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"Man müsste schon bei der Basisarbeit vieles ändern"

Die warme Jahreszeit ist ein zweischneidiges Schwert für Hallensportler.

Die lebenserfüllende Beschäftigung fordert ihren üblichen Tribut: Kunstlicht statt wärmender Sonnenstrahlen, Training in vier Wänden statt Entspannung an der frischen Luft.

Doch im Falle von Liu Jia sind die Ausnahmen von dieser Regel häufiger geworden, denn ihre bald vierjährige Tochter Anna verlangt viel Aufmerksamkeit. So erwischt auch LAOLA1 Österreichs weibliches Tischtennis-Aushängeschild an einem der ersten frühlingshaften Nachmittage, während sich der Nachwuchs gerade auf einem Spielplatz vergnügt.

Wenige Tage vor dem Abflug nach Suzhou, wo vom 26. April bis 3. Mai (LAOLA1.tv überträgt LIVE) die Weltmeisterschaft in den Einzel- und Doppel-Bewerben ansteht, ist von Anspannung bei der 33-Jährigen nichts zu spüren. Denn trotz Team-EM-Silber 2014, Champions-League-Finale, Europe-Top-16-Sieg und den besten Weltranglistenplatzierungen seit zehn Jahren: Geht es gegen die absolute Weltspitze, sind die Topfavoritinnen andere.

Dass es gerade ihre Tochter ist, die großen Anteil an ihrem zweiten Frühling hat, warum die Chinesen auch langfristig nicht zu schlagen sein werden und was man in Österreich besser machen könnte, verrät Liu Jia im Interview.

 

LAOLA1: Die letzten zwölf Monate markieren die sportlich erfolgreichste Phase seit deinem Einzel-Titel bei der EM 2005. Was ist der Grund für deine gute Form?

Liu Jia: Ich habe jetzt eine gewisse Lockerheit und eine ganz andere Einstellung zum Sport als noch vor der Baby-Pause. Ich bin entspannter als je zuvor, fühle mich im Training ausgeglichener und mache mir keinen Stress mehr wegen einzelner Fehler. Das macht ganz viel aus.

LAOLA1: Wie verändern sich Karriere und Leben einer Spitzensportlerin, wenn sie ein Kind bekommt?

Liu Jia: Ich trainiere weniger, aber dafür achte ich mehr auf die Qualität. Das gilt auch für das Privatleben, da ich gerade viel unterwegs bin. Ich lebe immer im Hier und Jetzt und versuche, im Training fokussiert zu sein und in der Zeit mit meiner Tochter wieder vom Sport abzuschalten. Ich habe wirklich kaum mehr Zeit für mich selbst und merke schon abends um sieben, wenn ich die Kleine ins Bett bringe, dass ich fix und fertig bin. Mein Schlafrhythmus ist an ihren angepasst, um auch Erholungsphasen zu haben. Ich schlafe zur gleichen Zeit wie sie und stehe auf, wenn sie munter wird. Aber alles geht, wenn man mit Freude dabei ist. Sie ist eine große Bereicherung in meinem Leben und ich genieße jeden Moment mit ihr.

LAOLA1: Die Umstellung auf Bälle aus neuem Material war in den vergangenen Monaten vorherrschendes Thema im Tischtennis-Sport. Wie hast du dich darauf eingestellt, macht es einen großen Unterschied?

Liu Jia: Ja, auf jeden Fall. Das spielt eine große Rolle. Ich versuche immer daran zu denken, dass für alle die gleichen Bedingungen herrschen. Je weniger Gedanken ich mir darüber mache, umso leichter fällt es, damit klarzukommen.

LAOLA1: War die Umstellung eine gute Idee?

Liu Jia: Nein, eine schlechte. Es macht das Spiel kompliziert, wenn man sich umstellen muss. Manche Profis haben über 20 Jahre mit Zelluloid-Bällen gespielt. Trotzdem denke ich, dass sich der Sport langfristig nicht zu sehr ändert. Wir haben in letzter Vergangenheit viele Regeländerungen durchgemacht und es ist im Grunde noch der gleiche Sport wie früher.

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LAOLA1: Du warst selbst lange ins chinesische Ausbildungssystem involviert. Was wäre für Europa nachahmenswert, was ist auf der anderen Seite das schlechte an dieser Philosophie?

Liu Jia: Was wir lernen könnten, wäre, dass sich jemand um die Sportler kümmern muss. Viele von unseren Spielern sind Selbstunterhalter, die das Glück haben, von den Eltern unterstützt zu werden. Ich glaube, dass viele Kinder, die sich für Tischtennis interessieren würden, nicht wissen, wo sie hingehen sollten, um in gute Hände zu gelangen. Aber: Ich finde, dass die europäischen Spieler kreativer sind. Sie trainieren individueller, da finde ich das chinesische Nationaltraining vergleichbar mit einer Maschine. Alle müssen sich an die Regeln halten und immer das gleiche machen. Die Individualität leidet sicher darunter.

LAOLA1: Bleibt nicht sogar die Freude am Sport auf der Strecke, wenn man derart „gedrillt“ wird?

Liu Jia: In China wird das nicht hinterfragt. Die kämpfen wie die Schweine, damit sie rankommen, und schauen immer nur darauf, dass sie weiterkommen. Da geht es nicht mehr darum, Spaß an der Sache zu haben, sondern um Chancen, vielleicht sogar ums Überleben. Bei uns ist Sport für viele nur Hobby und die Konkurrenz nicht so groß. Wenn ich drei, vier Jahre nicht mein bestes Tischtennis spiele, tut mir trotzdem keiner weh. In China bist du nach einem halben Jahr völlig weg.

LAOLA1: Was könnte man in Österreich konkret besser machen, außer Geld zur Verfügung zu stellen?

Liu Jia: Schulprojekte initiieren. Vereine und Schulen müssen miteinander arbeiten, damit Kinder mehr Lust bekommen, sich in ihrer Freizeit zu bewegen. Es müssten viel mehr Kinder an sportlichen Aktivitäten teilnehmen, auch die Eltern bräuchten eine Motivation, damit ihre Kinder gut im Sport werden. Da könnte man Großes bewegen. Ich bin jetzt schon lange in Österreich und konnte zuschauen, wie viele Talente verloren gingen, weil sich niemand um sie gekümmert hat. Wir brauchen auch die Gruppendynamik: Wenn ein Miteinander entsteht, selbst mit Konkurrenz untereinander, macht es jedem Einzelnen mehr Spaß. Wenn dann noch Verwandte und Freunde zuschauen kommen, könnte sogar das allgemeine Interesse am Sport steigen, es wäre eine positive Spirale.

LAOLA1: Eine WM in China ist etwas Besonderes, und die Chinesinnen und Chinesen sind mit Heimvorteil noch größere Favoriten, als ohnehin immer. Gibt es einen Plan, wie man an ihnen vorbeikommt?

Liu Jia: (überlegt) Es wird niemand schaffen, auch langfristig nicht. Im Tischtennis-Sport herrschen keine guten Grundbedingungen. Es gibt zu wenig Nachwuchs und Trainer, dazu hören viele Kinder bald wieder auf. Wie soll man irgendwann gegen Chinesen gewinnen, wenn man wenig und schlecht trainiert? Es gibt in vielen Jahren nur einzelne Ausnahmen, siehe Werner Schlager. Man müsste schon bei der Basisarbeit vieles ändern. Es ist zwar schön, dass wir eine Einrichtung wie die Werner Schlager Academy in Schwechat haben, aber gutes Training allein heißt auch noch nicht, dass die Spieler am Ende gut ausgebildet sind. Es gibt genug Hobbyspieler, die drei-, viermal die Woche trainieren. Welche Zielsetzungen hat man? Welches Alter? Es spielt alles eine Rolle. Die WSA ist eine gute Idee, aber nichts, was die Welt verändern wird. Da müsste man in jedem Verein, in jeder Schule appellieren, dass die Kinder mit entsprechender Einstellung an die Sache gehen, dann kann es vielleicht etwas werden.

LAOLA1: Wird es für die Chinesen nicht langsam „langweilig“, dass sie alles gewinnen? Dominanz tut weder einer Sportart noch jenen, die dort an der Spitze stehen, gut. Neuerdings werden bei den Männern auch Doppel-Paarungen mit europäischen Spitzenspielern gebildet, um etwas „Hilfe“ zu leisten.

Liu Jia: Das denke ich nicht, die Trainer brauchen diese Leistungen, denn es geht um ihre Jobs. Und die Spieler bekommen gut bezahlt, leben wie im Paradies. Die großen Titel, vor allem jene im Einzel und in der Mannschaft, wollen sie immer gewinnen. Dass jetzt gemischte Doppel gebildet werden, ist schon ein riesiger Schritt für China. Aber es ist vergleichbar mit einem Hilfsprojekt für ein Land der dritten Welt: Es ist nicht, was es braucht. Sondern Grundbedingungen, vor allem Förderungen und Geld, damit man Projekte realisieren und gute Trainer engagieren kann.

LAOLA1: Zurück zur WM. Was sind deine Ziele? Ist mit deinem Hintergrund eine besondere Motivation da?

Liu Jia: Ich habe keinen großen Druck, die Goldmedaille zu gewinnen, aber trotzdem das Ziel, meine beste Leistung zu bringen und daraus zu lernen. Für mich ist es ein großer Test in Richtung der Olympischen Spiele, denn die WM ist schwerer zu spielen, da auch sieben oder acht Chinesinnen teilnehmen (bei Olympia sind nur zwei Vertreter jeden Landes zugelassen, Anm.) und es ist verdammt schwer, diese Mauer zu durchbrechen. Aber ich freue mich total darauf und bin offen für alles, was passieren mag.

LAOLA1: Musst du dich auf ein Turnier mit einer vollen Halle anders vorbereiten? Spielt das in Sachen Konzentration eine Rolle?

Liu Jia: Jetzt nicht mehr. Das ist in der Zwischenzeit ganz normal geworden. Natürlich ist die Stimmung in China anders, es ist alles mächtig. Trotzdem wird das Interesse auch dort immer geringer. Es gibt viel mehr Angebote, auch die Jugendlichen sind verwöhnter und anders aufgezogen. Das macht schon einen Unterschied.

LAOLA1: Was traust du deinen Kollegen bei den Herren zu?

Liu Jia: Keine Medaille (lacht). Sie haben es auch schwer. Aber wer hätte gedacht, dass Werner Schlager ein großes Turnier gewinnt? Niemand. Am besten ist wohl, ohne Erwartungen hinzufahren, und einfach zu spielen.

LAOLA1: In diesem Jahr sind noch die European Games. Für dich ein Thema?

Liu Jia: Auf jeden Fall. Meine größten Erfolge habe ich ja auf europäischer Ebene gefeiert. Ich sehe meine Chancen. Aber auch hier gilt: Besser keine großen Versprechungen machen, sondern sich darauf freuen und gewissenhaft vorbereiten. Schauen wir einfach mal!

LAOLA1: Was wäre wichtiger für dich, ein Erfolg bei einer WM oder Olympia?

Liu Jia: Olympia. Das ist eben etwas für sich. Es ist zwar schwieriger, bei der WM gut abzuschneiden, aber es geht für mich weniger darum, noch etwas zu beweisen. Ich würde einfach gerne einmal bei Olympia etwas gewinnen. Früher war „dabei sein ist alles“ noch eher das Motto (lacht).

LAOLA1: Du bist schon in einer fortgeschrittenen Phase deiner Karriere. Wie lang geht’s noch?

Liu Jia: Auf jeden Fall einmal bis Rio. Danach sehen wir weiter, alles ist offen. Ich habe mir keine Gedanken um „das Nachher“ gemacht, denn es ist noch lange Zeit und man weiß nie, was auf einen zukommt.

 

Das Gespräch führte Johannes Bauer

 

Die Tischtennis-Weltmeisterschaft von 26. April bis 3. Mai in Suzhou/China - LIVE auf LAOLA1.tv