem Rücken zur Wand. Etwas Neues musste her. Etwas noch nie Dagewesenes. Etwas, worüber die Leute in Frankreich sprechen würden.

Die Zeit verrann und der Druck wurde immer größer, als ein junger Mann namens Géo Lefèvre bei Desgrange vorstellig wurde, um diesem eine waghalsige Idee zu Gemüte zu führen.

Geburtsstunde eines Mythos

Eine Rundfahrt quer durch Frankreich schwebte dem Jung-Journalisten vor. Damit sollte man das Eintagesrennen Bordeaux-Paris von „Le Vélo“ übertreffen.

„Überall im Land werden die Leute darauf aufmerksam und unsere Zeitung kaufen, um Neues darüber zu erfahren“, frohlockte Lefèvre.

Zunächst war die Skepsis bei seinem Chef groß, dieser wog das Für und Wider sorgfältig ab. Je länger Desgrange darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Idee. Ein Mythos war geboren.

Henri Desgrange (l.) gründete die Tour 1903 - heute ist sie ein Mega-Event

Vom „Rettungsprojekt“ zum Mega-Event

Doch trotz aller Kritik am Betrug viele Fahrer wuchs die Begeisterung für die Tour de France weiter an. Immer mehr Zuschauer wollten sich darüber informieren, immer mehr Geld war im Spiel.

Die „Große Schleife“ entwickelte sich vom „Rettungsprojekt“ zum Mega-Event. Gemessen an Werbewirksamkeit, TV-Zuschauern und Medieninteresse ist sie das größte jährliche Sportereignis der Welt. Lediglich die Fußball-Weltmeisterschaft und die Olympischen Sommerspiele, die alle vier Jahre stattfinden, haben global gesehen eine größere Bedeutung.

So verwundert es kaum, dass die 100. Ausgabe der Frankreich-Rundfahrt mit beeindruckenden Zahlen auswartet. Das Speichenspektakel, das von 29. Juni bis 21. Juli von Korsika nach Paris rollt, wird in 190 Ländern ausgestrahlt.

Mehr als 2.000 Journalisten folgen dem Tour-Tross auf Schritt und Tritt. In etwa zwölf Millionen Menschen (so viele waren es 2012) säumen die Straßen, um ihren Lieblingen zujubeln zu können. Davon reisen rund 20 Prozent aus dem Ausland an, während die Geschlechterverteilung ein Drittel Frauen zu zwei Drittel Männer beträgt.

Nicht zu vergessen ist die weltbekannte Werbekarawane, die vor dem Peloton durch die Ortschaften rollt, um an die ausharrenden Zuschauer 14,5 Millionen Geschenke zu verteilen. Apropos ausharren: Im Schnitt verbringt ein Zuschauer knapp sieben Stunden am Straßenrand, um schlussendlich für nur wenige Sekunden einen Blick auf die Froomes und Voecklers dieser Welt zu erhaschen.

Ein eindrucksvoller Beweis dafür, dass die Tour von den Fans und für die Fans lebt. In kaum einer anderen Sportart kommen Zuseher ihren Idolen näher. Rad-Anhänger lieben ihre Sportart, sie respektieren die Leistungen der Athleten und begeistern sich für die Veranstaltung an sich.

Aus diesem Grund lassen sie sich auch von Doping und anderen Betrügereien nicht unterkriegen. Sie halten den Sport am Leben und stehen ihm in harten Zeiten bei. Sie machen den „Mythos Tour“ aus.

 

Christoph Nister

Die „Tour de France“, so sollte der Name lauten, wurde zum großen Rettungsprojekt der Zeitung und sollte im Juli 1903 erstmals stattfinden. Die Suche nach geeigneten Teilnehmern gestaltete sich jedoch schwierig.

Die Straßen waren holprig, die Strapazen groß, zudem wurden Etappen über mehrere Tage veranschlagt – nur wenige wollten sich das antun.

So warb Desgrange offensiv in seinem Blatt („Die größte Rad-Prüfung der Welt“) und rief ein für damalige Verhältnisse hohes Sieger-Preisgeld von 3.000 Francs aus. Zum Vergleich: Der Starteinsatz betrug lediglich zehn Francs.

Premierensieger sorgt für Skandal

60 Wagemutige sollten sich schließlich am 1. Juli 1903 in Montgeron einfinden, um bei der Weltpremiere am Start zu stehen. 467 Kilometer standen beim ersten Teilstück auf dem Programm, Lyon wurde als Zielort auserkoren.

Dem Franzosen Maurice Garin wurde die Ehre zuteil, sich als Premieren-Etappensieger in die Geschichte einzutragen. 2.428 Kilometer und rund drei Wochen später stand der 32-Jährige letzten Endes auch als Gesamtsieger fest.

Ausgerechnet er, der erste Held der Tour, sollte ein Jahr später auch für den ersten handfesten Skandal verantwortlich zeichnen. Zunächst wurde er zwar erneut als Triumphator gefeiert, doch wachsame Zuschauer witterten Betrug.

Monate, nachdem er das Preisgeld entgegennahm, wurde Garin als einer von vier Fahrern – es waren die Top 4 des Gesamtklassements – disqualifiziert. Das Quartett hatte es sich zu einfach gemacht und Streckenabschnitte mit dem Zug absolviert, um Zeit zu gewinnen.

So avancierte Henri Cornet zum großen Nutznießer und steht seither mit nur 20 Jahren als jüngster Gewinner aller Zeiten in den Tour-Geschichtsbüchern.

Die Tour wankte nach diesem Schock, fallen sollte sie allerdings nicht. Das französische Publikum war angetan von der Idee, Radler quer durch das Land zu schicken, und ließ Desgranges Zeitung „L’Auto“ einen Boom erleben.

Einführung von Sondertrikots

Um den Zuschauern etwas Neues zu bieten, wurden 1910 erstmals die Pyrenäen, im Jahr darauf auch die Alpen in den Rennverlauf eingebunden. Die Teilnehmer waren nicht sonderlich begeistert. Octave Lapize, der 1910 Gesamtsieger werden sollte, schimpfte: „Ihr verdammten Mörder!“ Es war der Anfang unzähliger legendärer Bergetappen, die die Tour im Laufe ihrer Historie prägten.

Die Rundfahrt sollte sich von Jahr zu Jahr größerer Beliebtheit erfreuen und wurde schnell ins französische Kulturgut aufgenommen. Lediglich während der beiden Weltkriege musste sie notgedrungen für einige Jahre pausieren.

Um den Führenden der Gesamtwertung besonders zu würdigen, führte Desgrange im Jahr 1919 das Gelbe Trikot („Maillot Jaune“) ein. Warum die Wahl auf diese Farbe fiel, ist bis heute nicht restlos geklärt. Aufgrund der in Gelb gehaltenen Zeitung, mutmaßen die einen. Da auf die Schnelle kein anderer Stoff aufzutreiben war, halten andere dagegen für die plausibelste Erklärung. Die weiteren Sondertrikots sollten 1953 (Grün) und 1975 (Berg und Nachwuchs) erstmals vergeben werden.

Fahrer, die bei der Tour brillierten, avancierten schnell zu Stars. Gino Bartali, Fausto Coppi, Jacques Anquetil oder Eddy Merckx entwuchsen selbst diesem Status. Bis heute gelten diese Fahrer als Nationalhelden in Italien, Frankreich oder Belgien.

Mit dem Ansehen wuchsen auch die Ansprüche. Es wurden neue Ecken und Winkel Frankreichs erschlossen, die TV-Stationen sprangen auf den Erfolgszug auf und berichteten live. Zudem erhöhten die Verantwortlichen die Preisgelder, um dem Status der „Grande Boucle“ weiter gerecht zu werden.

Während man sich im Laufe der Jahrzehnte sportlich und administrativ auf immer höheres Terrain begab, musste man allerdings auch immer wieder Rückschläge hinnehmen. So betrauerte die Tour 1967 ihren ersten Todesfall.

Dunkles Kapitel Doping

Tom Simpson, der erste Brite im „Maillot Jaune“, brach auf dem Weg hoch zum Mont Ventoux zusammen. Zunächst rappelte er sich nach einem Sturz mit Hilfe der Zuschauer wieder auf, wollte er doch unbedingt das Ziel erreichen. Doch der 29-Jährige war am Ende, fuhr Schlangenlinien und kam erneut zu Fall.

Simpson verlor das Bewusstsein und ein dramatischer Kampf um sein Leben begann. Zuschauer leisteten erste Hilfe, ehe Ärzte eintrafen und Wiederbelebungsversuche durchführten. Es war vergebens, für den ehemaligen Weltmeister kam jede Hilfe zu spät.

Es sollte die Geburtsstunde eines der dunkelsten Kapitel im Radsport sein. In seinem Trikot wurde ein leeres Fläschchen eines Amphetamin-Präparates gefunden. Das Thema Doping trat in Erscheinung und sollte sich im Laufe der Jahre immer wieder als lästiger Begleiter entpuppen.

Im Jahr 1998 stand das bedeutendste Radrennen der Welt kurz vor dem Abbruch, nachdem Festina-Masseur Willy Voet von Grenzbeamten mit einem Kofferraum voller verbotener Medikamente erwischt wurde.

Spanische Teams verließen die Rundfahrt kurzentschlossen aus Protest, da sie sich ungerecht behandelt fühlten. Nur dank des diplomatischen Geschicks des damaligen Tour-Direktors Jean-Marie Leblanc gelang es, das Rennen zu retten.

Während sich viele nach dieser Affäre auf dem richtigen Weg wähnten, sollte 2006 der nächste Skandal folgen. Die „Operación Puerto“ wurde unmittelbar vor Rundfahrt-Beginn publik und kostete zahlreiche Stars, allen voran Jan Ullrich, Ivan Basso und Joseba Beloki, nicht nur ihre Teilnahme, sondern auch ihren Ruf.

Die Doping-Problematik hat die Tour erneut eingeholt und lässt sie seither auch nicht wieder los. Floyd Landis, Alexandre Vinokourov oder Lance Armstrong sollten fortan für zahlreiche Negativ-Schlagzeilen sorgen und das Image des Radsports beschädigen.