Wolfgang Niersbach hat die Konsequenzen aus dem "Sommermärchen-Skandal" gezogen und ist als Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) zurückgetreten.
Er habe für sich erkannt, "dass der Punkt gekommen ist, die politische Verantwortung zu übernehmen", sagte Niersbach am Montag nach einer Präsidiumssitzung. Vorerst übernehmen die Vizepräsidenten Rainer Koch und Reinhard Rauball sein Amt.
Persönlich nichts vorzuwerfen
Es gebe Punkte in der Affäre um die WM 2006, bei denen er sich "selber nicht in der Verantwortung fühle", betonte Niersbach. Aber es seien Dinge passiert, die in den vergangenen Tagen aufgedeckt wurden, die ihn zu diesem Schritt veranlassen würden. "Das Amt des DFB-Präsidenten darf damit nicht belastet werden", sagte Niersbach, der über 27 Jahre für den DFB tätig war.
In den von ihm geleiteten Bereichen "kann ich mit gutem Gewissen sagen, dass ich mir persönlich absolut nichts vorzuwerfen habe", erklärte Niersbach weiter. "Umso deprimierender und schmerzhafter ist es für mich, neun Jahre später mit Vorgängen konfrontiert zu werden, in die ich damals nicht einbezogen war und die auch für mich viele Fragen offen lassen."
Niersbach wird seine Posten in den Exekutivkomitees der Europäischen Fußball-Union UEFA und des Weltverbands FIFA allerdings behalten. Das Präsidium habe Niersbach in einem einstimmigen Beschluss darum gebeten, "um sein überragendes Netzwerk dem deutschen Fußball zukünftig zur Verfügung zu stellen", sagte Rauball, der auch Ligapräsident ist. Zum Rücktritt erklärte er, dass es sich nicht um eine "persönliche Entscheidung im Sinne eines Schuldbekenntnisses" von Niersbach handle.
Niersbach wegen Notizen unter Druck
Der 64-jährige Niersbach war in dem Skandal um dubiose Geldflüsse vor der Weltmeisterschaft 2006 schwer unter Druck geraten. In der vergangenen Woche durchsuchte die Steuerfahndung sowohl die DFB-Zentrale in Frankfurt als auch Niersbachs Privatwohnsitz in Dreieich.
Gegen den DFB-Chef, seinen Vorgänger Theo Zwanziger und den früheren DFB-Generalsekretär Horst R. Schmidt ermittelt die Frankfurter Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall. Der DFB hatte die Anwaltskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer mit einer externen Untersuchung beauftragt. "Die Aufklärung ist damit nicht zu Ende", sagte Rauball. "Es geht weiter - ohne Ansehen von Personen und Verdiensten."
Zuletzt hatten handschriftliche Notizen auf einem Briefentwurf aus dem Jahr 2004 für erneuten Wirbel in der WM-Affäre gesorgt. Sollten diese tatsächlich von Niersbach stammen, wäre klar, dass er nicht wie behauptet erst diesen Sommer von den Millionentransfers im Zuge der Vorbereitungen für die Weltmeisterschaft 2006 erfahren hätte. Dazu äußerte sich Niersbach in seinem Statement vor der Presse nicht, es wurden keine Fragen zugelassen.
Schneller und tiefer Fall
Noch vor wenigen Wochen sah es so aus, als könne Niersbach sogar zum neuen UEFA- oder FIFA-Präsidenten aufsteigen. Doch stattdessen begann sein schneller und tiefer Fall. Niersbach war Journalist beim Sport-Informations-Dienst (sid), als er 1988 zum DFB wechselte und seinen steilen Aufstieg innerhalb der Sportpolitik begann.
Er wurde zunächst als Pressechef für die EM 1988 im eigenen Land engagiert und arbeitete sich dann im DFB hoch: zum Mediendirektor, zum Vizepräsidenten des Organisationskomitees für die WM 2006, zum Generalsekretär.
Am 2. März 2012 wurde er als Nachfolger von Theo Zwanziger an die Spitze des größten Sportfachverbands der Welt gewählt.
"Ich bin sehr betroffen"
"Ich bin natürlich sehr betroffen, überrascht, aber auch sehr traurig darüber. Unabhängig von allen juristischen Fakten, die es gibt, denke ich einfach, dass der Wolfgang ein fantastischer Mensch war und ein fantastischer Präsident für uns. Er hat den Fußball geliebt. Er hat für den Fußball alles getan. Er war für uns jederzeit ein hervorragender Ansprechpartner. Deswegen tut es mir persönlich sehr, sehr leid, dass er zurückgetreten ist", sagte DFB-Teamchef Joachim Löw.
"Ich bin schon überrascht und auch ein wenig betroffen. Ich habe sehr viel mit Wolfgang zu tun gehabt, er ist ein guter Bekannter, ein Freund von mir und unserer Familie", stimmte auch Bayern-Sportvorstand Matthias Sammer bei "Sport1" bei.
Niersbachs Vorgänger als DFB-Präsident, Theo Zwanziger, gab sich indes wortkarg. "Das ist eine Sache, die den DFB und Wolfgang Niersbach betreffen, das habe ich nicht zu bewerten."
"Wir haben zwei Skandale laufen"
Uwe Seeler stellt sich auf die Seite Niersbachs :"Ich finde das nicht gut. Ich hätte ihn gern weiter als Präsidenten gehabt. Denn ich weiß, wie er tickt. Ich werde ihn auch noch anrufen. Ich glaube, dass Theo Zwanziger keine gute Rolle gespielt hat."
"Ich bin nicht überrascht. Wir haben im Moment zwei Skandale laufen. Wie tief die gehen, weiß ich nicht. Ich kann nur sagen, Respekt. Das war notwendig und richtig so", sagte Paul Breitner.
Neue Erkenntnisse
Die externen Untersuchungen beim DFB haben indes offenbar weitere Anhaltspunkte für mögliche Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe der WM 2006 in Deutschland ergeben.
Die vom Deutschen Fußball-Bund beauftragte Anwaltskanzlei Freshfields habe eine Reihe von Punkten zutage gefördert, die zum Teil weiterer Aufklärung bedürften, sagte Interimspräsident Rainer Koch.
Diese hätten die DFB-Gremien veranlasst "zu sagen, wir müssen uns mit der Frage, unter welchen Umständen die WM 2006 vergeben worden ist, näher befassen", sagte Koch. Man werde die Befragungen über die Kanzlei Freshfields "so schnell als nur irgendwie möglich zum Abschluss bringen", um dann einen "transparenten Untersuchungsbericht zur Verfügung zu stellen".
Stimmen-Kauf im Mittelpunkt
Der Verdacht, dass Stimmen bei der WM-Vergabe gekauft worden seien, hatte bereits der frühere DFB-Präsident Theo Zwanziger geäußert. Er verwies dabei auf eine vermeintliche Aussage von Günter Netzer, der behauptet haben soll, vier asiatische FIFA-Funktionäre seien gekauft worden. Netzer bestreitet dies und will deshalb juristisch gegen Zwanziger vorgehen.
Koch betonte, dass dieses Thema in den kommenden Wochen im Mittelpunkt der Aufklärungsarbeit des Fußball-Bundes stünde: "Wir wollen uns nicht mehr auf die Frage des Verbleibs der 6,7 Millionen Euro beschränken, wir wollen uns intensiv mit der Frage beschäftigen: Was ist bei der Vergabe der WM 2006 passiert?", sagte Koch. Es gebe "eine Reihe von Gründen", zu untersuchen, "was der DFB gemacht hat rund um die Vergabe der WM im Jahr 2000."
Zudem habe das DFB-Präsidium am Montag beschlossen, keine weiteren rechtlichen Auseinandersetzungen mit dem Magazin "Der Spiegel" zu führen.
Die Chronologie der WM-Affäre:
Mit einem Bericht über angeblich gekaufte Stimmen bei der Vergabe der WM 2006 hat das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" den deutschen Fußball erschüttert. Für diese Behauptung gibt es weiter keine Beweise, doch ein dubioser Millionentransfer brachte besonders DFB-Chef Wolfgang Niersbach in Bedrängnis. Das geschah bisher im deutschen WM-Skandal:
16. Oktober: Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) gibt in einer Pressemitteilung Ungereimtheiten rund um eine Zahlung in Höhe von 6,7 Millionen Euro an den Weltverband FIFA zu.
16. Oktober: Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" berichtet, dass für den Zuschlag der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 Geld aus einer schwarzen Kasse des Bewerbungskomitees geflossen sei, um damit vier entscheidende Stimmen im FIFA-Exekutivkomitee zu kaufen. Das Geld soll vom ehemaligen Adidas-Boss Robert Louis-Dreyfus gekommen sein. Der DFB weist den "Spiegel"-Bericht als haltlos zurück.
17. Oktober: Erstmals äußert sich DFB-Präsident Niersbach: "Ich kann versichern, dass es im Zusammenhang mit der Bewerbung und Vergabe der WM 2006 definitiv keine schwarzen Kassen beim DFB, dem Bewerbungskomitee noch dem späteren Organisationskomitee gegeben hat."
18. Oktober: Franz Beckenbauer meldet sich zu Wort und dementiert den "Spiegel"-Bericht: "Ich habe niemandem Geld zukommen lassen, um Stimmen für die Vergabe der Fußballweltmeisterschaft 2006 nach Deutschland zu akquirieren. Und ich bin sicher, dass dies auch kein anderes Mitglied des Bewerbungskomitees getan hat."
19. Oktober: Die Staatsanwaltschaft prüft einen Anfangsverdacht für ein Ermittlungsverfahren. Als mögliche Tatbestände nennt eine Sprecherin Betrug, Untreue oder Korruption.
19. Oktober: Niersbach weist die Korruptionsvorwürfe erneut zurück, sprach aber erstmals "den einen offenen Punkt" an: "Dass man die Frage stellen muss, (...) wofür diese Überweisungen der 6,7 Millionen verwendet wurden."
19. Oktober: Ex-DFB-Boss Theo Zwanziger äußert Zweifel an der internen Aufarbeitung des DFB.
22. Oktober: Niersbach tritt in Frankfurt/Main sichtlich erschöpft vor die Presse, bringt aber nur wenig Licht ins Dunkel um die WM 2006.
23. Oktober: Das DFB-Präsidium stärkt Niersbach den Rücken, hält aber "strikt daran fest [...], dass lückenlos aufgeklärt wird."
23. Oktober: Zwanziger bezichtigt Niersbach der Lüge und berichtet im "Spiegel" von der vermeintlichen Existenz einer schwarzen Kasse "in der deutschen WM-Bewerbung". Es sei "ebenso klar, dass der heutige Präsident des DFB davon nicht erst seit ein paar Wochen weiß, wie er behauptet, sondern schon seit mindestens 2005".
26. Oktober: Beckenbauer gibt in der Affäre erstmals einen "Fehler" zu. Das Organisationskomitee hätte nicht auf einen Vorschlag der FIFA-Finanzkommission eingehen dürfen, um einen Finanzzuschuss zu bekommen, teilte der damalige OK-Präsident mit.
27. Oktober: Die vom DFB beauftragte Anwaltskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer erklärt, mit Ergebnissen in der Affäre sei nicht schnell zu rechnen.
28. Oktober: Zwanziger sagt vor den externen Ermittlern der Anwaltskanzlei aus.
3. November: Die Staatsanwaltschaft führt beim DFB in Frankfurt/Main eine Steuer-Razzia durch. Zudem durchsucht sie die Wohnungen von Niersbach, Zwanziger und dem ehemaligen DFB-Generalsekretär Horst R. Schmidt. Die Beamten ermitteln im Zusammenhang mit 6,7-Millionen-Euro-Zahlung wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall.
6. November: Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" veröffentlicht angeblich von Niersbach stammende handschriftliche Notizen auf einem Schreiben des WM-OK an die FIFA aus dem Jahr 2004. Diese sollen belegen, dass er nicht erst 2015 von den Vorgängen Kenntnis hatte.
9. November: Am Nachmittag trifft sich das DFB-Präsidium zu einer außerordentlichen Sitzung mit Niersbach. Der 64-Jährige erklärt seinen Rücktritt: "Ich habe für mich erkannt, dass der Zeitpunkt gekommen ist, die politische Verantwortung zu übernehmen."