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Der nicht-chinesische Chinese

Der nicht-chinesische Chinese

Seit Sonntag ist in Suzhou, östlich von Shanghai, die 53. Tischtennis-WM (LIVE auf LAOLA1.tv) in vollem Gange. Ein Mann steht dabei besonders im Fokus: Zhang Jike.

Der 27-jährige Chinese will seinen Weltmeister-Titel zum zweiten Mal erfolgreich verteidigen. Für viele Experten gilt er als bester Tischtennis-Spieler aller Zeiten.

Er garantiert im (mit Abstand) Volkssport Nummer eins heimische Erfolge - dennoch ist er im Reich der Mitte keineswegs unumstritten, schießt er doch mit seiner für Chinesen untypisch extrovertierten Art gerne über das Ziel hinaus und sorgt für Eskapaden. Kurzum: Er polarisiert. Was den Fans gefällt, hat im strikt organisierten Staatsapparat jedoch keinen Platz.

Zhang Jike tanzt auf der Rasierklinge, zwischen sportlichem Genie und charakterlicher Wankelmütigkeit. Ein Weg, der bereits in seinen Anfangsjahren vorhersehbar war.

Ausnahmetalent mit Einstellungs-Problemen

300 Millionen Chinesen spielen regelmäßig Tischtennis. Angesichts dieser gewaltigen Konkurrenz ist es wahrlich nicht einfach, in den Nationalkader aufgenommen zu werden.

Kein Wunder, schlagen sich schon drei-, vierjährige Kinder die Bälle um die Ohren, ehe in Eliteschulen beinhart aussortiert wird. Nur die Allerbesten schaffen den Sprung in höhere Sphären.

Zhang Jike gehörte definitiv zu dieser Elite. Bereits im zarten Alter von 15 Jahren fand der Rechtshänder Aufnahme im Nationalkader und wurde bald der Trainingsgruppe von Liu Guoliang zugeteilt. Letzterer gilt als wahre Tischtennis-Legende und gehört zum erlesenen Kreis von bis dato drei Spielern, die den sogenannten Karriere-Grand-Slam (Gold bei der Weltmeisterschaft, dem World Cup und den Olympischen Spielen) geschafft haben.

Die nach seinem Rücktritt 2003 als Trainer arbeitende Koryphäe sollte früh die Gabe seines neuesten Schützlings erkennen, wie er CCTV offenbart: „Zhang war ein unheimlich talentierter Spieler. Seine Explosivität, seine Fitness, seine Bewegungsabläufe und körperliche Statur waren hervorragend.“

Einzig die mentale Stärke konnte noch nicht mit der spielerischen mithalten. Ein Handicap, das schwer wog: „Solche Spieler würden dazu tendieren, in kritischen Spielsituationen entscheidende Fehler zu machen.“

Vier-Augen-Gespräch mit Folgen

Als Zhang im Laufe des Jahres 2004 nicht das erwünschte und erhoffte Potential erreichte, er in seiner Selbstbeherrschung sogar Rückschritte machte, folgte die Degradierung zurück ins Provinzteam: „Ich bat ihn zum Gespräch im 7. Stock unseres Apartments. Ich wollte ihm die Entscheidung alleine mitteilen. Ich erklärte ihm, dass wir ihn zurück ins Provinzteam schicken werden würden", so Liu.

Erfolgsduo: Liu und Zhang

Ein Schritt, der üblicherweise mit dem Ende einer vielversprechenden Karriere gleichzusetzen ist. Der Sprung ins Nationalteam gilt als einmalige Chance.

Und genauso nahm der damals 16-Jährige die Entscheidung seines Coaches zunächst wahr, hätte ihm dieser nicht einen Hoffnungsschimmer mit auf den Weg gegeben: „Während des gesamten Zwiegesprächs starrte er geknickt auf den Boden. Nur am Ende blickte er einmal auf. Als ich ihm erzählte, dass ich an ihn glaube, sich wieder zurück ins Team spielen zu können.“ Der Kampfgeist des Jünglings war geweckt. „Er schaute mir in die Augen und sagte: Ich werde zurückkommen.“

Der Coach ließ seinem Glauben Taten folgen, verfolgte den weiteren Werdegang seines Schützlings im „Luneng Club“.

Der dortige Trainer, Yin Xiao, stand mit Liu in ständigem Kontakt und förderte das junge Talent, gab diesem immer wieder Chancen zu spielen, wie 2006 in der chinesischen Super League an der Seite von Wang Hao. Ausgerechnet jener Spieler, dem er in Zukunft noch öfters begegnen sollte, dann allerdings auf der anderen Seite der Platte.

„Die Möglichkeit, sich mit den besten Spielern zu messen, steigerte sukzessive sein Selbstvertrauen“, beschreibt Yin die Entwicklungsschritte seines damaligen Schützlings. Schritte, die sich auszahlen sollten. Zwei Jahre später wurde Zhang erneut ins Nationalteam eingeladen.

Zum Wohlgefallen von Liu hatte das Ausnahmetalent die mentale Wandlung vollzogen. „Als er ins Team zurückkehrte, war er ruhiger geworden. Er protzte nicht mehr mit dem Talent, war zurückhaltender und fokussierter.“

Illegale Wetten und Trainer-Provokation

Der Frieden währte allerdings nicht lange. Der nunmehr 18-Jährige verzockte sein Einkommen bei illegalen Wetten, die Suspendierung aus dem Team war die Folge. Doch seine sportliches Ausnahmetalent machte es den Funktionären schwer, über ihn hinwegzusehen.

2008, nach den Olympischen Spielen in Peking, kürte sich Zhang Jike zum chinesischen Staatsmeister. Auf dem Weg zum Titel eliminierte er nacheinander Ma Lin, Wang Liqin und Wang Hao, kurzum die gesamte Besetzung des aktuellen Team-Weltmeisters.

Zhang-"Opfer": Wang Hao, Ma Lin, Wang Liqin

Der Durchbruch war gelungen, jedoch zusehends verfiel der Problemschüler in alte Muster.

In der landesinternen Qualifikation für die Tischtennis-Weltmeisterschaft 2009 in Yokohama eskalierte schließlich die Situation. Zhang ignorierte die Anweisung seines zugeteilten Trainers Zhong Jinyong, ein taktisches Time-Out zu nehmen. Der Gegner fand zurück ins Spiel und drehte die Partie zu seinen Gunsten.

Noch auf dem Platz folgte Lius Standpauke vor versammelter Mannschaft: „ So etwas ist hier noch nie vorgefallen. Du hast die Professionalität deines Trainers in Frage gestellt. Probleme kannst du nach dem Spiel diskutieren. Du vertraust nicht einmal deinem Trainer! Der Trainer kann dir helfen, Fehler zu vermeiden. Aber wenn du nicht auf ihn hörst und ihm nicht vertraust, wer soll dir dann helfen? Dabei bist du noch nicht einmal im Hauptkader. Und ich wette, wenn du in diesem wärst, würdest du wohl nicht einmal auf mich hören. Warum soll ich also auf dich setzen?“

Zhang, während dem Vortrag starr und merklich eingeschüchtert vor sich hin starrend, zeigte rückblickend Einsicht: „Herr Liu predigte mir immer wieder, dass ich Macken habe, die ich loswerden muss, um ein reifer und guter Spieler zu werden.“

Bewährungsprobe aus dem Nichts

Der 21-Jährige hatte sich also den nächsten Rückschlag auf dem Karriere-Weg eingebrockt. Doch wie bereits davor wurde er auch diesmal nicht fallen gelassen, bei der Team-Weltmeisterschaft 2010 in Moskau sollte er seine erste Einsatz-Chance auf höchsten Niveau bekommen.

Olympiasieger 2012: Zhang Jike

Die neue unbestrittene Nummer eins im vor Hochkarätern strotzenden Kader war zweifelsohne gefunden.

Im Sommer 2012 folgte die Krönung mit einem alten Bekannten als Leidtragenden. Zhang schlug Wang Hao (der damit zum dritten Mal in Folge Olympia-Silbe holte) im Finale der Olympischen Spiele in London 4:1.

Als Wang den letzten Ballwechsel mit einem unsauber getroffenen Ball beendete, brachen alle Dämme. Zhang sprintete über die Bande und küsste das oberste Treppchen des Siegerpodiums. Der 24-Jährige hatte Tischtennis-Geschichte geschrieben und als bis dato jüngster Spieler den Karriere-Grand-Slam vollendet.

Ausgerechnet dieser Fakt sollte sich fortan als Problem herausstellen. Die Gier nach Siegen verblasste: „Nach den Olympischen Spielen, egal, ob nur in teaminternen Trainingsspielen oder internationalen Turnieren, hatte ich stetig dasselbe Gefühl: Mir war egal, ob ich gewinne oder nicht.“

Die Kontrahenten witterten ihre Chance und legten allmählich die Angst ab, wenn ihnen auf der anderen Seite der Tischplatte Zhang gegenüberstand. Niederlagen folgten, die unbesiegbare Aura bröckelte.

Medien sprachen gar von einem möglicherweise „One-Hit-Wonder“. Alles andere als eine gute Ausgangsposition für die Weltmeisterschaft 2013 in Paris.

Zhang düpiert Kritiker

Eine Woche später baumelte um Zhangs Hals jedoch die nächste Medaille. Selbstverständlich in Gold.

Im Viertelfinale hatte er ÖTTV-Spieler Robert Gardos 4:1 geschlagen, ehe er im Endspiel wieder einmal Lieblingsgegner Wang Hao, den ewigen Zweiten, mit 4:2 in die Schranken wies.

Diese war alles andere als selbstverständlich. Ma Lin, Wang Hao und Ma Long standen vor ihm in der Rangordnung. Trainer Liu verfolgte aber einen klaren Plan: „Zhang Jike hatte noch nicht das Niveau von Ma Long. Aber ich gab ihm die Möglichkeit zu spielen, um seine psychologische Standfestigkeit zu testen.“

Zehn Minuten vor Spielbeginn fand sich der 22-Jährige auf der Nominierungsliste wieder. „Ich dachte, es wäre ein Scherz. Liu fragte mich, ob ich spielen will. Ich antwortete: „Ja, klar!“

Und Zhang hielt dem Druck Stand, gewann sein Final-Spiel gegen den Deutschen Christian Süß 3:1. Glänzen konnte er zwar nicht, das stand aber auch nicht im Vordergrund: „Schlecht. Wirklich schlecht. Er gewann hauchdünn“, so das Fazit von Coach Liu nach außen. Seinem Schützling gab er aber eine Kernbotschaft mit auf dem Weg: „So funktioniert das Spiel. Nur wenn du gewinnst, wirst du das nötige Selbstvertrauen tanken.“

Grand Slam in 445 Tagen

Zhang sollte im Jahr 2011 noch genug Selbstvertrauen tanken. Er kürte sich in Rotterdam erstmalig zum Weltmeister und holte sich das prestigeträchtige World-Cup-Turnier, in beiden Finalspielen setzte er sich gegen Wang Hao durch. Damit war er erst der dritte Spieler überhaupt nach Jan Ove Waldner (1991) und Kong Linghui (1995), der diese beiden Titel im selben Jahr einstreifen konnte.

Weltmeister 2013

Er hatte seine Kritiker eines Besseren belehrt. Einzig vom ausgelassenen Olympia-Jubel war nicht mehr viel übrig geblieben, eine geballte Faust reichte dem 25-Jährigen als Sieger-Pose.

War diesmal alles eitel Wonne? Zumindest vorerst. Denn so ganz konnte Zhang seine alten Angewohnheiten nie loswerden und zu sportlich enttäuschend verlief das darauffolgende Jahr 2014.

In diesem wurden frühzeitige Turnier-Abschiede zur Regel, was in einem Rückfall auf Platz fünf der Weltrangliste mündete. Liu Guoliang attestierte ihm mangelnde Konzentration.

Erfolg und Eskapaden kehren zurück

Zhang schlug beim World Cup in Düsseldorf zurück, lieferte aber gleichzeitig die nächste Eskapade. Völlig im Siegesrausch versunken trat Zhang auf eine Werbebande ein. Die Splitter sprangen gar auf die angrenzende Zuschauer-Tribüne.

Sein persönlicher Coach Xiao Zhan entschuldigte sich für seinen Schützling: „Zweimal gegen die Bande zu treten war alles andere als nötig. Er war außer Kontrolle.“  Cheftrainer Liu verwendete drastischere Worte: „Ich schäme mich für ihn.“ Die ITTF behielt daraufhin die 45.000-Dollar hohe Siegprämie ein.

Exzessive Jubelposen finden nicht überall Anklang

Und dennoch sind der internationale und der chinesische Tischtennis-Verband auf ihn angewiesen. Sportliche Ausnahmeklasse gepaart mit einem extrovertierten Charakter, kurzum: Zhang Jike ist der Farbklecks im sonst so starren chinesischen System.

Eine Seltenheit, die der von der Dominanz eines Landes einseitig geprägte Sport gut gebrauchen kann. Somit sind auch bei dieser Weltmeisterschaft (LIVE auf LAOLA1.tv) alle Augen auf Titelverteidiger Zhang Jike gerichtet.

Nach vier souveränen Siegen gegen den Rumänen Ovidiu-George Ionescu (4:1), den Südkoreaner Hyundeok Seo (4:0), Landsmann Jingkun Liang (4:1) und gegen den weißrussischen Altmeister Vladimir Samsonov (4:1) ließ er auch im Viertelfinale gegen den japanischen Mitfavoriten und Medaillenkandidaten Jun Mizutani (4:1) nichts anbrennen. Am Sonntag steht nun das Semifinal-Duell mit Landsmann Fang Bo auf dem Programm.

Die Chancen auf den dritten Titel sind also vollends intakt. Im Doppel gelang ihm dies bereits, er holte an der Seite von Xu Xin Gold.

Und solange Zhang Titel um Titel liefert, wird auch der chinesische Verband die eine oder andere Eskapade zähneknirschend runterschlucken (müssen).

 

Andreas Gstaltmeyr