news

"Man wusste, er würde gleich etwas Dummes tun"

Auf der Insel ist man in Sachen Fußball hartgesotten, da muss also schon einiges passiert sein, damit die „BBC“ von der „schockierendsten Szene des englischen Fußballs“ spricht.

Am Sonntag jährt sich ebendiese zum 20. Mal. Ihr Hauptprotagonist war schon davor als Enfant terrible bekannt, der 25. Jänner 1995 sorgte aber dafür, dass die Klasse des Eric Cantona auf ewig vom düsteren Schatten eines Badboy-Images getrübt wird.

Die Hassfigur Cantona

Ein Mittwochabend, Auswärtsspiel von Manchester United im Selhurst Park von Crystal Palace. Die „Red Devils“ mischten als amtierender Meister erneut um den Titel in der Premier League mit, konnten sich mit einem Sieg im Süden Londons an den Blackburn Rovers vorbei auf Platz eins schieben.

Der Franzose Eric Cantona, damals 28 Jahre alt, wurde von den Gegenspielern bearbeitet und von den Rängen beschimpft, Business as usual für den ManUnited-Star. „Eric war im ganzen Land das Lieblingsziel der Fans. Nicht nur die Verteidiger versuchten ihn zu provozieren, auch die Zuschauer glaubten, sie könnten das“, erzählt Cantonas damaliger Mitspieler Gary Pallister gegenüber der „BBC“ und erklärt: „Er war eine solche Hassfigur, weil er ein so guter Spieler war.“

An diesem Abend war Palace-Verteidiger Richard Shaw auf die Nummer sieben angesetzt. Zahlreiche Zweikämpfe und etwas mehr als eine Halbzeit waren vergangen, als die beiden sich in Minute 48 nach einem weiten Abschlag wieder beharkten. Shaw ging zu Boden, Cantona flog für einen Tritt gegen seinen Kontrahenten vom Platz. Mit ungläubigem Blick schritt der Übeltäter von dannen, vorbei an Coach Alex Ferguson - der ihn keines Blickes würdigte – und den Main Stand entlang.

Der Kung-Fu-Sprung ins Publikum

Aufregung lag in der Luft, der Selhurst Park buhte den Sünder aus, Augenblicke später brannten Cantona alle Sicherungen durch. Aus dem Nichts wandte er sich der Tribüne zu und ging auf einen Zuschauer los, sprang ihm mit den Stollen voraus an die Brust und versuchte mit den Fäusten nachzulegen.

Die Spieler rannten an der Seitenlinie zusammen, während Cantona von Betreuern und Keeper Peter Schmeichel vom Tatort weggezerrt und in die Kabine gebracht wurde.

„Als er über die Bande sprang, brach die Hölle aus“, erinnert sich Cathy Churchman, die im Publikum stand. „Als er sich herdrehte, dachte ich, er sieht mich an. Er hatte diesen Blick in seinem Gesicht, seine Augen schienen zu brodeln. An diesem Punkt wusste man, er würde gleich etwas Dummes tun“, hatte sie wenige Augenblicke zuvor bereits eine Vorahnung.

„Ich fiel nach hinten und Erics Schuh rauschte an meinem Mantel vorbei. Wir schauten uns alle gegenseitig an und sagten ‚Oh mein Gott, was ist gerade passiert?‘ Es geschah in wenigen Sekunden“, sagt sie.

Das Rätsel um den Auslöser

Auf Churchman hatte es Cantona nicht abgesehen, sein Ziel war Matthew Simmons. „Ich hatte keine Ahnung, wo dieser Typ plötzlich herkam“, ist Churchman etwas ratlos. Ned Kelly, damals Sicherheitschef von United, berichtet indes: „Dieser Kerl ging gerade die Stiege herunter und fing an, Eric anzuschreien. Er blieb ruhig, als er ihn beleidigte, aber ich glaube, er nannte seine Mutter eine 'französische Hure', das war der Wendepunkt.“

Auch Cantona sprach von Beleidigungen gegen seine Mutter, einige Zuschauer wollen gehört haben, Simmons hätte Cantona als französischen Bastard bezeichnet, der sich wieder in seine Heimat verpissen soll. Simmons selbst beteuerte stets, er sei nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen und habe irgendetwas Banales gerufen, eine Beleidung streitet er ab. “Wie kann er mir so etwas vorwerfen. Dieser Mensch ist Schmutz. Damit hat er mein Leben ruiniert“, sagte Simmons gegenüber dem „Guardian“.

Ganz passt das Bild des unschuldigen Opfers dann aber doch nicht zum damals 20-Jährigen. Die Presse grub in seiner Vergangenheit und brachte einen Vorfall drei Jahre zuvor auf, als Simmons bei einem Raubüberfall einen Mann aus Sri Lanka mit einem Schraubenschlüssel angegriffen hatte. Zudem besuchte er Veranstaltungen der rechtsextremen Parteien British National Party und National Front. 2011 stand er vor Gericht, weil er auf den Trainer des U8-Fußballteams seines Sohnes einschlug.

Cantona ist Fön-befreit

„Eric war kein Engel, das wissen wir alle. Aber für einen Mann mit einer so kurzen Zündschnur wie er sie hatte, hatte er sich lange Zeit im Griff“, erzählt Pallister. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, welche Beschimpfungen ihm ständig an den Kopf geworfen wurden. Schon wenn wir aus dem Bus stiegen, selbst wenn wir auf Pferderennen gingen. Einiges war fürchterlich, vielleicht hat sich das aufgestaut und an diesem Abend brach alles aus ihm heraus“, vermutet er.

In der Kabine musste der Heißsporn nach seinem Ausraster erst einmal beruhigt werden. „Er war fuchsteufelswild und wollte noch einmal hinaus“, berichtet Uniteds damaliger Zeugwart Norman Davies dem „Telegraph“. „Ich habe die Tür verschlossen und ihm gesagt, da muss er erst an mir vorbei.“

Währenddessen gingen die „Red Devils“ durch David May in Front, Gareth Southgate glich zehn Minuten vor Schluss noch zum 1:1 aus. Mittlerweile war auch Cantona wieder auf Ruhepuls. „Er hockte neben seinem Zeug und dachte darüber nach, was er getan hatte. Es war totenstill, du hättest die Atmosphäre mit einem Messer in Stücke schneiden können“, erzählt Kelly.

Die restlichen Spieler fragten sich indes, was nach Spielende in der Kabine passieren würde. Ferguson war bekannt dafür, seiner Wut aus kürzester Distanz und in lautstarker Form Luft zu machen. Den „Hairdryer“ – den Fön – nannten die Spieler dieses Szenario. „Er kann die Haare eines ganzen Bataillons trocknen“, sagte Ryan Giggs einmal über seinen ehemaligen Trainer. Cantona würde nun auch ein solcher Fön blühen, dachten May, Pallister und Co.

Der Coach holte aber lieber zum Rundumschlag aus. Jedem riss er verbal den Kopf ab, erzählt May, den Ferguson fragte, wer Torschütze Southgate zugeteilt war. „Eric“, lautete die Antwort. „Eric, ich bin enttäuscht von dir. Solche Dinge darfst du nicht tun“, mehr hatte „Fergie“ Cantona nicht zu sagen. „Ich dachte mir‚ das war’s?‘“, gibt May zu. „Wir dachten, er würde zum Berserker werden. Jeder andere Spieler hätte den Hairdryer bekommen, aber Eric bekam ihn kein einziges Mal.“

9 Monate gesperrt

Mag es am großen Respekt Cantona gegenüber gelegen haben oder daran, dass er den Vorfall noch nicht realisiert hatte – Ferguson verzichtete auf eine Standpauke. „Eric saß einfach nur in der Ecke und sagte nichts. Ich denke, er verstand die Dimension dessen, was passiert war“, meint Pallister.

Ferguson sagte später, er sei in seiner eignen Welt gewesen, in der er sich über zwei verlorene Punkte ärgerte. Erst frühmorgens setzte bei ihm die Erkenntnis ein. „Ich war um vier Uhr noch wach und habe mir das Video angeschaut, es war entsetzlich“, sagt er. „Ich konnte Eric über all die Jahre keine Erklärung entlocken.“

Eine drakonische Strafe musste natürlich her, schon alleine, um das Ansehen Uniteds nicht vollends zu beschädigen. Daher entschlossen sich die Verantwortlichen des Klubs, Cantona für vier Monate zu sperren. Damit war die Saison für ihn vorzeitig beendet, hinzu kam eine Geldstrafe in Höhe von 20.000 Pfund. Die FA ihrerseits verlängerte die Strafe auf neun Monate und verhängte weitere 10.000 Pfund Bußgeld.

Von Seemöwen und Sardinen

Am 23. März musste sich Cantona zudem vor dem East Croydon Amtsgericht wegen Körperverletzung verantworten, ebenso wie Paul Ince. Auch er soll auf Simmons eingeschlagen haben, so der Vorwurf. Während Ince nicht belangt werden konnte, bekannte sich Cantona schuldig, woraufhin das Gericht meinte, er sei eine hochrangige Persönlichkeit, die einzig angemessene Strafe wären zwei Wochen Gefängnis mit unverzüglichem Haftantritt.

Der ganze Saal war überrascht, selbst der Staatsanwalt. „Paul fuhr am Tag zuvor mit Eric in die Stadt. Die Boulevardpresse erwischte sie dann, als sie gegen drei Uhr früh aus dem Nachtclub ‚Browns‘ kamen. Ich glaube nicht, dass das sonderlich hilfreich war“, meint Kelly.

Der geschockte Cantona wollte die 14 Tage einfach hinter sich bringen und die Sache damit beenden. Er saß schon in der Zelle, einer der älteren Polizisten brachte dem Kicker etwas von McDonalds, weil er meinte, Cantona solle nicht den Gefängnis-Fraß essen. Uniteds Anwalt erwirkte aber eine Berufungsanhörung und brachte Cantona nach dreieinhalb Stunden auf Kaution wieder frei.

Eine Haftstrafe konnte bei der Anhörung abgewendet werden, lediglich 120 Stunden Sozialdienst fasste Cantona aus. Wenig später trat er vor die Presse. Große Vorbereitung gab es keine, nur einen Satz: „Wenn die Möwen dem Fischkutter folgen, dann deshalb, weil sie glauben, dass Sardinen wieder ins Meer geworfen werden. Danke“, sprach Cantona, stand auf und ließ die verdutzte Journalisten-Meute sitzen.

Auch wenn es nie eine wirkliche Erklärung gab, gehen viele mit der Deutung von Daily-Telegraph-Kolumnist Jim White konform, der einen Denkzettel für die Presse ortete, die ständig hinter den Stars her sei, in der Hoffnung, dass etwas für sie abfällt. 2014 griff etwa auch Schauspieler Shia LaBeouf auf diese Worte Cantonas zurück.

"Das bin ich"

Auf eine Entschuldigung für seinen Ausraster wartet man auch Jahre später vergebens. Auf die Frage nach dem Highlight seiner Karriere, schmunzelt der mehrfache englische und französische Meister im Interview bei „BBC Football Focus“ und meint: „Der Kung-Fu-Tritt gegen den Hooligan, denn solche Leute sollten nicht im Stadion sein. Nein, ich scherze nur. Es war ein Fehler. Aber so ist das Leben, das bin ich.“

Als Makel an seiner Karriere, die er bereits im Alter von 30 Jahren beendete, sieht er den Zwischenfall nicht und überhaupt tangiert ihn die Vergangenheit wenig.

„Ich interessiere mich nicht für die Vergangenheit. Wo meine Medaillen sind und meine alten Trikots, weiß ich nicht“, verrät er. „Es sind großartige Erinnerungen, natürlich. Aber ich will nach vorne blicken. Viele alte Spieler sprechen von ihrer Vergangenheit, von dem, was sie gewonnen haben. Dabei gibt es so viele Dinge zu tun, Neues aufzubauen und Ziele zu erreichen. Es war eine starke Zeit, aber ich will nicht in meinen Erinnerungen gefangen sein, du wirst sehr leicht zum Gefangenen deiner Vergangenheit.“

Der Mann aus Marseille ist eben anders, ein Typ, wie es sie früher zuhauf gab und wie man sie heutzutage immer mehr vermisst. Hobby-Philosoph, Schauspieler und in Old Trafford immer noch "Eric the King". Ein begnadeter Fußballer, der trotz und auch ein bisschen wegen diesem kapitalen Fehler vor 20 Jahren Legendenstatus genießt.

 

Christoph Kristandl