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Der "echte" Michael Oher: Ein Weltstar wider Willen

Der

Hilton Riverside, Teamhotel der Baltimore Ravens in New Orleans.

Einer der obligatorischen Medien-Termine im Hinblick auf die Super Bowl, zu dem der komplette Kader 45 Minuten lang antanzen muss.

Für Michael Oher ist Tisch Nummer eins reserviert.

Während sich an zahlreichen anderen Tischen im riesigen Konferenzraum bis zu drei Akteure der „Raben“ mangels Interview-Anfragen langweilen, herrscht am Tisch des 26-Jährigen ein reges Kommen und Gehen.

Ungewöhnlich großes Interesse für die wenig medienrelevante Position eines O-Liners. Ein Tackle zählt für gewöhnlich eher zu den stillen Helferleins eines Teams, für die breite Masse nahezu anonym, der klassische brave Soldat.

Um Oher drängen sich vor allem internationale Journalisten. Denn, so blöd es klingt: Rechnet man NFL-Freaks weg, ist dieses 1,93 Meter große und 143 Kilogramm schwere Kraftpaket namens Michael Oher der bekannteste Spieler am Roster Baltimores. Und zwar weltweit gesehen.

Weltstar wider Willen

Genau gesagt, ist dieser Michael Oher ein Weltstar. Ein Weltstar wider Willen allerdings. Dennoch bestens geeignet für den LAOLA1-Fokus in dieser Oscar-Woche.

Gut drei Jahre ist es her, dass der Film „Blind Side“ Heerscharen in die Kinos lockte und bei seinen Sehern für Gänsehaut sorgte. Über 300 Millionen Dollar spielte die Produktion weltweit ein.

Michael Oher war bei Baltimores Medienterminen ein gefragter Mann

Sandra Bullock durfte sich 2010 für die famose Verkörperung von Leigh Anne Tuohy über einen Oscar als beste Hauptdarstellerin freuen, bei der Wahl zum besten Film war man zwar für die kleine Goldstatue nominiert, ging jedoch leer aus.

Bullock hin oder her, das Zentrum des Films ist Oher, dessen bewegende Lebensgeschichte portraitiert wird. Der Werdegang eines obdachlosen Jugendlichen, dessen Mutter schwer drogenabhängig ist, der von der wohlhabenden Familie Tuohy erst aufgenommen und später adoptiert wird, seine Lernschwäche überwindet und als grandioses Football-Talent von zahlreichen Top-Colleges umworben wird.

Ein hervorragender Hollywood-Film, der durchaus unter die Haut geht und auch ein an Football wenig bis gar nicht interessiertes Publikum erreicht hat. Aber letztlich eben „nur“ ein Hollywood-Film.

Das Problem mit dem Football-Teil in „Blind Side“

Oher selbst hat den Blockbuster nur ein einziges Mal gesehen. Für ihn wurde das Movie zu Fluch und Segen zugleich. Letztlich geht er auf Distanz zur Bewegtbild-Nacherzählung seines Lebens. Und zwar weil sie das für ihn entscheidendste Kapitel seines Lebens mit gewaltiger Unschärfe in Szene setzt.

„Ich habe mit dem Film an sich kein Problem. Das einzige Problem, das ich mit Blind Side habe, ist jener Teil, wo es um Football geht. Der Film selbst ist großartig und sehr inspirierend. Aber Football und der Sport generell waren alles, was ich hatte, als ich aufwuchs. Sie haben es aber so aussehen lassen, als hätte ich null Ahnung davon“, kritisiert Oher.

Wenn hollywoodgerechte Dramaturgie die Wahrheit schlägt. „Blind Side“ wäre wohl ein wenig seines Charmes verlorengegangen, hätte Pflegemutter Leigh Anne Tuohy ihrem Sprössling nicht zeigen müssen, wie man blockt, weil dieser mit dem A und O des Footballs ohnehin schon vertraut war.

Leigh Anne Tuohy, Ohers Adoptivmutter, in New Orleans bei der Super Bowl

Oher wurde von Pflegefamilie zu Pflegefamilie geschoben, war zwischenzeitlich obdachlos, besuchte in seiner Jugend elf verschiedene Schulen. Sein sportliches Talent wurde zum Drehmoment seines Lebens.

Als er 2004 bei den Tuohys Unterschlupf fand, war Oher bereits ein Ausnahmekönner an der Briarcrest Highschool in Memphis, seine neue Pflegefamilie bekam schließlich auch die akademischen Probleme in den Griff.

„Eigentlich unglaublich, dass ich auf der ganzen Welt bekannt bin“

2006 widmete Michael Lewis dieser Story einen Teil seines Bestsellers „The Blind Side: Evolution of a Game“. Die „blinde Seite“ eines Quarterbacks wird im Normalfall vom Left Tackle beschützt, Oher spielte diese Schlüsselposition einer jeden O-Line.

Lewis war auf der Highschool ein Klassekollege von Sean Tuohy, Ohers Adoptivvater, war also mit dieser bemerkenswerten Geschichte vertraut. Hollywood pickte sich wiederum diesen Teil des Buchs heraus und adaptierte ihn leinwandgerecht.

„Leute, die sich Blind Side anschauen, haben nicht die Chance, mich wirklich kennenzulernen, aber mir reicht es, wenn die Leute, mit denen ich wirklich eng vertraut bin, wissen, wie ich bin“, erklärt Oher.

Bei aller Skepsis gegenüber nicht unwesentlichen Handlungssträngen möchte er jedoch den Eindruck vermeiden, er sei komplett gegen den Film. Bei allem Fluch gibt es eben auch den Segen.

„Im Film wurde es so dargestellt, als ob ich etwas nicht so gut könne, was mich aber bis hierher gebracht hat“, betont der 26-Jährige am Rande der Super-Bowl-Woche, „ich habe diese Sachen jedoch immer schon gekonnt. Alles andere im Film ist in Ordnung, aber dass sie mich so dargestellt haben, als wüsste ich nicht, wie man Football spielt, hat mich getroffen.“

Weder Produzenten, Drehbuchautor noch Regisseur setzten sich jemals mit Oher persönlich in Verbindung, um seine Story aus erster Hand zu erfahren. Die einzige am Streifen beteiligte Person, die Oher persönlich kennengelernt hat, war jener Schauspieler, der ihn verkörperte. Im Herbst 2010, also knapp ein Jahr nach Erscheinen des Films, traf er Quinton Aaron am Rande eines Ravens-Spiels in Atlanta.

Keinen Cent verdient

Verdient habe er an diesem Welterfolg, der so manches Konto bereicherte, keinen Cent. „Nichts, gar nichts, mir wird nicht vierteljährlich ein Betrag überwiesen“, schwört Oher, der 2010 in seinem Buch „I Beat The Odds: From Homelessness to The Blind Side and Beyond“ seine eigene Version schilderte, mit breitem Grinsen.

Um Geld geht es ihm auch nicht. Oher verdient in seinem Job weit mehr als ausreichend und weiß nur zu gut, wie es ist, wenn man mit leeren Händen dasteht. 1986 wurde er als eines von zwölf Kindern von Denise Oher geboren. Seine Mutter war schwer drogenabhängig, sein Vater mehr als einmal im Gefängnis, wo er schließlich ermordet wurde.

Michael Oher und die Tuohys beim NFL-Draft 2009

Und das macht er bekanntlich nicht so schlecht. Würden die Dreharbeiten erst beginnen, könnte Regisseur John Lee Hancock den Film nach dem Sieg der Ravens gegen die San Francisco 49ers mit dem größten im Football denkbaren Erfolg enden lassen – dem Gewinn der Super Bowl. Das echte Leben kann manchmal also doch noch kitschiger sein als Hollywood.

Oher wird es verkraften, dass er damit den Jugendtraum eines engen Freundes zerstörte. 49ers-Star Patrick Willis, der ebenfalls von Pflegeeltern großgezogen wurde, spielte am College bei „Ole Miss“ an seiner Seite.

„Ich kann mich noch erinnern, als Patrick Willis und Michael bei uns im Wohnzimmer gesessen sind und geübt haben, Autogramme zu geben. Nun machen sie das wirklich, und wir sind einfach nur stolz“, erzählt Leigh Anne Tuohy.

Die Umarmung aller Umarmungen

Die wichtigste Message von Ohers Adoptivmutter bleibt jene, die auch im Film transportiert werden soll: Manchmal muss man im Leben einfach nur eine Chance bekommen.

„Das sind doch großartige Jungs“, meint Tuohy über ihren Michael beziehungsweise Willis, „ihre Geschichten geben uns eine Plattform, um herzugehen und zu sagen: Es gibt noch viele weitere großartige Kinder da draußen, die einfach nur eine Chance brauchen.“

Nach dem Gewinn der Super Bowl ging ein Foto durch die US-Medienlandschaft, das Oher bei einer innigen Umarmung mit seiner Adoptivmutter zeigt.

In „Blind Side“ ist der Satz „Ich könnte jetzt eine Umarmung vertragen“ so eine Art Running Gag.

Jene im Superdome in New Orleans, in der stolzesten Stunde im nicht immer einfachen Leben des Michael Oher, war definitiv ihre emotionalste.


Peter Altmann

„Blind Side hat weltweit so viele Leute inspiriert, ich bin für viele Menschen ein Art Vorbild“, freut er sich wohlwissend, dass er eine Sonderrolle in der NFL einnimmt, weniger für seine sportlichen Künste bekannt zu sein:

„Es ist verrückt zu wissen, dass man so viele Fans hat, die nicht das Geringste über Football wissen. Vor allem wenn man bedenkt, wo ich herkomme, dass ich als Kind nichts hatte, nach einem Unterschlupf suchen musste. Wenn man darüber nachdenkt, ist es eigentlich unglaublich, dass ich auf der ganzen Welt bekannt bin.“

„Witzfigur“ für Mitspieler

Die Handlung des Films endet an jenem Zeitpunkt, als Oher an der University of Mississippi anfängt. Vor dem Abspann werden noch jene Szenen eingespielt, als der „echte“ Michael Oher 2009 von den Baltimore Ravens in der ersten Runde gedraftet wurde.

Logisch, dass er auch bei seinem Arbeitgeber von seiner unfreiwilligen Hauptrolle verfolgt wurde. „Es ist eine Steilvorlage. Witze über Michaels Film sind die einfachsten auf der ganzen Welt, und wir machen viele darüber“, grinst Center Matt Birk, „man muss es sich doch nur vorstellen: Er ist ein O-Liner, der als Rookie zu uns kommt und schon berühmter ist als jeder andere im Team.“

Auch Head Coach John Harbaugh kam nicht umhin, seine ernste Forderung, dass seine Schützlinge besser blocken müssten, mit einer eher saloppen Aktion zu untermalen: Er spielte in einer Teamsitzung einfach jene Szene aus „Blind Side“ ein, in welcher der Leinwand-Oher einen Gegner über das komplette Feld blockt und ihn anschließend über einen Zaun wirft.

„Jeder lag vor lauter Lachen auf dem Boden, das war wirklich witzig“, erinnert sich Oher, der im echten Leben übrigens im Laufe dieser Saison seinen Platz als Beschützer der „Blind Side“ verlor und vom Left Tackle zum Right Tackle umfunktioniert wurde.

In Momenten wie diesen kann Baltimores Nummer 74 über den Film lachen. Dass es grundsätzlich schwierig ist, schon mit Anfang 20 in einem Hollywood-Blockbuster verewigt zu werden, liegt auf der Hand. Diese Ehre wird meist nur Persönlichkeiten zuteil, die ihr Lebenswerk bereits vollendet haben.

Lieber Footballer als weltweites Vorbild

„Ich bin es leid über den Film zu sprechen, ich bin hier, um Football zu spielen“, versuchte Oher zu Beginn der Super-Bowl-Woche noch Fragen zu seiner Causa prima abzuwehren, ehe er mit der Zeit doch ein wenig auftaute.

„Er kann es nicht mehr hören, und das kann man ihm nicht vorwerfen“, erklärt sein Adoptivvater Sean Tuohy, „jeder möge an die Zeit zurückdenken, als er selbst 16 war. Würden Sie diese Zeit immer und immer wieder zum Leben erweckt wissen wollen? Ich bin mir sicher, dass die Zeit kommen wird, wo er realisiert, dass er als Vorbild in der Welt vielleicht einiges verändert hat, aber jetzt in der Gegenwart will er nur Football spielen.“