news

Mein Leben nach dem Nackenschlag

Mein Leben nach dem Nackenschlag

Strahlendes Lächeln. Top gestylt. Kurzum: Eine junge Frau, die sich in ihrer Haut einfach wohl fühlt.

Rein äußerlich ist Jacqueline Raab nichts anzumerken. Dabei durchlebte die 25-Jährige heuer ein wahres Drama.

Vor einem halben Jahr beendete ein Zwischenfall im Judo-Training beinahe das Leben der Wienerin (zum Bericht von damals). Ein – wie die Ärzte es nannten – „medizinisches Wunder“ machte es aber möglich, dass Raab nicht nur den Kampf gegen den Tod, sondern auch jenen gegen die Querschnittlähmung gewann.

„Durch so etwas wird einem bewusst, dass das Leben von einer Millisekunde auf die nächste vorbei sein kann“, erklärt Raab im Gespräch mit LAOLA1, wie es ihr auf dem Weg zurück in das normale Leben bislang ergangen ist.

Kurze Rückblende

Wie gesagt, auf den ersten Blick weist bei ihr nichts auf eine derartig schlimme Verletzung hin. Erst wenn man genauer hinsieht, lässt sich an der Hals-Vorderseite eine schmale, wenige Zentimeter lange, rosafarbene Narbe erkennen. Wie sie verrät, gibt es ein Pendant dazu an der Hüfte. „Von dort hatten die Ärzte ein Stück Knochen entnommen und als Ersatz für die zertrümmerte Bandscheibe eingesetzt“, schildert die ehemalige Miss Vienna.

Ein anderer Kämpfer war Raab am 8. Mai während einer Bodensituation von hinten gegen den Kopf gerollt, sodass die Halswirbelsäule verschoben und das Rückenmark so stark gedehnt wurde, dass es nur noch an einzelnen Fasern hing. Zum Zeitpunkt der Einlieferung in das Lorenz-Böhler-Unfallkrankenhaus war sie querschnittgelähmt. „Die Ärzte meinten, wenn ich nur eine halbe Stunde später im Spital angekommen wäre, hätte ich wohl nicht überlebt.“

Die Mediziner mussten den Eingriff von der Hals-Vorderseite vornehmen, um nicht Gefahr zu laufen, den Wirbelkanal weiter zu beschädigen. Die Operation verlief erfolgreich. In den folgenden Tagen folgte ein Genesungsprozess, der in der Medizin seinesgleichen sucht. So dauerte es nicht lange und die regierende Staatsmeisterin der Klasse bis 52 kg konnte sogar wieder gehen. Die Beeinträchtigungen gingen weit zurück. Allerdings nicht zur Gänze.

Kein Temperatur-Gefühl mehr

Wenn sie mit der Alltags-Floskel „Wie geht’s dir?“ konfrontiert wird, dann hat sie sich angewöhnt, mit „Im Großen und Ganzen gut“ zu antworten. Einfach, weil es am besten passt.

Etliche Dinge sind aber nicht mehr wie vor jenem Mai-Tag, der alles auf den Kopf stellte. „In den Unterarmen und Händen habe ich seither kein richtiges Temperatur-Empfinden mehr.“ Etwas aus der Mikrowelle zu nehmen, muss sie anderen überlassen, da sie nicht einschätzen kann, wie heiß das Aufgewärmte tatsächlich ist. Ein Schmerz-Empfinden hat Raab aber schon. „Das kommt allerdings zeitverzögert im Hirn an.“

Das gestörte Temperatur-Empfinden beschränkt sich jedoch auf die Arme, „darum prüfe ich vor dem Duschen auch immer mit den Beinen, wie warm das Wasser ist. Hinzu kommt, dass sich meine Unterarme ständig anfühlen, als sei die Haut verbrannt.“ Aus dem einstigen Stechen („Wie Nadelstiche“) ist mittlerweile eine Mischung aus Taubheit und Kribbeln geworden.

Die Röntgen-Aufnahmen von der Einlieferung und nach der OP

„Untertags, wenn ich abgelenkt bin, ist das nicht so schlimm.“ Anders, wenn sie versucht einzuschlafen. „Dann nehme ich es viel stärker wahr.“ Um Schlaf zu finden, muss der Blondschopf deshalb Medikamente nehmen.  Die Dosierung ist aber rückläufig. Waren es während der Reha fünf Tabletten, reicht mittlerweile eine am Abend.

Die Summe macht es aus

Was sie als einst leidenschaftliche Sportlerin schmerzt, ist ihr eingeschränkter Bewegungsradius. Von feinmotorischer Seite fängt das bei den Fertigkeiten insbesondere mit der rechten Hand an. Einfache Dinge, wie eine Verpackung zu öffnen oder Dinge zu greifen, stellen für Raab plötzlich eine große Hürde dar.

„Kürzlich wollte ich die Plastik-Versiegelung einer Ketchup-Flasche öffnen. Das habe ich nicht geschafft. Ich musste die Flasche jemand anderem geben. Das sind dann halt alles so Kleinigkeiten, die andere gar nicht wahrnehmen. Das summiert sich dann aber und belastet mich.“

Jacqueline Raab engagiert sich für die Initiative "Wings For Life"

„Es ist belastend, dort Menschen zu sehen, die wirklich nur den ganzen Tag an die Decke starren können und man letztendlich merkt, dass man ihnen nicht helfen kann. Ich habe probiert, anderen Mut zu machen. Aber wenn man Ähnliches erlebt hat, man sich vorstellen kann, wie das sein muss, gibt es wenig, das man solchen Menschen sagen kann. Ich musste aufpassen, dass mich das nicht selbst runterzieht.“

Darum ergriff „Jacky“ – wie sie von ihren Freunden gerufen wird – auch die Gelegenheit, um sich gemeinsam mit diversen Firmen für „Wings For Life“ (zur Initiative) einzusetzen. Die Stiftung engagiert sich in der Rückenmarksforschung. „Mein Fall soll nicht ein Glück bleiben, das nur einer Person von einer Million wiederfährt“, so das ehemalige Fotomodel, das nun als Gesicht für die Aktion wirbt. Das Projekt läuft noch bis zum Final Four der Judo-Bundesliga am 24. November.

Weitere Schwierigkeiten stellen sich bei Aktivitäten ein, bei denen der ganze Körper gefordert ist. Beispiel: Radfahren.

„Das Treten, Lenken und die Erschütterung sind so viele Faktoren, die miteinander nicht mehr funktionieren. Das ist zu viel. Ich hab es im September probiert. Nach vier, fünf Minuten musste ich vollkommen verschwitzt vom Rad steigen, mir war sogar schlecht. Das Rad habe ich dann zurück nach Hause geschoben, weil es einfach nicht mehr gegangen ist.“ An Autofahren sei ohnedies nicht mehr zu denken.

Eine kleine Lücke

Die Tendenz zeigt zwar weiter nach oben, doch in den letzten zwei Monaten haben die Fortschritte bei ihr merklich nachgelassen.

Dazu kam auch einer von vielen Krankenhausbesuchen, der ihre Hoffnung auf vollkommene Genesung weiter schwinden ließ. „Der Arzt hat gesagt, dass im Rückenmark ein kleines Loch ist. Dort fließt keine Information durch. Das hat mir Angst gemacht, dass der jetzige Status so bleiben könnte.“

Der von den Wirbeln eingeklemmte Nervenkanal sei eben genau an jener Stelle beschädigt, was für die Störungen verantwortlich sein könnte. Aber ob dem tatsächlich so ist und wie viel Verbesserung noch möglich ist, können auch die Mediziner nicht genau prognostizieren. „Die Zeit, in der sich etwas tun kann, ist ein bis zwei Jahre. Danach kann man fix sagen: Das war’s!“

Die Reha als Gratwanderung

Bis Ende Juli befand sich Raab am Weißen Hof in Klosterneuburg in der Rehabilitation, seitdem macht sie Physio-Therapie und muss regelmäßig zu Kontrollen ins Krankenhaus. Im Februar wartet ein weiterer Monat Reha.

Auf die Zeit am Weißen Hof blickt sie zwiespältig zurück. „Von einem Tag auf den anderen bist du in einer Umgebung, in der der Fokus auf der Verletzung liegt.“ Therapie und leichte sportliche Anstrengungen wechseln einander ab. „Einerseits tut es gut, zu wissen, dass dort viel mehr weitergeht, als wenn man alleine daheim versuchen würde, die Sachen nachzumachen. Andererseits ist es hart, in dieser Spitalsumgebung immer mit Ärzten und kranken Menschen konfrontiert zu werden“, schlug bei Raab der Aufenthalt allmählich auf die Psyche.

Die Anteilnahme in der heimischen Judo-Community war sehr groß. Ein Klub überreichte ihr sogar ein prall gefülltes Sparschwein. „Ein riesengroßes Danke! Das hat mich sehr gerührt.“

Das Heil im Alltag gefunden

Mit dem Ende der Reha wähnte sich Raab, dem psychisch belastenden Umfeld entflohen zu sein. Doch weit gefehlt, denn mit dem Auszug aus dem Weißen Hof ließ sie auch die professionelle Betreuung ihrer Verletzung hinter sich.

„Als ich heimgekommen bin, hatte ich ein paar richtig schlimme Tage. Ich habe mich so verloren gefühlt, war kurze Zeit richtiggehend depressiv. Das dauerte so lange, bis ich wieder in den Alltag zurückgefunden hatte.“

Genau dieser Alltag war es schließlich auch, der ihr Halt gab, obwohl sie sich in ihrem Leben zunächst noch vollkommen neu ausrichten musste. Durch das Einbüßen ihrer zeichnerischen Fertigkeiten musste sie vom Architektur-Studium, den Bachelor-Abschluss hatte sie bereits, zu Geo-Technik und Bau-Wirtschaft wechseln.

„Auch wenn ich ein paar Fächer noch nachmachen muss, wurde mir sehr viel angerechnet“, erklärt Raab, die in zwei Jahren den Master in der Tasche haben will. Nebenher arbeitet sie zehn Stunden in der Woche bei einer Bau-Firma.

Der dritte Blick ist noch zu wenig

Der Judo-Matte bleibt sie aber mehr oder weniger fern. Nicht ohne Wehmut. „Im Judo weit zu kommen, war sehr lange mein größter Traum. Von einem Tag auf den anderen ist dieser zerschlagen worden. Es ist schwierig zu sagen, dass ich das aufgeben kann oder will. Außerdem weiß ich, dass – selbst wenn die Ärzte das Okay für Leistungssport geben würden – es eine Riesenüberwindung sein würde.“

Alleine schon den Kimono anzuziehen, lässt bei Raab, die einst praktisch täglich auf der Matte stand, die Erinnerungen an den Unfall wieder hoch kommen. „Der verstärkte Kragen des Kimonos liegt genau auf der verletzten Stelle auf. Wenn ich bewusst über ihn nachdenke, spüre ich ihn recht deutlich. Und das stellt dann irgendwie eine Verbindung zu den Erlebnissen von damals her.“

Genau dies veranschaulicht recht deutlich, dass bei Raab die körperlichen Überbleibsel des Vorfalls auf den zweiten Blick durchaus abschätzbar sind, die psychischen Folgen aber wohl nur erahnt werden können.

So ist es auch wenig verwunderlich, dass die frühere Nationalteamkämpferin auch den heiß geliebten Job als Kinder-Trainern auf ein Minimum reduzierte.

„Statt drei habe ich nur noch eine Gruppe und diese kann ich auch nur mit einer Freundin von mir trainieren. Ich könnte den Kindern ja nicht einmal einen Purzelbaum vorzeigen.“ Einfache Wurftechniken gehen hingegen gerade noch. Aber ohne selbst einen Kimono zu tragen, versteht sich. Zu groß ist auch die Angst, dass ein Kind plötzlich aus Spaß heftig am Judo-Gewand anreißt.

Heilt Zeit alle Wunden?

Den Unfallort, die Trainingshalle des Judo-Klubs Vienna Samurai, hat sie seither nie mehr aufgesucht. Das wird sie auch nicht wieder. Zu eng ist dieser mit dem Erlebten verwebt.

Ob ein Mensch jemals ein derartiges Trauma verarbeiten kann? Schwer zu sagen.

Für Raab steht ohnehin noch anderes im Vordergrund. Denn das Bewusstwerden der eigenen Fragilität verändert das Leben grundlegend. „Ich fühle mich zerbrechlich. Es ist zwar schon besser geworden, aber zu sagen, dass ich ohne Angst durch das Leben gehe, so ist es nicht.“

Neue Perspektive

Doch bei all den Nachteilen, die ihr aus dem Unfall erwachsen sind, weiß Raab das unglaubliche Glück, das sie letztendlich hatte, vollauf zu schätzen. Eine zweite Chance bekommen zu haben, verändert auch die Sichtweise, mit der man das Leben wahrnimmt.

„Egal, was ich gemacht habe, ich habe mir früher immer selbst sehr viel Druck gemacht. Damals hat es für mich nie einen Tag gegeben, an dem ich in der Früh aufgestanden bin und ich einmal einfach nur die Sonnenstrahlen genossen habe. Das hat in meinem Tunnelblick, in dem ich mir immer nur „Ich muss, ich muss, ich muss, …“ eingeredet habe, nicht existiert.“

Seit dem 8. Mai ist dieser Tunnelblick aber Geschichte. Der Blick auf ihr Sein mit einmal ein viel weiterer. „Plötzlich bin ich dankbar, Stress haben zu können. Das ist eine Sichtweise, die vielleicht andere Menschen nie haben werden oder anders gesagt: Es nie so zu schätzen wissen.“

Sich bewusst zu sein, dass das Leben von einer Millisekunde auf die nächste vorbei sein kann.

 

Reinhold Pühringer