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"Wussten, dass wir gewinnen können"

Vier Stunden, dreiundzwanzig Minuten. Drei Matches über die volle Distanz. Der nächste nervenzehrende Tischtennis-Marathon.

Und dann war das Historische geschafft.

Das Herren-Nationalteam hat bei den Europameisterschaften in Jekaterinburg (LIVE auf LAOLA1.tv) für ein „Plastikball-Cordoba“ gesorgt und Favorit Deutschland mit 3:2 in die Knie gezwungen.

Die erste Goldmedaille im Mannschaftsbewerb, das 14. Edelmetall bei aufeinanderfolgenden kontinentalen Titelkämpfen.

Rückenwind statt Rückschlag

Gardos geriet schnell zwei Sätze in Rückstand, kämpfte sich in den fünften Durchgang, musste Matchbälle abwehren, vergab seinerseits eigene – und verließ den Tisch trotzdem jubelnd. Eine Motivationsspritze.

„Obwohl ich 0:2 mit Matchbällen für Patrick hinten war, habe ich die Partie nie aufgegeben. Das war schon eine Wendung für das ganze Spiel“, gab Österreichs Nummer eins zu Protokoll.

Tatsächlich war der kämpferische Erfolg für den Kopf ähnlich wichtig wie für den Spielstand.

„Wir wussten, dass es ein langes Spiel wird, und dass wir über die volle Distanz gehen müssen, wenn wir unsere Chance nützen wollen. Mental waren wir also auf das lange Match vorbereitet“, schätzte die Weltranglisten-Nummer 26 nach dem Marathon ein.

Es war nämlich davon auszugehen, dass Dimitrij Ovtcharov im Normalfall zwei Siege beisteuern würde. Darauf war man vorbereitet. Der aktuell beste Nicht-Chinese spielt sein druckvolles Tischtennis zu souverän, zu konstant.

Was folgte, war jedoch alles andere als souverän.

Taktische Weichen waren gestellt

Schon vom Start weg schien die Sensation realistisch.

In Abwesenheit von Timo Boll rückte Patrick Baum zur deutschen Nummer zwei auf.

Der Junioren-Weltmeister von 2005 war erst vor einigen Monaten auf die internationale Tischtennis-Bühne zurückgekehrt. Vor einem Jahr starb sein Vater bei einem Verkehrsunfall, ein persönlicher Rückschlag, der eine Auszeit erforderte.

Aus taktischen Gründen eröffnete er das Finale gegen Robert Gardos. Eine Sicherheitsvariante, die Baum als zweitstärkstem Spieler seines Teams bei Notwendigkeit zwei Einsätze ermöglichte und so aus deutscher Sicht Druck von Dimitrij Ovtcharov nehmen sollte.

Denn die Alternative wäre gewesen, Baum an dritter Stelle als Favoriten in das Duell mit Habesohn zu schicken und die Chance zu vergrößern, dieses Einzel zu holen, dafür in den anderen beiden Partien ohne Beteiligung des Top-Stars den etwas schwächeren Patrick Franziska an den Tisch zu lassen und das Risiko zu erhöhen.

Demoralisierungsversuch scheiterte

In der Endabrechnung, so sollte man später wissen, ein entscheidender Unterschied, denn die ranglistengetreue Aufstellung ging nicht auf. Dem Deutschen blieb ein sportromantischer „Abschluss“ seiner traurigen Geschichte verwehrt, er unterlag in beiden Antritten.

Dazu kam eine mentale Komponente bei der Nominierung Baums für die Auftaktpartie. Es war die einzige Begegnung, in der der gegenüberstehende Österreicher als leichter Favorit galt.

Ein Start-Erfolg von Baum, auf den im Endeffekt nur der verwandelte Matchball fehlte, wäre ein Dämpfer gewesen, der in der Folge zum Nachteil hätte werden können und die Mini-Hoffnung fast vernichtet hätte.

Doch es trat das genaue Gegenteil ein.

Fegerl packte alles aus

Stefan Fegerl, im Laufe des Turnieres schon wiederholt nervenstarker Held der ÖTTV-Truppe, verlangte der Nummer fünf der Welt alles ab und lieferte sich mit „Dima“ das Spiel des Turniers.

Der erste Satz ging überraschend an den Niederösterreicher. Dann fand Ovtcharov seinen Rhythmus und stand vor dem Ausgleich. 10:8.

Doch Fegerl kam zurück. Bei 11:10 der erste Moment, in dem bei Deutschland richtig Feuer am Dach war. Ein Zweisatz-Rückstand hätte den Favoriten an den Rande der Niederlage gebracht – und das Finale hätte schnell vorbei sein können.

Der amtierende Einzel-Europameister zog den Kopf mit viel Zappeln aus der Schlinge. 19:17. Satzbälle für Fegerl und Ovtcharov wechselten sich ab, bevor der Deutsche wieder auf Kurs war.

Der Außenseiter hatte wieder etwas dagegen – erst der Entscheidungssatz sollte ein bitteres Ende bringen. Enttäuschung? Natürlich. Doch in Wahrheit ein moralischer Sieg.

Denn mathematisch war dieser knochenhart erkämpfte Ausgleich eine deutsche Pflichtaufgabe. Das Momentum war stärker auf österreichischer Seite denn je.

„Normalerweise stellt das einen Dämpfer dar. Aber Stefan machte einen großen Job und wir wussten dann, dass wir hier gewinnen können“, schätzte auch Gardos ein.

Der heimliche Wendepunkt

Noch war nichts gewonnen, noch war nichts verloren. Daniel Habesohn musste in der Begegnung der beiden „Dreier“ gegen Patrick Franziska auch erst seinen Beitrag leisten.

Letzterer bekam den Vorzug gegenüber Defensivmann Ruwen Filus, der noch das Halbfinale gegen Frankreich bestreiten durfte. Die Deutschen wussten, dass die ÖTTV-Spieler, dank Chen Weixing in ihren Reihen, häufig gegen Verteidigung trainieren und gut dagegen eingestellt waren.

Und trotz der leichten Außenseiterrolle, die durch mäßige Leistungen des Wieners zuvor noch verstärkt wurde, schien auf einmal wieder alles für Österreich zu laufen. In kürzester Zeit lag Habesohn 2:0 voran. Dann riss der Faden.

„Der härteste Moment war, als ich 2:0 und 10:8 vorne war, den Satz aber trotzdem verlor. Auch den nächsten musste ich abgeben – und ich wusste, wenn ich verliere, sind wir in Schwierigkeiten. Da war ich im fünften Satz etwas nervös“, gab er im Anschluss zu.

Doch es reichte. Und auf einmal schien der Traum Wahrheit werden zu können.

Ein beeindruckender Abschluss

Denn Gardos hatte gegen Ovtcharov alles zu gewinnen, nichts zu verlieren. Der Deutsche war in der Drucksituation. Und hielt stand. 3:1. Nicht die Partie, die zu diesem Zeitpunkt im Fokus lag.

Denn es war klar, dass der unter Strom stehende Fegerl die Gelegenheit bekommen würde, seine Paraderolle auszufüllen. Jene des Matchwinners, die er sich gegen Russland und Portugal erarbeitete.

Auf der Gegenseite ein nach dem Auftakt wohl mental angeknackster und ob der Favoritenrolle seiner Mannschaft schwer unter Druck stehender Patrick Baum.

Die Vorzeichen sollten sich erfüllen. Fegerl fegte den Deutschen aus der Spielbox.

3:0.

Europameister.

„Ich wusste, dass ich bei 2:2 die Partie gegen Baum spielen würde, und war daher sehr fokussiert. Es war sogar einfacher als gegen Russland und Portugal. Wir waren bereits im Finale, konnten nichts verlieren, hatten die Chance auf Gold und ich war der Underdog. Daher war ich sehr relaxed“, umschrieb der 26-Jährige seine Situation vor dem wichtigsten Sieg seiner Karriere.

Ein Sieg, der gleich hinter dem Weltmeister-Titel Werner Schlagers Einzug in die österreichische Tischtennis-Geschichte halten wird.

Und ein Sieg, der ÖTTV-Präsident Hans Friedinger den Wunsch nach einer rauschenden Medaillen-Feier sicher erfüllen wird.

 

Johannes Bauer