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"Wie wenn Marlies Schild bei den Männern mitfährt"

Der österreichische Rollstuhl-Leichtathlet Thomas Geierspichler (36) hat sich vor den 14. Sommer-Paralympics in London erneut kritisch zur zunehmenden Zusammenlegung von Klassen bei den Paralympischen Spielen geäußert.

Dadurch müssen sich stärker behinderte Sportler immer mehr mit Leichtbehinderten messen.

Der Salzburger, der 2004 in Athen Paralympic-Gold über 1.500 m und vor vier Jahren in Peking im Marathon gewonnen hat, bezeichnet dies als "klare Fehlentwicklung".

Geierspichler ist seit einem Autounfall 1994 querschnittgelähmt und startet als Tetraplegiker in der Klasse T52.



Frage: Was ist das aktuell größte Problem bei den Paralympics aus Athletensicht?

Geierspichler: Die Klassen werden immer mehr minimiert. Es werden Gute und Schlechte zusammengemischt, damit es für die Öffentlichkeit leichter zu durchschauen ist. Der Negativeffekt ist, dass sich nicht mehr wie laut ursprünglicher Idee Gleichgesinnte untereinander messen. Schwerbehinderte müssen jetzt gegen leichter Behinderte kämpfen. Das ist ungerecht, Medaillenchancen sind unrealistisch geworden. Das ist wie wenn Marlies Schild bei den Männern mitfährt. Sie wird sich gut schlagen, aber nie komplett an die Spitze kommen.

Frage: In ihrem konkreten Fall haben Sie erst eineinhalb Jahre vor London erfahren, dass es in ihrer Klasse keine Langstrecken mehr geben wird. Wie haben sie darauf reagiert?

Geierspichler: Ich habe überlegt, ob ich aufhöre. Ich trainiere seit 14 Jahren auf den Langstrecken und im Marathon. So kurzfristig zu erfahren, dass es das in meiner Kategorie nicht mehr gibt, ist Wahnsinn. Das ist so wie wenn man dem Haile Gebrselassie sagt, er muss jetzt einen 400er laufen.

Frage:Ist Oscar Pistorius gut oder schlecht für den Behindertensport?

Geierspichler: Das ist zweischneidig. Einerseits ist es gut für die Publikmachung des Behindertensports. Du musst als Behinderter aber auch die Größe haben zu erkennen, dass man nicht ein Mal Birne und das andere Mal Apfel sein kann. Es war cool, dass er in London gelaufen ist und Medieninteresse erzeugt hat. Aber er hat halt 'nur' Prothesen, das kann man nicht vergleichen. Muss man wirklich diese Opfer bringen, nämlich dass Gruppen komplett rausfallen? Wir leben im 21. Jahrhundert, das sollte heutzutage nicht mehr sein. Mir geht keiner ab, wenn ich den Pistorius sehe. Aber auch nicht, wenn es der (Usain, Anm.) Bolt wäre.

Frage: Ihre Erwartungen für London?

Geierspichler: Ich fahre nicht als Tourist hin, ich habe ja nicht umsonst vier Jahre wie ein Depperter sechs Stunden am Tag trainiert. Es wird, wie wenn ich ein neues Buch lese. In einigen Jahren werde ich wissen, wie es ausgeht. Ich trete über 100, 200, 400 und 800 Meter an. Und ich kann versprechen, dass ich kämpfe bis zum Umfallen. Aber schon ein Finaleinzug wäre ein Erfolg für mich, ich bin ja in den Weltranglisten irgendwo. Die Zeit war zu kurz, um sich umzustellen. Nach London müssen ich und mein Trainer Walter Gfrerer eine neue Marschroute festlegen.

Frage:Warum haben Sie dennoch weitergemacht?

Geierspichler: Der Sport macht mir so viel Spaß und außerdem ist man so ja kein Vorbild für die Jugend oder die Gesellschaft. Denn im Leben kommen immer Ungerechtigkeiten oder Hindernisse daher. Du hast bei sowas immer zwei Möglichkeiten. Entweder man rennt davon, oder stellt sich. Die Schwarzen wären jetzt noch Sklaven, wenn sie aufgegeben hätten. Du musst kämpfen für deine Ideale. Egal wie der Kampf ausgeht, man darf sich nicht unterkriegen lassen. Ich ich werde kämpfen bis zum Umfallen.

Frage: Was stört Sie besonders an der aktuellen Entwicklung?

Geierspichler: Die Frage ist, wo geht die Entwicklung hin? Es steigt zwar das Medieninteresse, der Preis dafür ist aber, dass immer mehr Klassen weggestrichen werden. Das ist es für mich nicht wert. Denn dadurch nimmt man Schwerbehinderten Perspektiven. Also genau denen, die es ohnehin schon am schwersten haben. Keiner wird mehr nach einem Unfall eine Perspektive haben, wenn es diese Sportart in seiner Klasse nicht mehr gibt. In den Reha-Zentren ist die Förderung weg. Irgendwann werden nur noch Leichtbehinderte bei den Paralympics gegeneinander antreten.

Frage: Wie beurteilen Sie die Entwicklung insgesamt?

Geierspichler: Für die Medien und die Zuschauer wird der Behindertensport durch die aktuelle Entwicklung natürlich bekömmlicher. So soll es aber nicht weitergehen. Andrea Scherney (ehemalige Paralympics-Aktive, Anm.) hat recht wenn sie sagt, das werden jetzt die pompösesten und gewaltigsten Spiele, aber auch die ungerechtesten. Das ist eine klare Fehlentwicklung, das geht in die Sackgasse. Da wird man erst in 20 Jahren draufkommen. Irgendwann wird man einen Neuanfang brauchen. Es ist wie in der Wirtschaft, irgendwann musst du die Schuld zurückzahlen.