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Die Geister, die ich rief

Die Geister, die ich rief

Einige fahren mit gebrochenen Rippen, Prellungen und Stauchungen.

Andere haben eine Menge Haut verloren und Blut vergossen.

Ausschließlich jeder hat sich mehr als zwei Wochen abgemüht und ist an sein persönliches Limit gegangen.

Die Rede ist von den verbliebenen 168 Fahrern, die bereits mehr als zwei Wochen der 102. Tour de France hinter sich gebracht haben.

2.654,8 Kilometer stehen auf der Habenseite, 705,5  Kilometer türmen sich noch vor ihnen auf. Und türmen darf man in diesem Fall wörtlich nehmen, denn mit Ausnahme der Schlussetappe, der sogenannten Tour d'Honneur mit Ziel auf der Pariser Avenue des Champs-Élysées, warten nur noch schwere Bergetappen.

Bei einem Gros des Pelotons lösen die Alpen ein beängstigendes Gefühl aus. Viele haben lediglich das Zeitlimit im Kopf, um das eigene Überleben zu sichern.

Einigen wenigen kommt sogar ein Lächeln aus - den Bergflöhen und Klassementfahrern bieten sich vier Chancen, um Werbung in eigener Sache zu betreiben.

Chris Froome aus dem Sky-Rennstall geht als großer Favorit in die Schlussphase der "Grande Boucle", doch dem Briten sitzt mit dem Kolumbianer Nairo Quintana (Movistar) eine echte Berggemse im Nacken.

Andere wiederum, allen voran Alberto Contador (ESP/Tinkoff-Saxo) und Vincenzo Nibali (ITA/Astana), wollen Wiedergutmachung betreiben und kündigten bereits volle Attacke an, da sie bisher weit hinter den Erwartungen blieben.

Bevor die endgültige Entscheidung in den Bergen fällt, zerpflückt LAOLA1 das Peloton. Das sind die Brennpunkte der bisherigen Tour de France:

Wer ist hier der Boss?

"Wir wollen den Titel verteidigen", hieß die Ansage aus dem Astana-Rennstall vor Tour-Beginn. Längst ist Ernüchterung eingekehrt, Vincenzo Nibali konnte die Ansprüche nicht erfüllen und verlor frühzeitig das "Maillot Jaune", das der Gesamtführende trägt, außer Augen. Teammanager Alexander Vinokourov trieben die Leistungen seines Kapitäns die Zornesröte ins Gesicht.

"Vincenzo braucht einen guten Mechaniker, denn irgendwas ist in seinem Kopf zerbrochen", wütete der Kasache, dessen Rennstall nach fünf Dopingfällen im Jahr 2014 nur mit Müh und Not eine Rennlizenz erhielt. Kurzerhand ernannte er Edelhelfer Jakob Fuglsang zum neuen Leader der Truppe, der prompt am Tag nach der ersten Bergankunft einen Einbruch erlitt und selbst Zeit auf Nibali einbüßte. Zwar zeigte er am Weg zum Plateau de Beille auf und errang den zweiten Platz, für "Vino" zählt jedoch nur der Sieg.

In den kommenden Tagen ist das Team auf Angriff gebürstet, denn Nibali und Co. haben einiges wiedergutzumachen. Das Gerücht, der Italiener müsse sich trotz eines gültigen Vertrags für 2016 nach einem neuen Arbeitgeber suchen, dementierte Vinokourov indes umgehend. "Das war nie ein Thema. Vincenzo fühlt sich sehr wohl im Team", erklärte er. Besonders glaubhaft wirkte der ohnehin umstrittene Olympiasieger von 2012 nicht.

Die Geister, die ich rief

Lance Armstrong hat seine Karriere längst beendet, wurde als Dopingsünder überführt und gilt im Velo-Zirkus als persona non grata. Das ändert jedoch nichts daran, dass er nach wie vor die Schlagzeilen (mit)bestimmt. "Froome/Porte/Sky sind sehr stark. Zu stark, um sauber zu sein? Fragt mich nicht, ich habe keine Ahnung", schrieb der Texaner unaufgefordert auf "Twitter" und sorgte damit - wieder einmal - für riesigen Wirbel.

Nur Tage später schlug er seine Zelte in Frankreich auf, um sich in den Dienst der guten Sache zu stellen. Der 43-Jährige absolvierte ein Teilstück der Tour de France vorab mit Hobby-Radfahrern, um Geld für Leukämie-Patienten zu sammeln. UCI-Präsident Brian Cookson findet Armstrongs Gastspiel ganz und gar nicht ehrenwert und empfand dessen Erscheinen als "respektlos und völlig unangemessen".

Sich in den Dienst der guten Sache zu stellen, ist an und für sich nur zu begrüßen. In Armstrongs Fall bleibt allerdings ein fahler Beigeschmack, denn damit drängte er sich bewusst wieder einmal in den Vordergrund, womit er dem Sport, den er liebt, einen Bärendienst erwies. Als hätten die Pedalritter nicht ohnehin mit dem Doping-Generalverdacht zu kämpfen, heizte der geschasste Armstrong die Gerüchteküche unnötiger Weise zusätzlich an.

Neben Armstrong hat mit Laurent Jalabert ein weiterer ehemaliger Top-Star, wenn auch nicht aus der Liga des siebenfachen Tour-Siegers, für Stunk gesorgt. Er sprach davon, dass es sich "unwohl" anfühle, wenn man sieht, wie einfach Sky in den Bergen dominiert. Angesichts seiner Vergangenheit - "Jaja" wurde bei Nachkontrollen für die Tour 1998 des EPO-Missbrauchs überführt - sollte der TV-Kommentator wohl besser zuerst vor der eigenen Tür kehren.

 

Der schmale Grat

Fans machen den Sport aus, doch unter den Millionen Rad-Begeisterten tummeln sich auch einige Idioten. Richie Porte wurde etwa auf dem Weg nach La Pierre-Saint-Martin von einem solchen in die Rippen geschlagen. Warum, wusste der Australier nicht, und war entsprechend ratlos. "Ich denke nicht, dass ich es verdient habe, geschlagen zu werden, nur weil ich meinen Job ausübe", brachte er gegenüber "Fairfax Media" seine Fassungslosigkeit zum Ausdruck.

Wenige Tage später erwischte es den Tasmanier erneut. "Ich habe heute gesehen, wie ein Zuschauer Richie Porte anspuckte", schrieb Cannondale-Profi Sebastian Langeveld auf Twitter und fügte an: "Sehr respektlos, diese Jungs verdienen das überhaupt nicht. Hört bitte damit auf oder bleibt zuhause."

Den Gipfel der Dreistigkeit leistete sich ein Idiot, der Leader Chris Froome mit einem Becher Urin bewarf und als Doper beschimpfte. "Das ist in vielen verschiedenen Ebenen nicht akzeptabel", meinte der Beworfene und machte die "unverantwortliche Berichterstattung" (siehe oben) mitverantwortlich. Das Team Sky wurde aus Angst vor weiteren Attacken (Hooligans im Radsport?) sogar unter Polizeischutz gestellt.

There Will Be Blood

Hart, härter, Radprofis. Es ist keine Seltenheit, dass Pedalritter trotz schwerer Verletzungen ein Rennen fortsetzen. Was sich bei der Tour bislang abgespielt hat, sucht aber seinesgleichen. Zwar wurde Fabian Cancellara gezwungen, die Rundfahrt nach der dritten Etappe aufzugeben, dass er jedoch nach einem Horrorcrash bei Tempo 70 samt Überschlag, bei dem er sich zwei Rückenwirbel brach, jede Menge Haut verlor und blutete, das Teilstück zu Ende fuhr, ist mit bloßer Willenskraft nicht zu schaffen.

Radsportler sind aus einem besonderen Holz geschnitzt, sie haben ganz offensichtlich ein anderes Schmerzempfinden als Normalsterbliche. Fragt nach bei den schwer gestürzten Jean-Christophe Péraud oder Michael Matthews, die sich durch die Rundfahrt schleppen. Nicht von ungefähr macht ein unten abgebildetes Meme, das die Velo-Profis mit Fußballstars vergleicht, derzeit die Runde. 

The Fighter

Ein leider sehr trauriges Kapitel dieser Tour de France schrieb Ivan Basso. Der Italiener, 2004 Tour-Dritter und im Jahr darauf sogar Zweiter, musste die "Grande Boucle" am ersten Ruhetag beenden. Der 37-jährige Italiener war einige Tage zuvor gestürzt und hatte fortan heftige Schmerzen. Untersuchungen brachten die Schockdiagnose Hodenkrebs zutage.

Inzwischen wurde der Italiener in der Mailänder San-Raffaele-Klinik operiert und befindet sich auf dem Weg der Besserung. "Es geht mir gut, ich habe mich rasch erholt", ließ er seine Fans wissen und sorgte damit auch im Peloton für kollektives Aufatmen.

Jenseits von Afrika

"Ich halte Athleten aus Ostafrika für die besten Ausdauersportler der Welt. Es wird nicht allzu lange dauern, bis sie echte Resultate erzielen." Worte, die einer sagt, der es wissen muss. Tour-Leader Chris Froome wuchs in Kenia auf und rechnet damit, dass der schwarze Kontinent schon bald zur neuen Großmacht im Radsport emporsteigt.

Mit Daniel Teklehaimanot, der für einige Tage das Bergtrikot tragen durfte, gibt es bereits einen Hoffnungsträger. In seiner Heimat Eritrea stieg er zum Nationalhelden empor, während der "Großen Schleife" versammeln sich Tausende Menschen in Kinos, um ihm auf die Beine zu schauen.

In seinem Windschatten entwickeln sich weitere Talente. Der erst 21-jährige Merhawi Kudus ist jüngster Teilnehmer der diesjährigen Frankreich-Rundfahrt, der drei Jahre ältere Natnael Berhane stellte sein Können als Gesamt-Fünfter der Österreich-Rundfahrt unlängst eindrucksvoll unter Beweis.

Mission: (Im)possible

Auf ein Zeichen von Schwäche mussten die Konkurrenten von Chris Froome bislang vergeblich warten. Ob auf Kopfsteinpflaster, im Regen oder auf der Windkante - der 30-jährige Brite hat sich bislang schadlos gehalten und allen Gefahren getrotzt.

Dazu erwies sich der gebürtige Kenianer in den Bergen als stärkster Fahrer und kann den Alpen daher mit einem Vorsprung von mehr als drei Minuten auf seine schärfsten Rivalen einigermaßen gelassen entgegenblicken.

Den Sky-Kapitän zu schlagen, erscheint unmöglich. Alberto Contador und Vincenzo Nibali haben den Sieg bereits abgeschrieben, auch Tejay van Garderen hofft lediglich auf einen Platz am Podest in Paris.

Doch es gibt da einen kleinen Kolumbianer namens Nairo Quintana, der sich mit der vorherrschenden Meinung ob Froomes Superiorität nicht anfreunden will. "Ich träume schon so lange davon, die Tour de France zu gewinnen. Ich will diesen Traum am Leben halten", erklärte er vor einigen Tagen. Der kletterstarke 25-Jährige ist auf Krawall gebürstet und hält es diesbezüglich mit einem japanischen Automobilhersteller, der über Jahre hinweg mit dem Slogan warb: "Nichts ist unmöglich."


Christoph Nister

The Social Network

Die Gefahr lauert überall. Bis zu 14 Millionen Fans säumen die Landstraßen Frankreichs in diesem Jahr, um einen kurzen Blick auf ihre Lieblinge zu erhaschen. Viele davon sind mit Handy und Selfie-Stick ausgestattet, um den Moment, in dem Chris Froome, Mark Cavendish und Co. an ihnen vorbei fahren, zu verewigen.

Genau hierbei lauert die große Gefahr, denn schon des Öfteren sind dadurch Unfälle passiert. "Du reagierst dich als Begleiter im Auto mit Dauerhupen ab", erklärte etwa Etixx-Quick-Step-Sportdirektor Rolf Aldag in der "Bild".

Giant-Alpecin-Kapitän John Degenkolb ergänzte: "Ich bin schon an einem Fan mit Handy hängen geblieben. Man muss immer zu hundert Prozent konzentriert sein und vermeiden, am Rand zu fahren." Die Tour produziert inzwischen seit mehreren Jahren kurze Spots, in denen die Fans angehalten werden, den Stars den nötigen Respekt zu erweisen und sie nicht unnötig zu gefährden. Wirklich geholfen haben sie bislang leider noch nicht.