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Der Tod als ständiger Begleiter

Der Tod als ständiger Begleiter
"Ich komme aus Nirgendwo."

Tatsächlich gibt es weitaus bessere Voraussetzungen, um Profi-Kicker zu werden, als Nacogdoches im Osten Texas' seinen Geburtsort zu nennen.

Noch dazu, wenn in dieser 30.000-Einwohner-Ortschaft nicht einmal ein richtiger Fußball-Verein beheimatet ist.

Und man im Alter von zwölf Jahren mangels finanzieller Möglichkeiten von seinen Eltern aus einem Auswahlteam in Dallas genommen wird, um wieder in einer Hobby-Truppe dem Leder nachzujagen.

Der gatschige Trailer Park

All diesen Widrigkeiten zum Trotz hat es Clint Dempsey geschafft. Obwohl sein Weg ein steiniger war.

Oder anfangs eher ein gatschiger. Der US-Amerikaner wuchs im Drewery Trailer Park auf. Der Wohnwagen seiner Eltern stand am Grundstück des großelterlichen Hauses. Es gab keine Sportplätze, nur Acker.

In einer Gegend, in der Einwanderer aus Lateinamerika den Großteil der Bevölkerung ausmachen, wurden die Brüder Ryan und Clint – sie hatten noch zwei Schwestern und einen Bruder – rasch mit dem Fußballfieber infiziert.

Die klassischen US-Sportarten interessierten ihn nicht. „Es gab zu viele Unterbrechungen beim Football“, begründet der heute 28-Jährige seine Wahl. Ganz kam er an den in seiner Heimat kommerziell weitaus erfolgreicheren Spielen aber nicht vorbei. Seine ersten fußballerischen Gehversuche unternahm er mit einem Basketball.

Ein weiterer Grund: „Ich war richtig gut darin.“ Und wie! Es konnte durchaus vorkommen, dass der kleine Junge von einem älteren verprügelt wurde, weil er ihn mit seinen Tricks zum Narren gehalten hatte.

Clint Dempsey ist bei Fulham Kult

Der Maradona-Verehrer

Als 1994 die WM in der Vereinigten Staaten über die Bühne ging, verfielen Clint und Ryan endgültig dem Fußball. „Der internationale Flair des Turniers hat uns verrückt nach dem Sport gemacht“, meint er.

„Und alle sprachen von diesem Typen namens Maradona. Wir wollten mehr wissen, also haben wir uns ein Eurosport-Highlight-Video von der WM 1986 bestellt. Von diesem Moment an haben wir probiert, seine Tricks zu kopieren.“

Diego war fortan der Held des Jungen aus Texas. Doch die erste Enttäuschung folgte auf dem Fuß. Die Familie hatte sich Karten für das Spiel zwischen Argentinien und Bulgarien gesichert.

Doch Maradona durfte aufgrund einer Doping-Sperre nicht antreten. Nachdem Clint dies erfuhr, brach er in Tränen aus und weigerte sich, die Fahrt zum Cotton Bowl mitzumachen.

Der Zufall

Ein Jahr zuvor stieg er noch bereitwillig ins Auto, als es nach Dallas ging. Der Verein Longhorns hatte zum Tryout geladen. „Wir wussten nicht einmal, was ein Auswahlteam ist. Wir haben den Flyer gesehen und Ryan dorthin gebracht. Clint ist nur zum Spaß mitgekommen“, erinnert sich Mutter Debbie.

Dort angekommen mussten sie feststellen, dass das Probetraining nur für Mädchen gedacht war. Sie hinterließen ihre Telefonnummer und wurden kurz darauf tatsächlich angerufen. Um eine Absage zu erhalten. In Ryans Altersklasse sei kein Platz mehr. Doch in Clints Alter würden noch Spieler gesucht.

Also wieder ab nach Dallas. Drei Stunden Fahrt. Für wenige Minuten vor Ort. „Clint geht aufs Feld, gaberlt ein paar Mal und der Trainer sagt, dass er ihn haben will“, berichtet Vater Aubrey noch Jahre später völlig verblüfft.

Das Leben auf der Straße

Der Trainer sollte mit seiner schnellen Entscheidungsfreudigkeit Recht behalten. Rasch schaffte es der schmächtige Dribblanski ins Team. Doch der Spaß war mit einer Menge Aufwand verbunden. Zwei bis drei Mal in der Woche musste Clint fortan nach Dallas gefahren werden. Drei Stunden Fahrt. In eine Richtung wohlgemerkt.

Die Familie verbrachte ihre Zeit nun auf der Straße. Während der Fahrten wurden die Hausübungen gemacht. „Unsere Urlaube waren Besuche bei Fußball-Turnieren“, so die Mama.

Die Eltern ordneten dem Hobby ihres Sohnes praktisch alles unter. Das Familien-Boot wurde verkauft. Ebenso die Jagdwaffen des Vaters. Sämtliche Annehmlichkeiten waren gestrichen. Gelegentliche Besuche bei McDonald‘s oder Wendy‘s waren das höchste der Gefühle.

Der vom Ehrgeiz getriebene

Doch Clint wusste das zu schätzen. Nach jedem Training fragte er seine Eltern: „Seid ihr stolz auf mich?“

Der Offensivspieler erinnert sich: „Ich hatte stets das Gefühl, meinen Eltern zeigen zu müssen, dass ich alles gebe. Sie haben die ganzen Fahrten gemacht, haben so viel aufgegeben.“

Dieses Gefühl alleine war es aber nicht, das das Talent antrieb. Doug Allison, ein früherer Jugendtrainer, meint: „Er hat so viel antizipiert, hatte ein Fußball-Gehirn. Was ihn aber wirklich dorthin gebracht hat, wo er ist, ist sein Konkurrenzdenken. Es ist unglaublich. Er will nichts verlieren.“

Das war schon immer so. „Die Kinder haben sich früher ständig miteinander gemessen. Und wir mussten es immer so lange machen, bis Clint gewonnen hat“, weiß seine Mutter.

Auch noch Jahre später trieb Dempsey dieser Ehrgeiz. U20-Teamchef Thomas Rongen erklärte dem Kicker nach dem ersten gemeinsamen Training: „Es wäre großartig, wenn du einfach nur spielen könntest, anstatt ständig zu versuchen, Cobi Jones Gurkerl zu schieben.“

Das zwischenzeitliche Ende

Die Zeit bei den Longhorns in Dallas fand nach drei Jahren jedoch ein Ende. Clints Schwester Jennifer wurde im Tennis immer besser und hatte gute Chancen, eine Profi-Karriere hinzulegen.

Also wurde das Pendler-Dasein zwischen Nacogdoches und Dallas ad acta gelegt.

„Ich war wirklich sauer. Ich musste von einem echten Klub in eine Hobby-Mannschaft wechseln. Mit einem Mädchen in meinem Team“, berichtet der mittlerweile 74-fache Internationale von diesem Rückschlag.

Die Tragödie

Eine Lapalie im Vergleich dazu, was folgen sollte.

Denn kurz darauf starb Jennifer im Alter von nur 16 Jahren an einem Gehirn-Aneurysma. Ein tragischer Schicksalsschlag. Der zur Folge hatte, dass Clint wieder bei den Longhorns spielen durfte.

Der Straßen-Fußballer erinnert sich: „Bevor sie gestorben ist, hatten wir ein Gespräch über den Tod. Und ich erinnere mich, dass sie gesagt hat, wenn jemals etwas mit ihr passieren würde, würde sie mir helfen, Tore zu schießen.“

Nach dem Begräbnis legte der damals Zwölfjährige einen Brief auf das Grab seiner Schwester. Das Schreiben beinhaltete das Versprechen, dass er bei jedem Tor an sie denken würde. Tatsächlich reckt der Fulham-Profi nach fast jedem Treffer einen Finger gen Himmel.

„Clint hat ab diesem Zeitpunkt doppelt so viel und doppelt so hart trainiert“, behauptet Ryan. Es war, als ob der Nachwuchs-Kicker das Gefühl hatte, etwas aus sich machen zu müssen, weil er es seiner toten Schwester schuldig sei.

Die gezogenen Lehren

Sein älterer Bruder war ebenfalls ein ganz guter Fußballer. Doch er machte einen Fehler und entschied sich für die Northeastern Illinois University in Chicago. Aus einem simplen Grund: Sie boten ihm das meiste Geld.

Ryan war unglücklich, bekam aber noch eine Chance. Der mexikanische Klub Cruz Azul gab ihm die Möglichkeit, bei ihm anzuheuern. Abermals traf er die falsche Entscheidung und blieb in den USA.

Das Glück

„Ich habe aus seinen Fehlern gelernt“, weiß der zweifache Gold-Cup-Sieger. Er entschied sich für das Furman College, wo er abermals mit dem Tod konfrontiert wurde.

Mit seinen Teamkollegen Greg Griffin und Chefik Simo wollte Dempsey zu einem Konzert fahren. Doch seine leere Brieftasche ließ das nicht zu.

„Dass ich pleite war, hat mir mein Leben gerettet. Sie hatten einen schweren Unfall, der Wagen überschlug sich mehrmals. Greg starb. Chefik wurde so schwer verletzt, dass er nie wieder spielen konnte.“

Der gedankliche Südamerikaner

Der Youngster, der damals noch im zentralen Mittelfeld agierte, hingegen konnte sich 2004 beim Draft anmelden und wurde an achter Stelle von New England Revolution ausgewählt.

In der Major League Soccer kam der Neuling ausgezeichnet an. Er war einer der wenigen, die das Spiel auf der Straße gelernt hatten. Ein Kicker, der intuitiv handelt. „Er macht Dinge, an die sonst nur Südamerikaner denken“, sagte Ex-Teamchef Bruce Arena einst.

Der Rapper

Der Sportartikel-Hersteller Nike wollte sich diesem Umstand zu Nutze machen. Vor der WM 2006 sollte Dempsey das neue Gesicht des US-amerikanischen Fußballs werden. „Wir wollten das Mom aus dem Begriff Soccer bekommen“, spielte der damalige Marketing-Leiter auf das „weiche“ Image des Kicks in den USA an.

Tatsächlich war der Rookie of the Year 2004 kein typischer US-Kicker. Keiner dieser geschniegelten und gestriegelten College-Boys. Dempsey war HipHop. Dempsey war unangepasst. Einer, der die Arbeiterklasse repräsentierte. Dempsey war von der Wahrnehmung her eher ein Footballer oder Basketballer.

So kam es, dass er unter dem Pseudonym „Deuce“ im Auftrag von Nike gemeinsam mit den in Texas berühmten Rappern Texans XO und Big Hawk einen HipHop-Song namens „Don't tread on me“ mitsamt Video aufnahm. Es war seiner Schwester Jennifer gewidmet. Am Schluss des Videos steht Clint an ihrem Grab.

Saison Verein Spiele/Tore
2004 New England Revolution 24/7
2005 New England Revolution 26/10
2006 New England Revolution 21/8
2006/07 Fulham FC 10/1
2007/08 Fulham FC 36/6
2008/09 Fulham FC 35/7
2009/10 Fulham FC 29/7
2010/11 Fulham FC 37/12
GESAMT: 218/58

Dempsey wird in USA anders wahrgenommen

Der Wahnsinns-Tag

„Ich habe all diese Dinge gemacht, weil ich dachte, ich muss sie tun. Ich musste ich selbst werden, musste zu Geld kommen. Damit bin ich durch, jetzt habe ich andere Ziele“, sagt Demspey heute.

Dennoch würde er es wieder tun. Auch weil er Big Hawk verehrte: „Ich habe seine Musik gehört, als ich aufgewachsen bin und war gerade dabei, ihn persönlich besser kennen zu lernen.“

Doch der Tod des Rappers sollte das verhindern. Just an jenem Tag, an dem der Texaner von seiner Nominierung in den WM-Kader für Deutschland 2006 erfuhr, wurde er mit der Nachricht von Big Hawks Ermordung konfrontiert. „So ein Hoch und so ein Tief“, beschreibt er diese Stunden.

Der Kult-Spieler

Im Jänner 2007 sicherte sich schließlich Fulham für drei Millionen Euro die Rechte an dem aufstrebenden Kicker. Am 37. Spieltag gelang ihm der erste Treffer für seinen neuen Verein.

Ein denkwürdiges Tor. Der 1:0-Heimsieg gegen Liverpool sicherte den Londonern damals den Klassenerhalt in der Premier League. „Es war gut, dass mein erstes Tor so wichtig war. Ich habe dem Klub damit meine Ablösesumme zurückgezahlt“, freut sich der 28-Jährige. Die englischen Medien schrieben vom „30-Millionen-Pfund-Tor“.

Nicht zuletzt deswegen ist der beidbeinige US-Amerikaner im Craven Cottage zum Kult-Spieler avanciert. „He scores with his left, he scores with his right, that boy Clint Dempsey makes Drogba look shite!“ singen die Fans auf den Tribünen.

Der falsch Bewertete

Anerkennung, die ihm in seiner Heimat nur selten zuteil wird. Oft steht der Europa-Legionär im Mittelpunkt der Kritik, wenn es im US-Team gerade wieder nicht nach Wunsch läuft. Über dem großen Teich gibt es sogar eine Bezeichnung dafür: „The Dempsey Problem“.

Der Spieler selbst hat eine Erklärung dafür parat: „Menschen, die das Spiel nicht so gut verstehen, nehmen, was auch immer der Kommentator sagt, als absolute Wahrheit hin. Aber das ist nicht immer der Fall. Das ist nur deren Meinung.“

Und tröstet sich: „Aber ich werde in Europa dafür respektiert, was ich Woche für Woche auf höchstem Niveau leiste.“

Abseits des Feldes gibt sich der UEFA-Cup-Finalist von 2010 weiter bodenständig. Mit seiner Frau Bethany, die er aus gemeinsamen College-Tagen kennt, hat er eine Tochter namens Elyse und einen Sohn, der Jackson heißt. Ein Grundstück in North Carolina, wohin der Lebensmittelpunkt nach der aktiven Karriere verlagert wird, kann Dempsey auch schon sein Eigen nennen.

Der Glückliche

Und in der Zwischenzeit genießt der Mann aus dem „Nirgendwo“ seine Karriere. Und ist sich auch des Glücks, das er hatte, stets bewusst.

„Man nimmt eine handvoll Sand und die Körner stellen jene Kinder dar, die Fußball spielen wollen. Dann lässt man den Sand fallen und die Körner, die übrig bleiben, stellen die dar, die es auf das nächste Level schaffen. Dann klatscht man in die Hand und die paar Körner, die dann noch übrig bleiben, stellen jene Menschen dar, die es wirklich schaffen“, sagte er einmal.

Clint Dempsey hielt sich als Sandkorn aus Nacogdoches trotz aller Widrigkeiten bis zuletzt.


Harald Prantl