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'Wende' war das Schlagwort am 15. November 1989

'Wende' war das Schlagwort am 15. November 1989

3:0, drei Mal "Buhmann" Polster, das ÖFB-Team fährt zur Weltmeisterschaft nach Italien. So haben die meisten Österreicher den 15. November 1989 in Erinnerung.

In der Retrospektive aber war für den Rest der Welt wohl der entscheidende Teil in diesem mittlerweile 25 Jahre zurückliegenden Puzzle Österreichs Gegner an diesem Abend: Die Deutsche Demokratische Republik, kurz DDR.

In der Nacht von 9. auf 10. November war die Berliner Mauer gefallen, nur wenige Tage vor besagtem Match. Dieser Meilenstein der Geschichte beeinflusste naturgemäß auch die 90 Minuten im Praterstadion.

Kult-Trainer Eduard Geyer, damals Teamchef der DDR, spricht dem letzten Pflichtspiel seiner Truppe immer noch die Regularität ab, Reiner Calmund versuchte die Ost-Stars mit gut gefüllten Geldkoffern von einem Wechsel in den Westen zu überzeugen. Und nebenbei erlebte Toni Polster seine ganz persönliche Wende.

Unruhe – auch in Österreich

Während sich bei unseren Nachbarn alles nur um ein Thema drehte, trieb hierzulande der Fußball die Volksseele zur Weißglut. Zum einen erzürnte Toni Polster als lauffauler Torjäger außer Dienst die Fans, zum anderen sorgte Heribert Weber für Unruhe um und im Team.

Teamchef Josef Hickersberger zog Weber gegenüber Bruno Pezzey für die Libero-Position vor, das passte nicht jedem. Dass Weber vor dem Spiel gegen die DDR mit Zahnschmerzen mehrere Trainings verpasste, sorgte für zusätzlichen Zündstoff. Hickersberger entschloss sich, Weber auf die Bank zu setzen. Der entgegnete bockig, wenn er nicht fit genug für die Startelf sei, sei er auch nicht fit genug für die Bank und setzte sich auf die Tribüne. Eine Entscheidung, die Weber die Teilnahme an der WM kosten sollte.

Hickersberger wurde auch das Festhalten an Polster angelastet. Selbst mit Mord wurde diesem via Telefon gedroht, sollte er den Stürmer gegen die DDR aufstellen. "Ein Verrückter kann mich doch nicht von meinen Vorstellungen abbringen", dachte sich Hickersberger, der aber schon überlegte, ob es das alles wert sei.

Polster auf der Kippe

Im Praterstadion ging man nicht zimperlich mit Polster um, ein Pfeifkonzert begrüßte den damals 25-Jährigen. "Ich habe mich geniert, Teamchef zu sein. So sollte kein Teamspieler mehr behandelt werden", so Hickersberger.

Für Polster selbst stand fest, dieses Spiel entscheidet über seine Zukunft. "Ich bin ja kein Masochist, dass ich mich ständig so schimpfen lasse. Für mich ging es um Alles oder Nichts. Wäre es schief gegangen, wäre ich von der Nationalmannschaft zurückgetreten", verrät er im "Kurier". Wäre dieses Spiel anders ausgegangen, wer weiß, wie die Karriere des späteren ÖFB-Rekordtorschützen und zweimaligen WM-Teilnehmers verlaufen wäre.

Über Karrieren wurde aber an diesem Abend nicht nur auf dem Platz entschieden. Reiner Calmund erwies sich nach dem Mauerfall als gewieftester Fußball-Manager Deutschlands und setzte alles daran, die DDR-Stars zu Leverkusen zu lotsen.

Schlitzohr Calmund mit dem Geldkoffer in Wien

Mit Millionen vom Bayer-Konzern im Koffer reiste der pfundige Brühler nach Wien, hielt sich selbst aber bedeckt. "Da gab es einen A-Jugend-Betreuer, ein Chemiker bei Bayer. Den habe ich als Fotograf für den Innenraum akkreditiert. Zur Sicherheit hatte er auch einen Ausweis vom Roten Kreuz", erzählt Calmund bei "Sky" durchaus stolz davon, wie er damals Wolfgang Karnath auf Thom, Kirsten und Co. ansetzte.

Von der Tribüne aus beobachtete Leverkusens Manager etwa, wie sich sein Strohmann samt Silberkoffer neben den ausgewechselten Matthias Sammer auf die Ersatzbank setzte und Kontakt knüpfte. "Er stellte sich vor, meinte er sei von Bayer Leverkusen. Er hat das ganz schlitzohrig gemacht", berichtet Sammer. "Das ist ja eine unvorstellbare Geschichte, dass in einem Qualifikationsspiel ein Mensch im Auftrag eines Klubs plötzlich neben dir auf der Bank sitzt."

Calmund verteidigt seine Taktik noch heute und weiß: "Das war ein ganz wichtiges Faustpfand, dadurch waren wir an erster Stelle." Aus dem Sammer-Transfer wurde zwar nichts, mit Andreas Thom wechselte aber 37 Tage nach dem Mauerfall der erste DDR-Star in den Westen - natürlich zu Leverkusen.

Ede Geyer ist die Wut über diese Praktiken indes immer noch anzumerken. "Wie das abgelaufen ist, war schäbig. Wir sind schon oft zusammengesessen und haben darüber diskutiert. Zwei Jahre später wäre mir das nicht passiert, da hätte ich ihn wahrscheinlich erschossen", poltert der 60-Jährige. "Die Ereignisse in unserer Heimat sind natürlich nicht spurlos an den Spielern vorbeigegangen. Es wurde im Vorfeld viel über Transfers diskutiert, über Verträge, über eventuellen Profifußball."

Kein Fokus bei "irregulären Bedingungen"

Im Interview mit dem "Ballesterer" geht er sogar soweit zu sagen, das Spiel hätte "unter irregulären Bedingungen stattgefunden." "Für die Spieler ist es plötzlich nur mehr darum gegangen, für welchen Verein sie künftig spielen werden. Wie hätte da eine konzentrierte Vorbereitung stattfinden sollen?", stellt Geyer zur Diskussion. Sammer stimmt dieser Sichtweise zu, wenn er sagt: "Wir hatten überhaupt keinen Fokus auf dieses Spiel."

Geyer fand auch die Leistung des polnischen Unpateiischen unglücklich. "Ein Unentschieden hätte gereicht, und wir wären zur WM gefahren. Aus dieser Perspektive muss man die Schiedsrichterleistung auch in einem anderen Licht sehen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die FIFA ein großes Interesse an einer WM gehabt hätte, an der eine Mannschaft teilnimmt, die kein Land mehr ist."

Daher trauert "Ede gnadenlos" dieser Nacht in Wien auch immer noch nach. "Es ist klar, wenn so ein epochaler Umschwung kommt, dann geht es neu los. Aber Wien war ja für mich als Trainer nicht so ein schöner Moment. Ich wollte schon zur WM fahren" gibt er zu und verrät: "Manchmal habe ich mir gewünscht, die Mauer wäre nur ein Vierteljahr später aufgegangen."

 

Christoph Kristandl


TV-Tipp: "Das letzte Spiel", Dokumentation zum Spiel Österreich vs. DDR
15. November, 16:15 Uhr auf ORF eins

Österreich DDR
Trainer:
Josef Hickersberger Eduard Geyer
Klaus Lindenberger Dirk Heyne
Anton Pfeffer Dirk Stahmann
Robert Pecl Detlef Schößler
Ernst Aigner Matthias Lindner
Manfred Linzmaier Ronald Kreer
Christian Keglevits Matthias Döschner (bis 42.)
Alfred Hörtnagl Jörg Stübner
Peter Artner Rico Steinmann
Manfred Zsak Matthias Sammer (bis 79.)
Toni Polster Andreas Thom
Andreas Ogris (bis 75.) Ulf Kirsten
Ersatzspieler:
Heimo Pfeifenberger (ab 79.) Uwe Weidemann (ab 79.)
Andreas Herzog (75. bis 79.) Thomas Doll (ab 42.)