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Akribisch, obsessiv, arbeitswütig

Akribisch, obsessiv, arbeitswütig

„Schönheit ist die Abwesenheit von Zufällen.“

Dieser Satz stammt aus Felix Magaths Mund. Er könnte genauso gut irgendwann einmal Marcelo Bielsas Grabstein zieren.

Denn nichts ist dem Trainer mehr zuwider, als sich auf den Zufall zu verlassen. Er hat einen Plan. Immer. Bis ins kleinste Detail.

Malstunde am Fußballschuh

Das mussten auch die baskischen Kicker von Athletic Bilbao kurz nach seinem Amtsantritt verdutzt feststellen.

Bielsa kniete vor einem der ihren und markierte mit einem Stift einen bestimmten Punkt auf dem Schuh des Spielers. Genau dort habe er den Ball zu treffen, ließ ihn der Trainer wissen.

Sie nennen ihn „El Loco“, den Verrückten. Ob er denn wirklich verrückt sei? „Nein, er ist verrückter“, grinste Youngster Iker Muniain auf die Frage eines Journalisten.

Der Trainer selbst nimmt es locker. „Ein Mann mit neuen Ideen ist verrückt, bis er erfolgreich ist“, sagte er einmal.

Akribie, die an Obsession grenzt

Und das ist er auf internationaler Ebene derzeit zweifellos. Bilbaos Siegeszug in der Europa League versetzt Fans am ganzen Kontinent in Entzücken. Die Konkurrenz zieht ehrfürchtig den Hut. „In ganz Europa habe ich keine Elf gesehen, die so spielt. Das ist Schönheit“, streut niemand Geringerer als Alex Ferguson Rosen.

Der Erfolg der Bielsa-Truppe kommt nicht von ungefähr. Nicht zuletzt ist er der detailversessenen Arbeit des argentinischen Trainers geschuldet. Akribie, die an Obsession grenzt.

42 Videos hat sich der 56-Jährige vor dem Hinspiel gegen Schalke zu Gemüte geführt. Er kennt jeden Laufweg, jeden Trick, jede Standard-Variante. Und er wird nicht müde, seine Spieler genau darauf vorzubereiten. Video-Analysen unter Bielsa können auch schon mal vier Stunden dauern, erzählen Ex-Spieler.

Der Coach ist besessen von Fußball. Seine persönliche Videothek ist Legende. Rund 7.000 Spiele soll er auf Kassetten und DVDs besitzen.

27 verschiedene Einwurf-Varianten

Doch nicht nur seine Einheiten vor der Leinwand sind ein Erlebnis. Trainings des ehemaligen Durchschnittskickers, der seine aktive Karriere bereits im Alter von 25 Jahren beendete, sind sehenswert. Meistens ist der Rasen übersät von Markierungen und Plastik-Aufstellern, die als Gegner dienen.

Laufwege werden bis zum Erbrechen wiederholt. Nach einigen Monaten unter Bielsa weiß jeder Spieler in jeder Situation wohin er sich zu bewegen hat. Doch nicht nur das. Als Trainer bei Espanyol ließ der Pedant 27 verschiedene Einwurf-Varianten einstudieren.

Van Gaal als Vorbild

Das klingt ganz nach einem Trainer, der in erster Linie auf Defensive bedacht ist. Dem ist aber gar nicht so. Wie seine Mannschaften spielen sollen, beschrieb der „Gaucho“ einmal folgendermaßen:

„Das Modell anderer Mannschaften, das mir am besten gefällt, ist das der Ajax-Mannschaft von Louis van Gaal. Das ist nämlich eine Mannschaft mit der Flexibilität, ihre Linien an der Anforderung, die der Gegner an sie stellt, auszurichten. Außerdem interessiert mich, dass das Team ein charakteristisches und unabhängiges Offensivkonzept besitzt. Zweifelsohne ist dieser Spielstil der Inbegriff meiner Vorstellungen.“

Ein bisschen Menotti, ein bisschen Bilardo

Wer von prägenden argentinischen Trainern spricht, nennt zumeist zwei Namen: Cesar Luis Menotti, den Romantiker und linken Idealisten, der das schöne Spiel über alles stellt, und Carlos Bilardo, den autoritären Taktik-Fanatiker, dem der Erfolg am wichtigsten ist.

Zwei ideologische Gegenspieler, aus deren konträren Ansichten sich Bielsa offenbar die jeweils positiven Eigenschaften herausgepickt hat. Seine Taktik-Versessenheit kommt so ganz nach Bilardo.

Auch sein Führungsstil gleicht dem Weltmeister-Trainer von 1986 fast. „Wenn sie in die Umkleidekabine kommt, herrscht kurz Stille. Wenn sie spricht, ist es ruhig, und wenn sie denselben Witz erzählt, bei dem zuvor niemand gelacht hat, lachen nun alle“, charakterisierte Bielsa einmal eine Führungsfigur nach seinen Vorstellungen.

Das entspricht auch dem Auftreten des ehemaligen argentinischen Teamchefs. Er ist keiner dieser Kumpeltypen, wie sie sich mittlerweile zuhauf auf Europas Trainerbänken tummeln. Mit seiner Brille, die zumeist um seinen Hals hängt, und dem oft zu großen, schlabbrigen Trainingsanzug wirkt er zwischen den Guardiolas und Klopps dieser Welt eher wie ein Relikt aus vergangenen Tagen.

Alle sind gleich

Des Bilbao-Trainers romantische Vorstellung von attraktivem Offensivspiel ist hingegen ganz Menotti. Auch ideologisch sind die Beiden fast auf einer Linie.

Bielsas Führungsstil mag zwar autoritär sein, er ist aber auch egalitär. „Er behandelte jeden gleich, ob es Gabriel Batistuta oder der Typ, der den Trainingsplatz mäht, war“, erinnert sich Goalie Roberto Bonano an die Zeiten im argentinischen Nationalteam.

Diese Einstellung bekommen auch Medien regelmäßig zu spüren. Exklusiv-Interviews gibt es keine, dafür manchmal stundenlange Pressekonferenzen. „Alle Medien verdienen dieselbe Beachtung meinerseits: vom wichtigsten Fernsehsender der Hauptstadt bis hin zur unbedeutendsten Zeitung im Landesinneren“, ist das Zitat, das in jeder Bielsa-Geschichte zu lesen ist.

Kein Luxus

Die öffentliche Wahrnehmung ist sowieso etwas, worum sich der Mann aus Rosario herzlich wenig schert. Der Rummel um seine Person scheint ihm eher unangenehm zu sein.

Auch das Verlangen nach Luxus ist ihm fremd. Als chilenischer Teamchef ließ er das Trainingsgelände auf den neuesten Stand bringen. Ein prächtiger Komplex. Der Trainer lebte viele Monate darin – in einem karg ausgestatteten Raum, der gerade einmal sechs Quadratmeter groß war.

Gelegentliche Besuche im Theater und in der Oper sind schon alles, was sich das Kind einer Akademiker-Familie gönnt. Sein Bruder Rafael war argentinischer Außenminister, seine Schwester Maria Eugenia ebenfalls erfolgreiche Politikerin.

Diesen Weg einzuschlagen interessierte ihn aber nie, das runde Leder umso mehr. „Er lebt für den Fußball“, weiß Bilbao-Stürmer Fernando Llorente. Barca-Coach Pep Guardiola ergänzt: „Marcelo Bielsa ist der beste Trainer der Welt.“

Durch Zufall ist er das gewiss nicht geworden.


Harald Prantl